Читать книгу Schattenchance - Maya Shepherd - Страница 5
2. Winter
ОглавлениеLiam als Sportlehrer zu haben, veränderte alles. Zum einen eröffnete es mir ungeahnte Möglichkeiten, da wir uns nun beinahe täglich sehen würden, ohne dass er oder jemand anderes Verdacht schöpfen würde. Gleichzeitig verbot es mir mich zu oft vor seiner Wohnung blicken zu lassen. Wenn er mich nun dort sah, würde er wissen, dass ich eine seiner Schülerinnen war. Beim ersten Mal würde er sich vielleicht nicht viel dabei denken, aber das zweite, dritte und weiß Gott wievielte Mal würde ihn definitiv stutzig machen. Das konnte ich nicht riskieren. Ich hatte keinen Plan wie ich ihn dazu bringen sollte sich zu erinnern, aber es war erst einmal entscheidend, dass er mich überhaupt wahrnahm. Ihn um ein Date zu bitten, kam nicht in Frage, also musste ich ihm irgendwie anders auffallen. Im Idealfall natürlich positiv.
Ich stieß einen frustrierten Seufzer aus und begutachtete meine untrainierten Oberarme in Dairines körpergroßem Spiegel, der sich neben ihrem Kleiderschrank befand. Es war Mittwochabend und wir hatten uns verabredet, um gemeinsam unsere Lieblingsserie zu schauen. Nicht etwa Vampire Diaries oder Teen Wolf, denn seitdem Schattenwandler in unserem Leben so normal waren wie Krankenschwestern oder Polizisten, war unser Bedarf an Mystischem und Fantasie gedeckt. Stattdessen liebten wir es, uns in den Verschwörungstheorien von Pretty Little Liars zu verfangen. Sie hob belustigt die rechte Augenbraue. „Was ist los? Wenn du dir um deine Figur Gedanken machst, hättest du vielleicht nicht vor gerade einmal zehn Minuten den Jumboeisbecher bis zum letzten Löffel in dich reinschaufeln sollen.“
Ich warf ihr einen grimmigen Blick zu. Als ich zur Tür hereingekommen war, hatte sie mir bereits den Eisbecher in die Hand gedrückt. Es war unser erstes Eis in diesem Jahr gewesen und sie wusste ganz genau, dass ich dem Vanilleeis von Lorenzo nicht wiederstehen konnte. Es war super cremig und hatte diese winzigen kleinen schwarzen Punkte von echter Bourbon-Vanille. Dazu Erdbeersahne und weiße Schokoladensoße. Ein wahrer Traum!
Eigentlich störte mich meine Figur auch gar nicht so sehr. Ich hätte gerne ein paar mehr Rundungen wie Eliza gehabt. Was mich störte, war, dass ich absolut unsportlich war. Das störte mich allerdings auch erst, seitdem Liam unser Sportlehrer war. Warum konnte er in dieser Realität nicht Musik unterrichten, wie ich es bereits gewohnt war?
„Was würdest du davon halten, wenn wir mit dem Joggen beginnen würden?“, schlug ich Dairine vor und zog schnell wieder meinen Cardigan über, um nicht länger den Anblick meiner zu hellen und untrainierten Haut ertragen zu müssen.
„Ähm …“, machte Dairine, „lass mich kurz nachdenken ... Gar nichts?“
„Dann eben ein anderer Sport. Wie wäre es mit Schwimmen?“ Ich ließ mich neben ihr auf dem großen Wasserbett nieder, das mich mit einem leisen Gluckern willkommen hieß. „Wenn es warm genug ist, könnten wir ins Freibad gehen und würden dabei sogar braun werden.“
Dairine gluckste. „Winter, du wirst nicht braun, egal wie lange du in der Sonne brutzelst, du würdest danach höchstens wie ein Krebs aussehen.“
„Es geht mir doch gar nicht um das Bräunen, sondern um den Sport.“
Sie schüttelte verständnislos den Kopf. „Seit wann interessierst du dich für Sport? Du hast es doch noch nicht einmal nötig!“
Protestierend stemmte ich die Hände in die Hüften. „Nur weil ich nicht dick bin, heißt es nicht, dass mir Sport nicht guttun würde. Meine Haut könnte straffer sein und meine Ausdauer ist gleich Null.“
„Ich würde morden, um essen zu können, was ich will, ohne wie ein Hefeklos aufzugehen.“ Sie kniff sich demonstrativ in ihren Bauch. Auch Dairine hatte keinen Grund, sich über ihre Figur zu beschweren. Sie war zwar relativ klein, aber ihre Fettpölsterchen verteilten sich genau an den richtigen Stellen, wofür ich sie wiederum beneidete. In dieser Hinsicht waren wir typische Mädchen, die nie mit ihrer Figur zufrieden waren.
„Na also, dann lass uns aufhören zu jammern und etwas dagegen tun“, forderte ich sie auf.
„Mir reicht meine tägliche Fahrradfahrt zur Schule“, maulte sie jedoch immer noch desinteressiert.
„Wie wäre es dann mit einer Fahrradtour am Wochenende?“
Sie musterte mich kritisch. „Hat deine plötzliche Sportbegeisterung zufällig mit unserem neuen Lehrer zu tun? Wie war nochmal gleich sein Name?“
„Liam“, rutschte es mir prompt heraus, woraufhin sie geradezu entsetzt die Augen aufriss. „Mr. Dearing“, verbesserte ich mich schnell, lief aber dabei knallrot an.
„Woher kennst du seinen Vornamen?“, wunderte sich Dairine und ließ mich keine Sekunde aus den Augen. Ihre Neugier lief auf Hochtouren.
„Er steht in dem Lehrerverzeichnis unserer Schulwebsite“, behauptete ich.
Sie schnappte fassungslos nach Luft. „Du hast ihn gegoogelt?“
„Nein!“, rief ich empört aus. „Ich habe etwas anderes nachgeschaut und er stand zufällig auf der ersten Seite. Was hätte ich tun sollen? Mir die Augen zuhalten?“
„Nein, bei Liam“, sie räusperte sich, „Mr. Dearing sollte sich keine Frau die Augen zuhalten.“ Kichernd rollte sie sich wieder auf den Bauch. „Er ist mit Abstand der heißeste Lehrer, den ich je gesehen habe. Aber es wundert mich, dass du das auch bemerkt hast. Du bist doch mit Evan zusammen!“ Ihr letzter Satz hörte sich leicht spitz an. Sie nahm es mir immer noch übel, dass ich ihr nicht vorher etwas von unserer Beziehung oder meinen angeblichen Gefühlen für ihn erzählt hatte. Das erinnerte mich daran, dass ich ihr die Wahrheit hatte sagen wollen, doch irgendwie erschien mir auch dieser Moment unpassend. Ich fürchtete mich insgeheim davor, dass Evan recht hatte und ich Dairine zu viel zumutete. Was, wenn sie mir doch nicht glaubte? Egal, was ich ihr erzählte, sie würde es für sich behalten, aber eventuell würde sie mich danach mit anderen Augen sehen. Als Verrückte, als Spinnerin, als Wahnsinnige!
„Ich mag Evan“, gab ich vage zurück und fühlte mich schlecht dabei.
„Ihr passt gut zusammen“, meinte Dairine. „Ihr seid das ideale irische Traumpaar! Er mit seinen rotbraunen Locken und du mit deinem kupferfarbenen Haar und der hellen Haut. Zusammen könntet ihr Werbung machen und viel Geld verdienen.“
Sie übertrieb. Ich verfluchte Evan dafür, dass er ihr und den anderen diese Lüge aufgetischt hatte, nur um sich vor Lucas nicht outen zu müssen.
Die Titelmusik von Pretty Little Liars begann.
Got a secret
Can you keep it?
Von der Straße her war ein lautes Rumpeln zu hören. Wir sahen uns beide überrascht an und stürzten dann gleichzeitig zum Fenster. Dairine wohnte in einer besser situierten Wohngegend mit direktem Blick auf den Strand. Ihr Haus war schon definitiv als Villa zu bezeichnen – die Art ihrer Eltern, sie für ihre mangelnde Zeit zu entschädigen. Der nächste Nachbar befand sich somit in einiger Entfernung. Doch nun stand vor dem weißen, freistehenden Anwesen ein leuchtend roter LKW eines bekannten Umzugsunternehmens. Die beiden Arbeiter in ihren roten Latzhosen hatten offenbar einen gewaltigen Schreibtisch nicht richtig gesichert, sodass dieser aus dem LKW gestürzt war und nun vor ihnen auf dem Boden lag. Entsetzt blickten sie auf das gute Stück, als ein weiterer Mann fluchend aus dem Haus gestürzt kam. Er trug einen eleganten Anzug und hatte das dunkle Haar streng zurückgegelt. Sein Anblick bescherte mir Schweißausbrüche und pure Panik.
Ohne verstehen zu können, was er sagte, hörten wir ihn laut schimpfen und schreien. Er war es unverkennbar: Charles Crawford, das Oberhaupt der Fomori und der biologische Vater von Eliza. Charles, der seinen eigenen Sohn in einem Ritual getötet hatte, um unsterblich zu werden. Charles, der nun in das Anwesen neben meiner besten Freundin zog.
„So ein Ekelpaket“, meinte Dairine und hatte Mitleid mit den Arbeitern, die den teuren Schreibtisch hatten fallen lassen. „Wer weiß, wie lange die armen Kerle schon schuften müssen, ist ja schon Abend, kein Wunder, dass sie sich dann nicht mehr richtig konzentrieren können.“
„Weißt du, wer das ist?“, flüsterte ich und versuchte, die Fassung zu bewahren.
Sie warf mir einen Seitenblick zu. „Keine Ahnung, wie er heißt, aber er kandidiert wohl für den Bürgermeisterposten.“
„Er zieht doch gerade erst ein“, wunderte ich mich. „Wer soll den denn wählen?“
„Er muss ein ziemlich hohes Tier in seiner Partei sein. Immer, wenn ich ihn gesehen habe, war er umgeben von Anzugträgern.“ Die Fomori. „Geld regiert die Welt“, meinte sie schulterzuckend und verließ den Platz am Fenster, um sich wieder der Serie zuzuwenden. Die letzten Takte der Titelmusik verklangen.
Cause two can keep a secret
If one of them is dead
Fremde Schuhe standen in unserem Hausflur: schwarze Pumps aus Lackleder mit mindestens zwölf Zentimeter Absatz. Das konnte nur eines bedeuten: Tante Rhona war zu Besuch. Ich kannte niemanden außer ihr, der täglich solche Schuhe trug und dabei auch noch behauptete, dass sie bequem wären. Insgeheim vermutete ich, dass Rhona sich mehr in den Schatten bewegte als auf ihren Füßen und deshalb vergessen hatte, wie schmerzhaft solche Schuhe nach einer gewissen Zeit werden konnten. Seitdem ich unsere Vergangenheit neu gemalt und unsere Mutter dazu aufgefordert hatte, Eliza zu erzählen, dass sie adoptiert war, bevor sie es selbst herausfinden konnte, schneite Rhona etwa alle drei Monate unangekündigt bei uns rein. Sie war es gewesen, die Eliza geholfen hatte, die Verwandlung zur Schattenwandlerin durchzustehen, ohne, dass diese ein großes Chaos und Drama anrichtete. Eliza wusste auch, dass Rhona ihre leibliche Mutter war, doch über ihren Erzeuger wahrte sie stets Stillschweigen, was meine Schwester nicht nur enttäuschte und frustrierte, sondern auch sehr wütend machte. Sie wollte unbedingt wissen, wer es war, doch bisher war ihre Suche nach ihm immer erfolglos geblieben. Zum Glück!
Nachdem ich gesehen hatte, wie Charles Crawford in das Anwesen neben Dairine eingezogen war und sie mir auch noch das Gerücht aufgetischt hatte, er wolle für den Bürgermeisterposten kandidieren, ahnte ich nichts Gutes. Rhona steckte mit ihm unter einer Decke, war sozusagen seine rechte Hand. Nur weil sie Eliza schon einmal vor ihm gerettet hatte, musste das nicht bedeuten, dass wir uns auch in dieser Realität auf sie verlassen konnten. Ich vertraute ihr einfach nicht!
Missmutig zog ich meine Schuhe ebenfalls aus und trat ins Wohnzimmer, wo meine Mutter auf der Couch saß.
„Was macht Rhona denn schon wieder hier?“, murrte ich genervt und ließ mich neben ihr in das tiefe Polster plumpsen.
„Das nenne ich doch mal eine herzliche Begrüßung“, ertönte die gefühlskalte Stimme meiner Tante aus dem Nichts und sie tauchte neben dem Kamin aus den Schatten auf. Dicht gefolgt von Eliza, die heute auch nicht in der Schule gewesen war.
„Rhona meint, ich bin weit genug, um die Erinnerungskontrolle zu erlernen“, erzählte meine Schwester stolz, die ihre leibliche Mutter nach wie vor bei ihrem Namen nannte. Mum sagte sie nur zu Susan - unserer gemeinsamen Mutter. Dennoch bewunderte sie Rhona und sah zu ihr auf, wenn sie nicht gerade über sie schimpfte, weil sie sich weigerte, ihr den Namen ihres leiblichen Vaters zu nennen. Sie gab sich Mühe, die Schattenwandlerfähigkeiten zu beherrschen, um so endlich die Anerkennung von Rhona zu erlangen.
Eliza wäre mit der Erinnerungskontrolle in der Lage, die Erinnerungen von Menschen aus dem Kurzzeitgedächtnis zu löschen. Sie könnte zum Beispiel dieses Gespräch für mich ungeschehen machen, sodass ich gar nicht wüsste, dass Rhona zu Besuch gewesen war. Es war irgendwie verrückt, sie über Erinnerungen reden zu hören, wenn sie selbst sich an ganze zwei Jahre ihres Lebens nicht erinnern konnte.
„Wofür soll das gut sein?“, gab ich missmutig zurück. „Die Erinnerung eines Menschen sollte nur ihm gehören und nicht von jemand anderem gelöscht oder manipuliert werden können.“
Eliza machte eine wegwerfende Handbewegung. „Du bist doch nur eifersüchtig, das ist alles.“
Rhona ließ den Blick über mich gleiten, wann immer sie einen ansah, hatte man das Gefühl, unter Verdacht zu stehen, etwas verbrochen zu haben. „Warum so schlecht gelaunt?“, fragte sie. Wir hatten noch nie ein enges Verhältnis gehabt, aber früher hatte ich auch nicht gewusst, was ich nun wusste. Rhona war meine einzige Tante gewesen und alleine deshalb hatte ich ihr Sympathie entgegengebracht. Es weckte ihr Misstrauen, dass ich mich lautstark über ihre Anwesenheit beschwerte.
Ich kam jedoch gar nicht zu Wort, da Eliza an meiner Stelle antwortete: „Sie hat ihren ersten festen Freund und wahrscheinlich direkt Streit mit ihm.“ Es verletzte mich, wie herablassend sie von mir redete. Die alte Eliza hätte niemals so von mir gesprochen. Sie hätte sich aufrichtig für mich gefreut und mich besorgt danach gefragt, was mir die Laune verdorben hatte.
„Oh Winter, warum hast du nichts gesagt?“, rief meine Mutter bestürzt aus und legte mir eine Hand vertraulich auf den Oberschenkel. „Wie heißt er denn?“
„Es ist Evan“, kam Eliza mir erneut zuvor. „Lucas‘ bester Freund.“ Sie sagte es, als würde ich Evan nur benutzen, um insgeheim doch noch an Lucas herankommen zu können. Durch die Zeitmalerei hatte ich nicht nur meinen Vater, Lucas und Aidan retten, sondern auch Eliza davor bewahren wollen, dass ihre Seele zerbrach, doch stattdessen war sie zu einem größeren Miststück als je zuvor geworden.
Glücklicherweise ging unsere Mutter nicht weiter auf Eliza ein. „Lade ihn doch mal zu uns zum Essen ein“, schlug sie mir vor und lächelte mir dabei aufmunternd zu.
„Wir haben keinen Streit“, stellte ich klar. Evan würde ich sicher nicht zum Essen einladen, wenn es sich irgendwie vermeiden ließe. Es reichte schon, dass ich meine Freunde belügen musste, da wollte ich meine Eltern nicht auch noch mit hineinziehen. Würde Rhona nun auch öfter in Wexford sein, wenn Charles hier in das Anwesen einzog und Bürgermeister werden wollte?
„Wie lange bleibst du dieses Mal?“, wollte ich von Rhona wissen. Sie antwortete mir nicht direkt, sondern sah mich einen Moment bohrend an.
„Ich habe beruflich in Wexford zu tun, deshalb bleibe ich dieses Mal länger. Warum fragst du? Möchtest du mich wieder loswerden?“
„Du hast gar nichts erzählt“, wunderte sich nun auch unsere Mutter Susan. „Wo wohnst du denn?“
„Ein Freund hat ein Anwesen direkt am Strand gekauft. Ich kann bei ihm wohnen“, erzählte Rhona. Sie sprach ohne jede Zweifel von Charles.
„Dann muss er ja in der Nähe von Dairine wohnen“, schloss Eliza. „Stellst du mich ihm mal vor?“
„Nein!“, entgegnete Rhona sofort. Sie warf Eliza einen scharfen Blick zu. „Das ist beruflich und es geht dich rein gar nichts an!“
Eliza verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust. „Gerade hast du gesagt, es wäre ein Freund.“
„Ein beruflicher Freund.“
„Was arbeitest du denn für ihn?“, wandte ich mich erneut an Rhona und sah mit Genugtuung, wie sie sich in die Enge getrieben fühlte.
„Hört doch auf, sie auszufragen“, ergriff Susan unerwartet Partei für ihre jüngere Schwester. „Rhona hat als Anwältin eine Schweigepflicht und darf deshalb nicht zu sehr ins Detail gehen.“ Ich fragte mich, wie viel meine Mutter wusste. Oder war es eher so, dass sie lieber so wenig wie möglich über Rhonas Machenschaften wissen wollte? Rhona nutzte diese Gelegenheit zur Flucht.
„Es ist spät, ich habe noch zu tun“, sagte sie und löste sich bereits wieder in Schatten auf. Sowohl Eliza als auch ich starrten misstrauisch auf den Fleck, an dem sie verschwunden war. Uns war beiden klar, dass sie etwas verschwieg. Nur, dass ich im Gegensatz zu Eliza wusste, was Rhona zu verheimlichen versuchte. Die Frage war nur warum. Wollte meine Tante Eliza schützen oder plante sie eher, ihr Blut zu benutzen, um sich selbst unsterblich zu machen? Es gab nichts, was ich ihr nicht zugetraut hätte, nicht nach allem, was passiert war.
Nervös zupfte ich an meinem neuen Sportoberteil. Es bestand aus einem atmungsaktiven, enganliegenden Stoff – schwarz mit grauem Leopardenmuster. Ich hatte es mir erst gestern nach der Schule gekauft und dafür mehr gezahlt als für jedes andere Kleidungsstück in meinem gesamten Kleiderschrank. Dazu hatte ich mir noch eine graue Sporthose gegönnt. Eine gefühlte halbe Stunde hatte ich mich in der Umkleidekabine vor dem Spiegel hin und her gedreht, meinen Po begutachtet und sogar Turnübungen ausgeführt, um sicherzugehen, dass nichts rutschte oder sich unvorteilhafte Falten bildeten. Für ein paar neue Schuhe hatte mein Geld leider nicht mehr gereicht, sodass ich meine ausgetretenen weißen Turnschuhe weiterhin trug.
Leider war ich nicht die Einzige, die sich für den neuen Sportlehrer in Schale geworfen hatte. Sämtliche Mädchen trugen anstatt weiter Schlabbershirts plötzlich enganliegende Sportkleidung, meist auch noch in leuchtenden Neonfarben. Der Spiegel in der Umkleide war begehrter als je zuvor gewesen, weil alle noch einmal ihre Frisur hatten überprüfen und ihr Make-up auffrischen müssen. Dairine hatte sich das ganze Schauspiel kopfschüttelnd angesehen und mich damit aufgezogen, dass ich mich auch noch daran beteiligte, dabei trug sie selbst auch ihre neusten Sportsachen.
Liam selbst wirkte hingegen, als habe er wahllos in seine Kommode gegriffen und das angezogen, was ihm als Erstes in die Hand gekommen war: dunkelblaue Jogginghose und ein weißes T-Shirt. Dennoch sah er einfach unglaublich aus. Mein Herz flatterte, sobald ich ihn nur sah. Doch ich hoffte vergebens auf ein Lächeln von ihm, das allein mir galt. Wenn er den Blick über den Kurs gleiten ließ, spürte ich deutlich, dass ich für ihn nur eine von vielen war, die nicht einmal aus der Menge hervorstach. Er nahm mich gar nicht wahr.
Zu allem Überfluss spielten wir auch noch Dodgeball. Da ich mich vor Bällen fürchtete, hielt ich mich eher im Hintergrund. Wenn ich nicht damit beschäftigt war dem Ball auszuweichen, hielt ich Ausschau nach Liam. Ich mochte die Art, wie er sich bewegte, wie er sich unbedacht die Haare aus der Stirn strich oder wie er schmunzelnd den Mund verzog, wenn jemand beinahe über seine eigenen Füße stolperte. Mein Körper brannte, wenn ich seinen Blick auf mir spürte. Ich konnte mich auf nichts anderes mehr konzentrieren.
Die Sportstunde war jedoch viel zu schnell um, ohne, dass ich irgendwie seine Aufmerksamkeit hätte erregen können. Seitdem ich ihn das erste Mal im Devil’s hell wiedergesehen hatte, war nun beinahe eine Woche vergangen und er wusste vermutlich nicht einmal meinen Namen. Für ihn war ich höchstens das Mädchen, das in seiner ersten Kursstunde einen Ball gegen den Kopf bekommen hatte. Vielleicht erinnerte er sich nicht einmal daran, denn er hatte mich nicht weiter darauf angesprochen. Allerdings hatte ich auch keine Beule bekommen, wie er es vorhergesagt hatte. Eigentlich war ich froh darüber gewesen, aber vielleicht hätte er mich dann wenigstens wahrgenommen und angesprochen.
Die anderen Schüler liefen bereits zu den Umkleidekabinen. Es war unsere letzte Stunde gewesen und alle hatten es eilig. Auch Dairine gab mir durch ein Wedeln mit ihrer Hand zu verstehen, dass ich nicht herumtrödeln sollte. Ich ignorierte sie, nahm meinen ganzen Mut zusammen und marschierte geradewegs auf Liam zu. Er notierteetwas auf einem Block und nahm keine Notiz von mir. Verlegen räusperte ich mich.
„Mr. Dearing?“ Meine Stimme war ein Piepsen, für das ich mich augenblicklich zutiefst schämte. Ich hatte taff und für mein Alter sehr reif wirken wollen, dabei fühlte ich mich gerade wie ein vierzehnjähriger Teenie mit Zahnspange und Pickeln im Gesicht und nicht wie eine Achtzehnjährige, die im nächsten Jahr ihren Abschluss machen würde.
Er hob fragend den Kopf. Das Grau seiner Augen raubte mir den Atem. Meine Finger wären so gerne über seine Bartstoppeln gefahren. Stattdessen schloss ich meine Hand zur Faust. „Kann ich Sie um einen Rat bitten?“
Seine Lippen verzogen sich zu einem amüsierten Lächeln. Ich konnte mich genau daran erinnern, wie seine Küsse sich angefühlt hatten. Sie waren immer leidenschaftlich gewesen, sodass ich stets alles um mich herum vergessen hatte. Ich versuchte, den Gedanken daran zu vertreiben, denn ich spürte, dass meine Wangen auch jetzt schon dem Kupferrot meiner Haare Konkurrenz machen konnten.
„Nur zu“, forderte er mich neugierig auf.
„Ich würde gerne mehr Sport machen und ich habe mich gefragt, welche Sportart für den Anfang wohl am geeignetsten für mich wäre.“ Am liebsten wäre ich vor Scham im Boden versunken. Selbst für mich hörte sich meine Frage absolut dämlich an. Er würde wissen, dass es nur ein Vorwand war, um mit ihm ins Gespräch zu kommen.
„Wie wäre es mit Walken?“, schlug er mir vor. „Wenn dir das schnelle Laufen keine Mühe bereitet, kannst du es ja mal mit Joggen versuchen.“
„Was wäre mit Schwimmen?“, fragte ich ihn. Er runzelte leicht die Stirn und schien sowohl irritiert als auch belustigt von unserem Gespräch.
„Klar, warum nicht?“
„Ich wollte schon immer mal am Neujahrsschwimmen teilnehmen“, behauptete ich. Er war es gewesen, der mich im vergangenen Jahr dazu überredet hatte. Mit ihm wuchs ich über mich hinaus.
„Warum tust du es nicht einfach?“, fragte er mich herausfordernd.
„Ich traue mich nicht“, gestand ich. „Haben Sie schon einmal daran teilgenommen?“
„Bisher nicht.“ Er sah auf die Uhr, die hinter mir an der Turnhallenwand hing. Dann schlug er den Block zu, der auf seinem Schoß gelegen hatte. „Winter, probiere einfach mal ein paar Sportarten aus. Ich bin sicher, eine davon wird dir gefallen.“ Er erhob sich. „Ich muss jetzt los. Bis zur nächsten Stunde!“
„Bis zur nächsten Stunde!“, wiederholte ich und blickte ihm sehnsüchtig nach. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Er wusste meinen Namen!