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3. Winter
ОглавлениеKeuchend presste ich die Hand auf meine Rippen und kniff erschöpft die Augen zusammen. Das Seitenstechen war kaum zu ertragen und ich wusste wieder, warum ich es bisher vermieden hatte, Sport zu treiben. Nachdem Dairine von meinem Vorschlag nicht besonders angetan gewesen war, hatte ich Evan gebeten, mit mir Joggen zu gehen – ein Fehler! Man sah es ihm vielleicht nicht direkt an, aber er war in sehr guter Form. Kein Wunder, immerhin war er mit Lucas im Fußballteam! Während ich wie eine Dampflok schnaufte, riss er Witze und versuchte, mich aus der Reserve zu locken. Zu allem Überfluss hatte ich auch noch vorgeschlagen, an Liams Wohnung vorbeizulaufen. Nun hoffte ich jedoch, dass er das Haus nicht verlassen würde, denn ich wollte auf keinen Fall nach Schweiß stinkend und mit knallrotem Kopf von ihm gesehen werden.
Evan reichte mir schmunzelnd seine Wasserflasche, aus der ich gierig einen großen Schluck nahm. Augenblicklich pochten meine Seite noch mehr. „Langsam!“, ermahnte er mich kopfschüttelnd.
Frustriert drückte ich ihm die Flasche in die Hand. „Ich bin eine absolute Niete!“
„Du bist nur untrainiert“, versuchte er, mich zu trösten. „Wenn du jetzt täglich läufst, wird es schon bald besser werden.“
„Täglich?“, stöhnte ich entsetzt, worauf er zu lachen begann.
„Mir ist nicht ganz klar, was du damit bezwecken willst. Glaubst du, Liam verliebt sich in dich, nur, weil du plötzlich die schnellste Läuferin bist?“
„Egal, wie lange ich trainiere, die schnellste Läuferin werde ich nie“, maulte ich deprimiert. „Aber irgendetwas muss ich doch tun, um ihn auf mich aufmerksam zu machen.“
„Wie hast du denn beim ersten Mal seine Aufmerksamkeit erregt? Damals warst du genauso unsportlich wie jetzt und er hat sich trotzdem in dich verliebt.“
„Er hatte nie vor, sich in mich zu verlieben! Ganz im Gegenteil, er wollte mich umbringen“, erzählte ich Evan, der zwar schon lange Lucas‘ bester Freund war, aber das ganze Drama nur am Rand mitbekommen hatte. Nun zuckte er mit den Schultern. „Das ist natürlich ein schlechter Ansatz.“
„Eben“, stimmte ich ihm zu und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Meine Haare klebten feucht an meiner Kopfhaut. „Er hat sich verändert. Damals wurde er nur Lehrer an unserer Schule, um mit mir in Kontakt zu kommen. Der Job war ihm nie wirklich wichtig. Doch jetzt scheint ihm durchaus etwas daran zu liegen. Ich verstehe aber einfach nicht warum.“
„Er ist kein Millionär, Winter. Irgendwie muss er doch sein Geld verdienen.“
„Aber er ist doch immer noch Musiker. Warum macht er seine Leidenschaft nicht zum Beruf?“
„Du musstest ihn bereits damals dazu überreden“, erinnerte Evan mich. „Es fällt zwar schwer zu glauben, aber vielleicht ist sein Selbstbewusstsein nicht ganz so groß wie es immer den Anschein macht.“
Das war tatsächlich schwer zu glauben! Ich meinte eigentlich, Liam gut zu kennen, aber vielleicht hatte Evan recht, anders war Liams Verhalten nicht zu erklären. Es half mir jedoch auch nicht dabei, ihn in meine Richtung zu lenken. „Evan, was soll ich tun?“, jammerte ich verzweifelt, während ich mich bei ihm einhakte.
„Verrätst du mir, wie ich Lucas zurückbekomme?“, konterte er freudlos.
Ich sagte es ihm nicht, weil ich ihn nicht verletzen wollte, doch er konnte an meinem Gesichtsausdruck ablesen, dass ich in der Hinsicht schwarzsah. Lucas war schon immer in Eliza verliebt gewesen. Sie war seine große Liebe und er hatte nie mehr gewollt, als mit ihr zusammen zu sein. Nun, wo sie es endlich waren, würde er sich sicher nicht von ihr trennen. Auch wenn Eliza nicht mehr die war, die ich in den letzten Monaten zu lieben gelernt hatte.
Um ihn aufzumuntern versetzte ich ihm einen leichten Stoß. „Könntest du dich nicht einfach in mich verlieben?“, scherzte ich.
Er schubste mich zurück. „Gegen Liam hätte ich trotzdem keine Chance!“
„Wer weiß?“, neckte ich ihn und fuhr ihm mit den Fingern durch sein welliges Haar. „Ich kann schon verstehen, warum Lucas dir nicht widerstehen konnte. Weißt du eigentlich, wie begehrt du bei den Mädchen unserer Schule bist?“
Er zog mich an sich und hätte man uns aus der Entfernung gesehen, hätte man uns in diesem Moment wirklich für ein Liebespaar halten können. „Mich interessieren die anderen nicht.“ Seine Hände legten sich um mein Gesicht und er sah mir tief in die Augen. „Genauso wenig wie Liam sich je für eine andere interessiert hat, nachdem er dich kannte. Winter, du warst die Einzige, die er je geliebt hat, und genau deshalb wird er auch früher oder später den Weg zu dir finden.“
„Besser früh als spät“, maulte ich und schmiegte mich in seine tröstende Umarmung. Evan und mich machte unser gemeinsames Geheimnis zu Verbündeten. Es schweißte uns zusammen. Ohne ihn hätte ich mich verloren gefühlt.
Ich löste mich von ihm und sehnte mich nur noch nach einer warmen Dusche, um den ganzen Schweiß von meiner Haut zu spülen. Eine warme Dusche sollte ich bekommen, jedoch ganz anders als ich es erwartet hatte – als ich rückwärts trat, stieß ich gegen jemanden und spürte, wie sich eine heiße Flüssigkeit über meinen Rücken und meine Schulter ergoss. Vor Schreck schrie ich laut auf und wich zurück, dabei knallte ich gegen Evan, der ebenfalls taumelte.
Entsetzt sah ich auf die Kaffeeflecken, die sich auf meinem weißen T-Shirt bildeten und warf meinem Gegenüber einen schockierten Blick zu. Im ersten Moment hätte ich sie kaum erkannt: Sie stand mir aufrecht gegenüber anstatt gekrümmt im Versuch, sich vor der ganzen Welt unsichtbar zu machen. Sie trug keinen langen Pony, der die Hälfte ihres Gesichtes verdeckte, sondern hatte ihr langes braunes Haar in einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihre dunklen Augen musterten mich und scheuten nicht meinen Blick.
„Oh, das tut mir leid“, sagte Mona peinlich berührt und starrte dabei auf die braunen Flecken auf meinem Oberteil. Sie klang immer noch etwas schüchtern, aber nicht verschlossen, wie ich es von ihr gewohnt war.
Ich wedelte beschwichtigend mit den Händen. „Mir tut es leid! Ich hätte mich nicht so ruckartig umdrehen dürfen. Jetzt ist dein ganzer Kaffee verschüttet!“
Sie atmete erleichtert auf und schenkte mir ein Lächeln. „Schon okay, ich kaufe mir einfach einen neuen.“
„Kommt nicht in Frage“, protestierte ich lautstark und erkannte meine Chance in dieser zufälligen Begegnung. „Ich lade dich natürlich ein!“
Sie sah verunsichert zwischen Evan und mir hin und her. „Willst du nicht lieber nach Hause und dich umziehen?“
Ich folgte ihrem Blick zu dem Kaffeefleck, der mir in der Tat unangenehm war, aber wer wusste schon, wann sich mir sonst nochmal die Chance bieten würde, in Kontakt mit Mona zu kommen. Es tat gut, sie so lebendig und irgendwie auch gestärkt vor mir zu sehen, und vielleicht konnte sie mir auch als seine Cousine den Weg zu Liam ebnen. „Besser wäre das“, lachte ich. „Holen wir das nach?“
„Die Einladung zum Kaffee?“, fragte sie erstaunt.
„Ja“, stieß ich nickend aus. Nun begann Evan ebenfalls, unsicher zu lachen, und legte mir einen Arm um die Schultern. „Entschuldige meine Freundin, sie ist sehr spontan und manchmal etwas aufdringlich“, erklärte er Mona, die sich gerade zu überlegen schien, was sie von mir halten sollte. Spontanität war normalerweise ein Fremdwort für mich. Ich mochte es lieber gut durchorganisiert.
Mona schien entschieden zu haben, dass ich vielleicht etwas seltsam, aber harmlos war und zuckte mit den Schultern. „Na gut.“
„Gibst du mir deine Nummer?“, bat ich sie und wollte ihr mein Handy reichen, damit sie ihre Nummer direkt eintippen konnte. Erst dann stellte ich fest, dass ich es zum Joggen gar nicht mitgenommen hatte. „Hast du vielleicht einen Stift dabei?“, setzte ich direkt hinterher.
Sie sah mich erneut misstrauisch an, kramte dann aber in ihrer Tasche nach einem Kugelschreiber. Ich streckte ihr meine Hand entgegen.
„Schreib mir deine Nummer einfach auf den Arm“, forderte ich sie auf. Erneut warf sie mir einen irritierten Blick zu, tat dann aber, worum ich sie gebeten hatte. Auch wenn ich mich fragte, ob sie mir wirklich ihre richtige Nummer aufschrieb. Die ganze Begegnung musste wirklich seltsam auf sie wirken und ich hätte es ihr nicht verübeln können, wenn sie das aufdringliche Mädchen ihr gegenüber nur schnell wieder loswerden wollte.
„Danke, ich melde mich dann bei dir“, sagte ich und reichte ihr zum Abschied meine Hand. Als sie mich berührte, zuckte sie kurz zusammen, als habe sie etwas Ungewöhnliches gespürt. „Ich heiße übrigens Mona“, stellte sie sich vor.
Ich konnte mich gerade noch bremsen, ihr mitzuteilen, dass ich das natürlich längst wusste. „Winter“, antwortete ich stattdessen und deutete auf meinen Begleiter. „Das ist mein Freund Evan.“
„Bis dann!“, meinte Mona und ging eilig an uns vorbei. Nach ein paar Metern sah sie sich jedoch nochmal nach uns um, als sie erkannte, dass wir ihr nachblickten, winkte sie uns kurz zu und beschleunigte ihren Schritt. Evan stellte sich vor mich und versperrte mir die Sicht.
„Hältst du das wirklich für eine gute Idee?“ Er schien genau zu wissen, was ich vorhatte.
„Es ist eine grandiose Idee!“, erwiderte ich zufrieden. „Wenn ich mich mit Mona anfreunde, komme ich außerhalb der Schule an Liam ran.“
Evan legte die Stirn in Falten. „Findest du das nicht ein bisschen unfair?“
„Unfair?“
„Du nutzt Mona nur aus!“
Empört schnappte ich nach Luft. Sah er das wirklich so? „Mona und ich sind Freundinnen!“
„Ich wart Freundinnen!“, korrigierte mich Evan. „Jetzt willst du sie nur benutzen, um an ihren Cousin ranzukommen.“
„Das stimmt nicht! Unsere Freundschaft wird ihr auch helfen.“
„Wobei?“
„Sich zu erinnern!“
Er zog mich weiter. „Winter, ist dir nichts an ihr aufgefallen?“
„Was meinst du?“
„Sie sieht glücklich aus! Zugegeben, ich kenne Mona nicht besonders gut, aber als ich sie zuletzt gesehen habe, war sie ein Häufchen Elend und das auch schon, bevor Aidan gestorben ist. Sie wirkte wie ein Geist und konnte kaum jemandem in die Augen blicken. Jetzt macht sie einen ziemlich normalen Eindruck auf mich. Was, wenn es besser für sie ist, sich nicht an das Leid aus ihrer Vergangenheit zu erinnern?“
„Aber sie hat Aidan geliebt“, konterte ich. „Wenn sie sich erinnern könnte, würde sie ihn bestimmt wiedersehen wollen.“
„Weißt du denn, wo Aidan ist und wie es ihm geht?“
„Nein“, gab ich kleinlaut zu. Es war so viel passiert, dass ich bisher nicht dazu gekommen war, zu überprüfen, ob er sich immer noch in Velvet Hill befand.
„Was, wenn du Geister weckst, die besser weiterhin ruhen sollten?“
„Dir wäre es doch auch lieber, wenn Lucas sich wieder erinnern könnte“, fuhr ich ihn verärgert an. Seine Reaktion machte mich wütend, weil er vielleicht nicht Unrecht hatte mit dem, was er andeutete. „Wir können nicht versuchen, einzelnen Personen ihre Erinnerung zurückzugeben und andere außen vor lassen. Entweder sorgen wir dafür, dass alle sich wieder erinnern oder keiner!“
Nun wirkte Evan wiederum zornig. Er hielt mir mit zusammengekniffenen Lippen die Tür zu seinem Wagen auf.
„Sollen wir aufgeben?“, fragte ich ihn herausfordernd, als ich mich niederließ und zu ihm aufsah.
„Ich kann Lucas nicht aufgeben“, murmelte er leise.
„Dann hör auf, mir Vorwürfe zu machen. Wir müssen alles versuchen und ich kann dir versichern, dass ich Mona weder ausnutzen noch schaden werde. Sie liegt mir am Herzen, genauso sehr wie du!“
Er nickte nachgiebig. „Das weiß ich doch. Es hat mich nur irgendwie irritiert, sie so …“ Ihm fehlte das richtige Wort, um Monas Auftreten zu beschreiben.
„So lebendig zu sehen?“, schloss ich seinen Satz. Sie war zwar auch zuvor nicht tot gewesen, aber ihre ganze Ausstrahlung hatte sich verändert. Eindeutig zum Positiven!
Der Bass wummerte aus den Boxen und brachte den Boden zum Beben. Bunte Laserstrahlen tanzten über die Tanzfläche, während die Bar in einem goldenen Licht erstrahlte. Menschen drängten sich davor, doch sie wichen beiseite, sobald Eliza sich einen Weg durch die Masse bahnte. Sie genoss die Aufmerksamkeit und die neidischen Blicke gleichermaßen. Lucas, Evan, Dairine und ich folgten in ihrem Windschatten, bis wir uns einen Platz an einem freien Stehtisch sichern konnten.
Eliza warf sich die Wellen aus dem Gesicht, wobei mir eine Wolke ihres Parfüms in die Nase kam: Orangeblüten, Opium und weißer Moschus. „Schwesterchen, es wundert mich, dass du etwas deiner wertvollen Zeit erübrigen konntest, um sie mit einem sinnlosen Clubabend zu vergeuden“, zog sie mich auf und versuchte dabei scheinbar, meine Stimme zu imitieren. Ich war mir jedoch ziemlich sicher, dass sie sich dabei ziemlich schlecht anstellte, auch wenn Dairine sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte.
Lucas ergriff sofort Partei für mich. „Lass sie in Ruhe, Eliza“, fuhr er meine Schwester warnend an. „Nur weil Winter die Schule ernst nimmt, brauchst du sie nicht aufzuziehen. Ich hätte die Zeit ehrlich gesagt auch besser nutzen können.“
„Nicht nur du“, pflichtete ihm Evan bei. Die Abschlussprüfungen würden schon in der nächsten Woche stattfinden und alle außer Eliza waren deshalb ziemlich nervös. Sie musste ihren ganzen Körper zum Einsatz gebracht haben, um Lucas von den Büchern losreißen zu können.
„Langweiler!“, zog sie nun beide auf und begann, sich im Takt der Musik auf ihren roten High Heels zu bewegen. Sie ließ ihren Blick durch den Saal schweifen und blieb an der Theke hängen. „Hey, ist das nicht euer neuer Lehrer?“, rief sie plötzlich aus und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger in eine Richtung. Augenblicklich folgten Dairines und mein Kopf ihrer Hand. Mein Herz machte einen freudigen Satz, als ich tatsächlich Liam an der Bar erkannte. Sein hellblondes Haar war unübersehbar und er übte denselben Effekt auf die Menschen aus wie meine Schwester: Sie betrachteten ihn alle, aber hielten geradezu ehrfurchtsvoll Abstand. Leider war er nicht allein: Faye klebte an seiner Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr, was ihn zum Schmunzeln brachte. Er trug eine schwarze Jeans und dazu ein graues Hemd mit abgeschnitten Ärmeln, sodass die Tattoos auf seinen Oberarmen zur Geltung kamen.
„Er ist echt scharf“, gurrte Eliza und leckte sich dabei über die Lippe. Zornerfüllt starrte ich sie an und zischte: „Du solltest lieber zu schätzen wissen, was du hast!“
Eliza lachte mich nur aus und hob abwehrend die Hände. „Nur weil ich einen Freund habe, bin ich deshalb nicht blind!“
Lucas war über ihre Ansicht und ihre Äußerung ebenfalls alles andere als erfreut. „Du hast mich ernsthaft mit in diesem Club geschleift, damit ich mir anhören kann, wie scharf du andere Typen findest?“, fuhr er sie wütend an.
Eliza rollte mit den Augen. „Reg dich ab! Er ist ein Lehrer an unserer Schule.“
„Als ob das für dich ein Hinderungsgrund wäre“, schnaubte nun auch noch Evan. „Wie dreist kann man eigentlich sein?“
Eliza richtete zornig ihren Blick in seine Richtung. „Was mischst du dich denn ein? Geht dich das irgendetwas an?“
„Lucas ist mein bester Freund und er hat jemanden verdient, der ihn auch zu schätzen weiß!“
„Evan, lass gut sein“, meinte Lucas jedoch besänftigend und klopfte seinem Freund auf die Schulter.
Eliza sah empört zwischen ihnen hin und her. Die Art, wie sie die Lippen spitze, verriet mir, dass sie gleich etwas sagen würde, was ihr später leid täte: „Man könnte meinen, du würdest meine Schwester nur benutzen, um dich unbemerkt an meinen Freund ranmachen zu können.“
Evan verstummte, während Lucas sie entsetzt anstarrte. „Jetzt bist du zu weit gegangen!“, schimpfte er. „Bevor du dich nicht bei Evan entschuldigt hast, brauchst du bei mir nicht mehr anzukommen. Ich gehe jetzt, viel Spaß noch!“ Wütend stampfte er davon. Ich versetzte Evan einen Stoß, um ihm zu verstehen zu geben, dass er ihm nachgehen sollte. Vielleicht war das seine Chance, Lucas wieder näherzukommen. Eigentlich hatte ich angenommen, dass Eliza glücklich in der Beziehung mit Lucas wäre, doch ich hatte mich wohl in ihr geirrt und zu sehr gehofft, wenigstens etwas der alten Eliza in dieser Version wiederzufinden. Doch nicht einmal ihre aufrichtige Liebe zu Lucas schien ihr geblieben zu sein. Eigentlich war es sogar falsch, von der alten Eliza zu sprechen, denn im Grunde war meine Schwester nie anders gewesen. Seitdem ich sie kannte, spielte sie mit den Gefühlen von Menschen wie mit Spielbällen. Erst im letzten Jahr hatte sie begonnen, sich zu verändern und war zu einem liebenswerten Menschen geworden. Der Tod von Liams Schwester hatte sie dazu gebracht, sich und ihr bisheriges Leben zu überdenken.
Sie machte nur eine wegwerfende Handbewegung und ging auf die Tanzfläche, wo sie sicher nicht lange alleine sein würde.
„Läuft das so nicht jedes Mal?“, wandte sich Dairine an mich. „Lucas kann einem echt leidtun!“
„Er hat sich seine Freundin selbst ausgesucht“, murmelte ich und suchte die Theke erneut nach Liam ab. Er stand immer noch da und ließ die Eiswürfel in seinem Glas tanzen.
„Ich kann immer noch nicht verstehen, warum er sich nicht in dich verliebt hat. Ihr beide würdet wirklich toll zusammenpassen. Im Gegensatz zu Eliza würdest du ihn wenigstens bei seinen Abschlussprüfungen unterstützen.“ Scheinbar war es auch in dieser Realität kein Geheimnis, dass ich Lucas lange Zeit für den tollsten Jungen der Welt gehalten hatte.
Dairine räusperte sich verlegen. „Nicht, dass Evan und du nicht auch ein tolles Paar wärt. Das war euer erster gemeinsamer Clubbesuch als Paar, oder?“
Ich nickte gedankenverloren und wog das Für und Wider ab, zu Liam zu gehen und ihn anzusprechen.
„Eliza hat es mal wieder vermasselt“, schimpfte Dairine aufgebracht, bis sie feststellte, dass sie sich mehr darüber zu ärgern schien als ich, deren Blick nur noch an ihrem Lehrer klebte. Sie hob die rechte Augenbraue. „Ziehst du gerade unseren Lehrer mit deinen Augen aus?“
Ich spürte, wie mir augenblicklich die Röte in die Wangen stieg und wandte beschämt den Blick ab. „Ich habe nur über etwas nachgedacht.“
„Ach ja und worüber genau?“, lachte meine beste Freundin. „Ob du ihm erst das Hemd vom Körper reißt oder dich direkt an seinen Gürtel wagst?“
Bei jedem anderen Lehrer hätte ich angewidert das Gesicht verzogen, aber es war nun einmal Liam, der dort stand - mein Liam. Mit ihm hatte ich mein erstes Mal erlebt. Bedeutete das etwa, dass ich in dieser Realität noch Jungfrau war?
Dairine ergriff meine Hand. „Komm, wir sagen ihm hallo!“, rief sie kurzerhand und zog mich mit sich. Ich sträubte mich und versuchte zu protestieren, doch ehe ich mich versah, standen wir bereits hinter ihm. Dairine tippte ihm sich räuspernd auf die nackte Schulter.
„Hallo Mr. Dearing, so sieht man sich wieder“, flötete sie in ihrer frechen Art, als er sich zu uns umdrehte. Er hob die Augenbrauen, musterte erst Dairine und dann mich. Er wirkte nicht gerade erfreut, eher peinlich berührt.
„Hallo“, meinte er nur und schien nicht so recht zu wissen, wen er überhaupt vor sich hatte. Sein Blick streifte meinen. „Winter, oder?“
Auch wenn mir die ganze Situation mindestens genauso unangenehm war wie ihm, stolperte mein Herz, als er meinen Namen aussprach. Ich nickte schüchtern.
„Und Dairine!“, rief meine Beste aus und deutete auf sich. „Sie sind wohl noch nicht lange in Wexford, sonst wüssten Sie, dass man sich als Lehrer besser nicht ins Devil’s hell verirrt, wenn man dort nicht seinen Schülern begegnen möchte.“
„Wer sagt, dass ich meinen Schülern nicht begegnen möchte?“, konterte Liam frech. „Ich bin doch noch nicht alt genug, damit es peinlich wäre. Oder etwa doch?“
„Für uns sicher nicht“, lachte Dairine und versetzte mir einen unauffälligen Stoß in die Rippen, was so viel heißen sollte wie Sprich mit ihm!
„Ich war gestern Joggen“, rutschte es mir heraus, woraufhin Liam mich mit einer seltsamen Mischung aus Unbehagen und Belustigung musterte.
„Vorbildlich“, erwiderte er und sah an mir vorbei auf die Tanzfläche. Sein Blick blieb offenbar an etwas haften, das ihm gefiel und er schien uns gar nicht mehr wahrzunehmen. Ich drehte mich herum, um zu erfahren, was es dort Interessantes zu sehen gab: Eliza. Sie tanzte in der Mitte des Raums mit ihren hautengen Jeans und dem roten Top im Rhythmus der Musik und sah dabei, wie könnte es auch anders sein, einfach atemberaubend aus.
„Geht sie auch zur Schule?“, fragte Liam plötzlich.
„Die meiste Zeit nicht“, kicherte Dairine, woraufhin er sie irritiert ansah.
„Eliza macht ihren Abschluss“, setzte ich schnell hinterher.
„Eliza“, wiederholte er und ließ sich ihren Namen scheinbar auf der Zunge zergehen. Es tat verdammt weh.
„Sie ist meine Schwester“, erklärte ich, wobei meine Stimme von den Tränen, die ich krampfhaft zurückhalten musste, brach.
Eine vierte Person räusperte sich lautstark: Faye. Sie schien von der Toilette zu kommen. Liam fuhr zu ihr herum. „Oh, das ist meine gute Freundin Faye.“ Er deutete auf uns. „Das sind zwei meiner Schülerinnen.“
„Sehr erfreut“, sagte Faye, ohne danach auszusehen. „Gehen wir jetzt tanzen?“
Liam erhob sich. „Euch noch einen schönen Abend, Mädels. Und trinkt nicht zu viel.“
Er verschwand in der Menge. Sein leeres Glas stand auf dem Tresen. Ich ließ mich niedergeschlagen auf seinem Platz nieder. „Einmal das Gleiche, bitte“, orderte ich und ignorierte dabei den entsetzten Blick von Dairine.
„Scotch?“, quiekte sie.
Kaum, dass das Glas vor mir stand, goss ich es in einem Schluck meine Kehle hinab. Es brannte erst wie Feuer in meinem Hals und dann in meinem Bauch. Wenigstens betäubte es für den Moment mein pochendes Herz. Angewidert verzog ich das Gesicht.
„Hab ich irgendetwas verpasst?“, wollte Dairine verständnislos wissen, während sie mich skeptisch musterte. „Mir ist zwar nicht entgangen, dass du unseren neuen Sportlehrer ziemlich heiß findest, aber so schlimm? Du bist doch mit Evan zusammen!“
Ich ignorierte sie, weil ich nicht wusste, was ich dazu sagen sollte. Vielleicht wäre es der Zeitpunkt gewesen, um ihr die Wahrheit zu sagen, aber ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass sie mich ansehen würde, als sei ich völlig übergeschnappt. So hatte sie mich schon einmal angeblickt, als ich unter dem Jägerfluch gestanden hatte und das wollte ich nie wieder erleben müssen.
Sie stieß mich ungeduldig an. „Hallo? Redest du nicht mehr mit mir?“ Mittlerweile wurde sie wirklich sauer auf mich.
„Was finden alle nur an ihr?“, knurrte ich zurück und ließ meinen Blick über die Tanzfläche schweifen. Es war nicht schwer, Eliza auszumachen. Sie fiel auf wie ein flammender Komet am Nachthimmel.
„Ach, darum geht es wieder“, seufzte Dairine und ließ sich neben mir nieder. Sie bestellte uns zwei Cola, damit ich nicht auf die Idee kam, mir vor Frust noch mehr Alkohol zu verabreichen. Es war nicht so, dass sie mich nicht verstehen konnte, aber manchmal ging ich ihr mit meiner ständigen Eifersucht auf meine Schwester dann doch auf die Nerven. Trotzdem legte sie mir den Arm um die Schultern. „Glaub mir, ein Typ, der auf Eliza steht, wäre ohnehin nicht der Richtige für dich.“
Ich schnaubte deprimiert auf. „Ein Typ, der etwas von Eliza will, nimmt mich gar nicht erst wahr!“
„Und das ist gut so“, sagte sie eindringlich. „Die sind alle nur auf eine Affäre aus und nichts Ernstes, sonst würden sie sich die Mühe machen, einen Blick hinter die Fassade zu werfen.“ Sie beugte sich dichter an mein Ohr. „Und dann hätte Eliza keine Chance gegen dich!“
Ihre Worte lösten gemischte Reaktionen in mir aus. Auf der einen Seite taten sie mir in diesem Moment gut, aber auf der anderen Seite wusste ich, dass meine Schwester auch ein gutes Herz hatte. Sie war nicht nur das kalte Miststück, für das sie alle hielten. Zumindest war sie das in der vergangenen Realität nicht gewesen. Sie hatte sich als Schwester erwiesen, für die man seine Hand ins Feuer legen konnte. Würden wir auch jetzt irgendwann wieder zueinander finden?
Dairine drückte mich an sich und presste einen Kuss auf meine Wange. „Das ist das Gute an Evan. Er hat sich noch nie für Eliza interessiert und würde es auch nie! Ich fand richtig toll, wie er ihr mal die Meinung gesagt hat.“
Ich verbiss mir zu erwidern, dass Evan auch auf kein anderes Mädchen stand, mich eingeschlossen.
Nachdem wir unsere Cola ausgetrunken hatten, hatte Dairine beschlossen, dass ich meine Hüften auf der Tanzfläche schwingen müsste, um meine trüben Gedanken loszuwerden. Ihr zuliebe hatte ich mich nicht gewehrt und mich von ihr mitschleifen lassen. Im Gegensatz zu mir liebte sie es zu tanzen. Das hatte sie mit Eliza gemeinsam. Während sie sich völlig von der Musik mitreißen ließ und mit ihr eins zu werden schien, tapste ich unsicher von einem auf den anderen Fuß und ertappte mich immer wieder dabei, wie ich nach Liam Ausschau hielt. Meist fand ich ihn nicht weit von Eliza entfernt. Sie schien seinen Blick magisch anzuziehen, auch wenn er versuchte, sie nicht allzu offensichtlich zu beobachten. Vielleicht war es auch nur das Schattenwandlergen, das ihn anzog. Ich hoffte es!
Nach einer gefühlten Ewigkeit, es waren nur wenige Songs, floh ich zurück zu der Theke und gab vor, eine Pause zu brauchen. Dairine blieb, wo sie war. Während ich auf mein Wasser wartete, strich ich mir den Schweiß aus dem Nacken. Als mich plötzlich jemand anrempelte und ich zur Seite stolperte.
„Oh, das tut mir aber leid!“, vernahm ich eine entfernt bekannte Stimme und sah auf. Ich strich mir über den Oberarm, der von der groben Berührung pochte.
Faye stand vor mir und starrte mich so hasserfüllt wie eh und je an. „Ich hoffe, du hast dir nicht wehgetan.“
Ihre Stimme verriet, dass sie genau das Gegenteil meinte.
„Alles gut“, erwiderte ich und fragte mich, was sie von mir wollte.
„Dein Wasser“, sagte der Barkeeper und stellte es vor mich.
„Wasser“, echote Faye amüsiert. „Dein Ernst?“
Ich schloss meine Finger um das kalte Glas, an dem bereits Kondenswasser hinablief. „Löscht am besten den Durst.“
Sie schüttelte herablassend den Kopf. „Bist du überhaupt schon volljährig?“
Ich sah es nicht ein, mich vor ihr zu rechtfertigen. „Geht dich das irgendetwas an?“
Sie hob die Augenbrauen und schien geradezu schockiert von meiner patzigen Antwort. Wie konnte ich es wagen, so mit ihr zu sprechen?
„Mir gefällt nicht, wie du meinen Freund anstarrst“, fauchte sie wütend und stemmte dabei die Hände in die Hüften. Sie brauchte mir nicht zu sagen, wen sie damit meinte, dennoch stellte ich mich dumm. „Deinen Freund? Wer soll das denn sein?“
„Stell dich nicht dümmer als du bist“, fauchte sie erzürnt und griff nach meinem Handgelenk. Ihre dunkelroten Fingernägel bohrten sich schmerzhaft in meine Haut. „Du nennst ihn Mr. Dearing. Ich habe genau gesehen, wie du ihn die ganze Zeit mit deinen Augen ausziehst.“
Mir war nicht aufgefallen, dass Faye mich beobachtet hatte. Aber wenn sie mich gesehen hatte, konnte ihr auch nicht entgangen sein, dass Liam weder Augen für sie noch für mich gehabt hatte, sondern allein für Eliza, so weh es mir auch tat.
„Wenn er wirklich dein Freund ist, warum starrt er dann immerzu meine Schwester an?“, konterte ich mit der Absicht, sie zu verletzen.
Sie verzog das Gesicht, als hätte ich ihr eine Ohrfeige verpasst, und verstärkte den Griff um mein Handgelenk. „Sei ein braves Mädchen und halt dich von deinem Lehrer fern!“, fauchte sie bedrohlich, bevor sie mein Handgelenk losließ, als habe sie sich daran verbrannt.
Sie wollte gehen, doch nicht nur sie war wütend, sondern auch ich. „Was hast du überhaupt hier zu suchen? Hoffst du auf die Unsterblichkeit?“ Es war schon komisch, dass sie sich zeitgleich mit den Fomori in Wexford herumtrieb. Sie hatte schon früher zu ihnen gehört, warum nicht auch jetzt?
Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. „Was hast du gesagt?“
Der Scotch brannte in meinem Körper, aber er war harmlos im Vergleich zu meiner Eifersucht, wenn ich sah, wie Liam Eliza begaffte. Dazu dann auch noch Faye, die mich, seit sie mich das erste Mal gesehen hatte, abgrundtief hasste. Ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle und irgendwie war mir in diesem Moment alles egal. Was konnte jetzt schon noch passieren? Alles war schief gelaufen. „Nachdem euer Oberhaupt nun unsterblich ist, werden seine Stiefellecker doch sicher versuchen, ihm nachzueifern. Das ist doch der Grund, warum ihr hier seid, oder? Alle Macht den Fomori! Erst der Bürgermeisterposten, dann der Vorsitz der Provinz, das Land und am Ende die ganze Welt. Ist das euer Plan?“
Trotz ihres Make-ups konnte ich sehen, wie ihr jegliche Farbe aus dem Gesicht wich. Sie presste sich plötzlich eine Hand auf den Bauch, als sei ihr übel, und atmete schleppend. „Woher weißt du davon?“, japste sie verständnislos und ließ den Blick an mir auf und ab gleiten, als könne sie die Antwort finden, wenn sie nur genau genug hinsah.
Fassungslos realisierte ich, was ich ihr gerade alles gesagt hatte. Ich hatte mich beinahe komplett verraten und das allein aus Wut. Wie dumm konnte man eigentlich sein? Ängstlich schüttelte ich den Kopf. „Das sind nur Gerüchte, im Grunde weiß ich eigentlich gar nichts.“
Sie merkte, wie ich zurückruderte. „Du hast gesagt, dass die Fomori hier wären. Woher …“ Weiter kam sie nicht, denn Dairine schlang in diesem Augenblick die Arme von hinten um mich.
„Wo bleibst du denn so lange? Du wollest nur etwas trinken und dann zurück auf die Tanzfläche kommen!“, beschwerte sie sich. Als ich wieder zu der Stelle sah, an der zuvor Faye gestanden hatte, war sie schon verschwunden. Wenn sie wirklich noch zu den Fomori gehörte, hatte ich mich nun in größte Gefahr gebracht. Ich musste unbedingt Evan finden und ihm davon erzählen.
„Mir ist nicht gut“; behauptete ich vor Dairine und es war nicht einmal gelogen. Denn die Angst aufzufliegen sorgte wirklich dafür, dass ich Magenschmerzen bekam. „Können wir gehen?“
Erst sah sie mich skeptisch an, doch mein gequälter Gesichtsausdruck schien sie zu überzeugen, denn sie legte stützend den Arm um meine Taille. „Schaffst du es bis nach draußen oder sollen wir erst auf die Toilette gehen?“
„Nein, es geht schon. Ich brauche nur frische Luft!“
„Dann komm.“ Sie führte mich behutsam durch die Menge und erneut kam in mir der Wunsch auf, ihr die Wahrheit anvertrauen zu können. Sie war meine beste Freundin und ich wollte sie nicht weiter belügen.