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4. Winter
ОглавлениеMein Kopf brummte und meine Augen tränten vor Müdigkeit, während ich mich erschöpft auf meinem Bett ausstreckte und das Handy dabei gegen mein Ohr hielt. In der Nacht hatte ich vor lauter Sorgen keine Minute Schlaf finden können.
„Wenn Faye wirklich zu den Fomori gehören würde, wären sie schon längst bei dir aufgetaucht, um herauszufinden, was du weißt“, versuchte Evan mich durch das Handy zu beruhigen. Ich hatte schon in der vergangenen Nacht mehrfach versucht, ihn anzurufen, doch immer war nur die Mailbox drangegangen. Er war nach dem eiligen Abgang aus dem devil’s hell bei Lucas geblieben und hatte für den Fall der Fälle nicht gestört werden wollen. Wie nicht anders zu erwarten, war es allerdings nicht dazu gekommen. Lucas hatte nur von Eliza gesprochen. Evan war seine Frustration darüber deutlich anzuhören gewesen.
„Vielleicht schicken sie auch Rhona, um mich zu beobachten. Sie hat mich neulich schon so seltsam angesehen.“ Die Erinnerung an unsere Begegnung bereitete mir nun eine Gänsehaut und ich wickelte die Decke noch etwas fester um mich.
„War Rhona denn heute schon bei euch?“, wollte Evan wissen. Es war bereits Nachmittag.
„Bisher nicht“, antwortete ich. „Aber nur, weil ich sie nicht sehen kann, bedeutet es nicht, dass sie nicht da ist“, fügte ich flüsternd hinzu und blickte mit Unbehagen auf den Schatten, den mein Kleiderschrank gegen die Wand warf. Wenn ich nicht aufpasste, würde ich noch paranoid werden und bald in jedem Schatten eine Bedrohung vermuten. Warum hatte ich auch nicht meinen Mund halten können? Faye hatte mir drohen wollen, aber es war ihr lediglich um Liam gegangen. Ich hatte meine Rache gehabt, als ich sie darauf hingewiesen hatte, dass er nach wie vor nicht auf sie stand. Damit hätte ich es gut sein lassen können, aber stattdessen hatte ich mit den Fomori anfangen müssen. Dafür verfluchte ich mich!
„Jetzt mach dich nicht verrückt!“, beharrte Evan. „Ich kann verstehen, warum du Faye nicht leiden kannst und ich kenne sie selbst zu wenig, um irgendetwas über sie sagen zu können, aber sie war der Grund, warum wir Eliza beim letzten Mal überhaupt retten konnten. Wäre sie nicht gewesen, hätte Charles Eliza geopfert. Sie hat deutlich gemacht, dass sie nicht bereit ist, unschuldige Menschen umzubringen. Daran wird sich auch nichts geändert haben. Deshalb kann ich mir nicht vorstellen, dass sie noch weiterhin zu den Fomori gehört.“
Ich dachte an unsere Unterhaltung zurück. „Sie hat geschockt gewirkt, als ich die Fomori erwähnt habe.“
„Vielleicht ist sie selbst vor ihnen auf der Flucht“, gab Evan zu bedenken. „Sie lassen niemanden einfach aussteigen!“
Damit könnte er recht haben. Aber selbst wenn es so war, würde sie es damit sicher nicht gut sein lassen. Ich hatte ihr Misstrauen geweckt und sie würde versuchen, herauszufinden, woher ich über alles Bescheid wusste. Sicher würde sie auch Liam einweihen. Was, wenn sie mich beide als Bedrohung ansahen?
Meine Zimmertür wurde mit einem Ruck aufgerissen und Eliza kam herein stolziert. „Zieh dich an, wir gehen zu einer Einweihungsparty!“, forderte sie mich ungehalten auf.
Ich verengte meine Augen zu Schlitzen. „Schon einmal etwas von Anklopfen gehört?“, fauchte ich sie an.
Anstatt sich zu entschuldigen, riss sie mir meine Bettdecke weg. „Jetzt mach schon!“, drängelte sie und wie ich meine Schwester kannte, würde sie keine Ruhe geben, ehe sie nicht ihren Willen bekam. „Evan, ich muss Schluss machen“, entschuldigte ich mich. Sicher hatte er Eliza auch gehört.
„Lass dir nicht von ihr auf der Nase rumtanzen“, erinnerte er mich. „Bis morgen!“
„Bis morgen!“ Ich legte auf. Belustigt sah Eliza auf mich hinab. „Was, kein Ich liebe dich?“
„So weit sind wir noch nicht“, maulte ich genervt. „Gestern hast du noch behauptet, er würde mich nur benutzen, um sich an deinen Freund ranzumachen.“
Sie winkte ab. „Das war doch nur ein dummer Scherz!“ Sie öffnete meinen Kleiderschrank und begann, die enttäuschende Auswahl durchzusehen.
„Hast du schon einmal gemerkt, dass du die Einzige bist, die über deine dämlichen Scherze lacht?“
Sie zog ein grünes Kleid hervor, verzog dann aber das Gesicht und hängte es zurück. „Das liegt daran, dass ihr alle Spaßbremsen seid.“
„Wann hast du vor, dich bei Evan zu entschuldigen?“
Sie warf mir einen ungläubigen Blick zu. „Warum sollte ich?“
„Lucas hat gesagt …“
Sie unterbrach mich. „Lucas sagt viel, wenn der Tag lang ist. Spätestens, wenn ich ihn küsse, hat er schon wieder vergessen, was er zuvor gesagt hat.“ Ein dunkelblauer Blazer weckte ihre Aufmerksamkeit. „Hey, ist das nicht meiner?“
„Du wolltest ihn nicht mehr. Du meintest, er wäre dir zu spießig.“
Sie lachte. „Stimmt, das war es. Aber zu dir passt er.“ Sie warf ihn mir ins Gesicht. „Zieh ihn an!“
Es fiel mir wirklich schwer, auch nur noch das geringste Liebenswerte an ihr zu finden. Wie hatte sie nur zu solch einem Miststück werden können? Brauchte sie wirklich Mord und Todschlag, um ein halbwegs liebenswürdiger Mensch sein zu können? Die Bilder von der vergangen Nacht drängten sich mir unwillkürlich in den Kopf: Liam, wie er nur noch Augen für sie gehabt hatte. „Was willst du überhaupt von mir?“
„Ich sagte doch, wir gehen zu einer Einweihungsparty!“
„Seit wann nimmst du mich zu deinen Partys mit?“, wunderte ich mich verständnislos.
„Du fährst mich!“ Auch in dieser Realität hatte sie es verpasst, selbst den Führerschein zu machen.
„Ich habe die Prüfung noch nicht bestanden“, erinnerte ich sie.
„Du kannst doch aber fahren. Also stell dich nicht so an, wir werden schon nicht kontrolliert werden.“
„Auf keinen Fall!“, beharrte ich, wütend über ihre Forderung. „Wenn die Polizei mich erwischt, werde ich gesperrt und die ganzen Fahrstunden waren …“
Sie unterbrach mich: „Du bist so eine Spaßbremse! Man merkt, dass du nicht wirklich meine Schwester bist.“
Fassungslos starrte ich sie an und spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Das war so ziemlich das Schlimmste, was sie mir hätte an den Kopf werfen können. Früher hätte sie so etwas nie gesagt! Niemals!
Eliza starrte herausfordernd zurück. Erst durch meine Tränen schien sie zu begreifen, was sie gerade gesagt hatte, und biss sich schuldbewusst auf die Unterlippe. „Tut mir leid“, murmelte sie und wandte sich rasch ab. Die Schwester, die ich so schmerzlich vermisste, hätte mich in den Arm genommen. Ihre Reaktion tat fast noch mehr weh als ihre verletzenden Worte. Ich wollte, dass sie mein Zimmer verließ. Ich wollte sie nicht länger sehen und daran erinnert werden, was ich verloren hatte. „Reise doch in den Schatten, wenn du so scharf drauf bist“, fauchte ich. „Wessen Einweihungsparty ist es überhaupt?“
„Der Bekannte von Rhona veranstaltet sie in seiner großen Villa, direkt neben Dairine. Ich will ihn kennenlernen.“ Trotz meiner Enttäuschung und Wut hatte sie sofort meine ungeteilte Aufmerksamkeit, als sie dies sagte.
„Weiß Rhona davon?“
„Von der Party? Natürlich, sie veranstaltet sie schließlich mit ihm!“
Sie tat empört und versuchte, mich für dumm zu verkaufen, indem sie mich absichtlich missverstand. Sie wusste ganz genau, dass ich nicht danach gefragt hatte.
„Weiß Rhona, dass du vorhast, dich selbst einzuladen?“
Damit hatte ich einen wunden Punkt getroffen, denn sie verzog gekränkt das Gesicht. „Nein, sie hielt es nicht für nötig, mich einzuladen. Ich habe es nur durch Zufall erfahren.“
„Hast du schon einmal daran gedacht, dass das vielleicht einen Grund hat?“
Sie sah mich ratlos an. „Was für ein Grund sollte das denn sein?“
„Vielleicht will sie nicht, dass du Kontakt mit ihrem Bekannten hast. Vielleicht hält sie ihn nicht für einen guten Umgang für dich.“
Eliza lachte ungläubig auf. „Charles Crawford kandidiert für das Bürgermeisteramt. Wie sollte er schlechter Umgang sein?“
„Männer mit Macht sind meistens auch gefährlich.“
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Du siehst Gespenster, Winter.“
„Ach ja, und warum glaubst du dann hat Rhona vergessen, dich einzuladen?“ Meine Stimme war herausfordernd und schneidend zugleich.
„Vermutlich will sie nicht, dass Charles erfährt, dass sie schon eine erwachsene Tochter hat.“ Eliza ahnte gar nicht, wie richtig sie damit lag. „Sie schämt sich für mich.“ Auch wenn sie es sagte, als wäre es ihr gleichgültig, erkannte ich, wie tief der Schmerz über die Zurückweisung durch ihre leibliche Mutter dennoch saß. Sie benahm sich unverschämt, fordernd und gemein, aber in diesem Augenblick empfand ich dennoch Mitleid mit ihr.
„Was ist jetzt? Kommst du mit oder lässt du mich auch hängen?“
Egal, ob ich sie begleitete oder nicht, sie würde zu dieser Einweihungsparty gehen. Besser ich wäre dabei und wer wusste schon, vielleicht würde es unserer schwesterlichen Beziehung ganz gut tun, wenn sie wusste, dass sie sich auf mich verlassen konnte. Ich erhob mich vom Bett und nahm den Blazer, den sie für mich rausgesucht hatte, an mich. „Gib mir fünf Minuten“, bat ich sie und verschwand im Badezimmer.
Als wir etwa eine Stunde später mit meinem Triumph Dolomite in die Straße einbogen, in der das neue Anwesen der Fomori lag, war bereits alles vollgeparkt. Autos teurer Luxusmarken reihten sich aneinander und parkten bereits in zweiter Reihe. Doch weder laute Musik noch Menschenhorden waren in dem Anwesen zu erkennen. Alles wirkte erschreckend ruhig.
„Wir können hier nirgends parken. Am besten fahren wir wieder nach Hause“, versuchte ich Eliza zu überreden, aber die zeigte sich unbeeindruckt.
„Wir parken bei Dairine im Innenhof“, meinte sie und deutete auf das gusseiserne Tor. Langsam ließ ich meinen Wagen zu der Sprechanlage rollen. Ich brauchte jedoch nicht einmal zu klingeln und mein Anliegen vorzubringen. Der Wachmann musste mein Auto bereits erkannt haben und ließ uns deshalb, ohne weiter nachzufragen, passieren.
Kaum, dass der Dolomite stand, wollte Eliza auch zum Nachbargrundstück laufen. Ich konnte sie gerade noch bremsen. Wenn wir schon bei Dairine parkten, mussten wir ihr wenigstens kurz Hallo sagen. Auf dem Weg zur Eingangstür kam uns der Wachmann entgegen.
„Hallo Winter“, grüßte er mich höflich. „Du bist spät dran.“
Irritiert runzelte ich die Stirn. „Wofür spät?“
„Du bist doch sicher auch wegen der Einweihungsparty da, oder?“
„Ja, warum?“
„Dairine ist schon vor über einer Stunde mit ihrem Vater aufgebrochen. Aber wenn du drüben sagst, dass du zu ihnen gehörst, lassen sie euch bestimmt auch rein.“
Es war, als wehe mir ein kalter Windzug mitten ins Herz - Dairine und ihr Vater waren bei den Fomori. Ich ahnte nichts Gutes. Der Wachmann schien mir meine Sorge anzusehen. „Ist irgendetwas nicht in Ordnung?“
„Doch, alles gut“, rief Eliza aus und hakte sich bei mir unter. „Wir sehen dann mal zu, dass wir zur Party kommen. Danke für die Auskunft!“ Und damit zog sie mich mit sich.
Kaum, dass wir außer Hörweite waren, sagte ich alarmiert: „Wir müssen Dairine suchen!“
„Oder so tun als ob“, stimmte sie mir zu. „Sie ist unsere Eintrittskarte!“
Ich legte meine Hand auf ihre und sah ihr bedeutsam in die Augen. „Nein, Eliza, wir müssen sie wirklich suchen! Dieser Charles Crawford ist gefährlich.“
Sie nahm mich wie üblich nicht ernst. „Und das weißt du woher?“
„Bitte, Eliza! Vertrau mir einfach!“, flehte ich meine Schwester an. Für einen kurzen Moment geriet sie ins Wanken, aber mit einem Blinzeln schob sie sämtliche negativen Gedanken beiseite. „Das ist eine Einweihungsparty und keine Sexorgie“, lachte sie mich aus. „Aber wenn du so ein Angsthase bist, kannst du gerne im Auto auf mich warten.“
Zielstrebig ging sie auf den Security zu, der vor den großen Flügeltüren Wache stand. Sie wollte ihm gerade erklären, dass sie eine Freundin von Dairine sei, doch noch ehe sie auch nur ein Wort gesagt hatte, öffnete er ihr bereitwillig die Tür. Mich musterte er jedoch argwöhnisch. „Gehört sie zu Ihnen?“, fragte er meine Schwester.
Sie sah verwundert zwischen ihm und mir hin und her, bevor sie triumphierend grinste. Für einen Augenblick fürchtete ich, dass sie behaupten würde, mich nicht zu kennen, doch dann meinte sie: „Ja, sie ist meine Schwester.“
Er sah Eliza etwas verwundert an, aber öffnete uns dennoch die Türen. Ängstlich klammerte ich mich an meine Schwester, die mit vor Stolz geschwellter Brust in den Empfangsbereich eintrat. „Siehst du, Rhona hat mich doch auf die Gästeliste gesetzt!“, meinte sie glücklich zu mir. „Sie muss dem Security sogar ein Bild von mir gegeben haben, woher wusste er sonst, wer ich bin?“
Ich glaubte nicht, dass er wusste, wer sie war, sondern was sie war. Der Security war mit Sicherheit selbst ein Schattenwandler und gehörte den Fomori an. Erfahrenen Schattenwandlern war es möglich, andere Schattenwandler zu erkennen, deshalb hatte auch Liam die Augen nicht von Eliza lassen können.
Auch in dem Gebäude war es relativ ruhig, dafür, dass hier eine Party stattfinden sollte. Vereinzelt saßen oder standen Personen in kleineren Gruppen zusammen. Sie unterhielten sich nur gedämpft oder sprachen sogar gar nicht miteinander. Das aufwendig arrangierte Buffet vor der großen Fensterfront im Wohnzimmer wirkte völlig unberührt. Achtsam hielt ich Ausschau nach Charles oder Rhona, doch mir waren alle anwesenden Personen völlig unbekannt. Diese schienen nicht einmal Notiz von uns zu nehmen. Sie hoben nicht einmal den Kopf, wenn wir an ihnen vorbeigingen. Auch Dairine oder ihren Vater konnte ich nirgends entdecken, was mich etwas beunruhigte.
Eliza nahm sich ein Glas Champagner und drehte sich im Kreis. „Was für ein Haus!“, staunte sie. „Stell dir mal vor, wir würden in einer Villa leben!“
Ich sagte ihr nicht, dass sie vor gar nicht allzu langer Zeit bereits in so einem Anwesen gelebt hatte, es für sie aber ein Gefängnis gewesen war und sie es dort verabscheut hatte. Stattdessen zog ich sie zu mir und raunte: „Findest du nicht, dass sich die anderen Gäste etwas seltsam benehmen?“
Erst jetzt schien sie die anderen Menschen überhaupt erst wahrzunehmen, die teilweise geradezu apathisch vor sich hinstarrten. Ihr erfreuter Gesichtsausdruck verdunkelte sich. „Was ist mit denen los?“, wunderte sie sich.
„Wäre es möglich, dass jemand von ihren Gefühlen getrunken hat?“
Entsetzt sah sie mich an. „Du meinst, hier sind andere Schattenwandler, abgesehen von Rhona?“
„Es sieht ganz danach aus!“ Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung wahr und fuhr herum. Rhona betrat in Begleitung eines Mannes den Raum. Während sie aufrecht vorausging, taumelte der Mann hinter ihr her, als hätte er jede Orientierung verloren. Es war Dairines Vater.
Als Rhona uns entdeckte, erstarrte sie, löste sich in Nichts auf und tauchte direkt vor uns wieder aus den Schatten auf.
„Was macht ihr hier?“, fuhr sie uns zornig an. „Verschwindet! Sofort!“
Eliza verschränkte verletzt die Arme vor der Brust. „Was ist das hier für eine Veranstaltung? Warum verheimlichst du mir die anderen Schattenwandler?“
„Mach, dass du wegkommst!“, zischte Rhona und ließ sich auf keinerlei Diskussionen ein. Ich lief an ihr vorbei zu Dairines Vater und stützte ihn. „Mr. Cooper, können Sie mich hören?“, schrie ich ihn an. Er wandte mir verschlafen den Blick zu und schien überlegen zu müssen, wen er vor sich hatte. Rhona musste von seinen Gefühlen getrunken haben und das nicht zu wenig.
„Was macht ihr mit den ganzen Menschen?“, schrie ich meine Tante fassungslos an und deutete um mich herum.
Rhona schoss auf mich zu und packte mich am Oberarm. „Hör auf zu schreien!“ Sie schleifte mich mit sich zurück zu Eliza. „Ihr verschwindet jetzt!“
Ihre andere Hand schloss sich um Elizas Handgelenk. Ihr Griff war übernatürlich stark und so fest wie ein Schraubstock, ein Entkommen war unmöglich. Unnachgiebig zerrte sie uns hinter sich her. Doch nicht zu dem Haupteingang, durch den wir gekommen waren, sondern zu einem Seiteneingang durch die Küche. Dort störten wir einen Schattenwandler bei seinem Mahl, der gerade dabei war, die Gefühle einer Frau zu trinken. Doch er schien von uns genauso wenig Notiz zu nehmen wie sein Opfer.
Meine Tante jagte uns förmlich von dem Anwesen und blieb erst stehen, als wir im Schutz eines Baumes vor Dairines Zuhause ankamen. „Diese Straße ist für euch von heute an tabu! Ihr werdet einen weiten Bogen darum machen, haben wir uns verstanden?“
Eliza befreite sich wutentbrannt aus ihrem festen Griff. „Warum?“, schrie sie. „Was geht darin vor sich?“
„Nichts, was dich etwas angeht!“
„Ich bin auch eine Schattenwandlerin, warum darf ich nicht dabei sein?“
Sie packte Eliza an den Schultern und schüttelte sie. „Du lässt dich hier nie wieder blicken. Versprich es mir!“ Ich wusste nicht, was mich mehr verstörte. Der Anblick der vielen apathischen Menschen oder zum ersten Mal Angst in den Augen meiner Tante zu sehen. Ich hatte mich in ihr getäuscht. Es ging keine Gefahr von ihr aus. Ganz im Gegenteil: Sie versuchte, Eliza zu schützen. Immer noch. Anders war es nicht zu erklären, warum ihr so viel daran lag, dass Eliza sich hier nicht blicken ließ. Sie wollte sie vor Charles verstecken, damit er nichts von ihrer Existenz erfuhr.
„Gar nichts werde ich!“, kreischte Eliza empört. „Was ist das hier? Eine Art Geheimbund der Schattenwandler?“
Rhona strich sich über die schweißnasse Stirn. Sie war verzweifelt. „Eliza, ich werde dir alles erklären, aber nicht jetzt. Geht nach Hause und erzählt Susan oder George nichts von dem, was ihr heute gesehen habt. Das muss unter uns bleiben. Kann ich mich auf euch verlassen?“
Sie sah mir eindringlich in die Augen und ich wusste, sollte ich mich weigern, würde sie dafür sorgen, dass ich mich an nichts erinnern konnte, was ich erzählen könnte. Also nickte ich eilig. Eliza gab sich zögerlicher. „Versprichst du, dass du mich einweihen wirst?“
„Das werde ich, aber nur, wenn ihr jetzt verschwindet! Bitte!“ Noch nie zuvor schien ihr etwas wichtiger gewesen zu sein. Meine stolze Tante flehte uns an. Das schien auch Eliza endgültig zu überzeugen.
„Wir haben im Innenhof des Nachbargrundstücks geparkt.“
„Dann fahrt jetzt!“, forderte Rhona uns unnachgiebig auf. „Ich warte hier, bis ihr weg seid.“
„Was ist mit Mr. Cooper?“, wollte ich wissen. Er war in keinem guten Zustand gewesen, so wie auch all die anderen Menschen.
„Sobald ihr weg seid, werde ich ihn höchstpersönlich nach Hause bringen. Darauf habt ihr mein Wort!“
Eliza warf ihr einen misstrauischen Blick zu, aber ging dann mit mir durch das Tor auf den Innenhof und stieg in den Triumph Dolomite. Ein leichter Nieselregen setzte ein, als ich aus der Einfahrt fuhr. Dabei ließ Rhona uns nicht für einen Moment aus den Augen. Selbst als wir die Straße entlang fuhren, blieb sie wie versteinert unter dem Baum stehen und sah uns hinterher. Wir bogen auf die Landstraße ab, sodass wir sie nicht mehr sehen konnten.
Gleichzeitig stießen Eliza und ich Luft aus. Wir hatten gar nicht bemerkt, dass wir sie beide angehalten hatten. „Das war schräg“ meinte meine Schwester.
„Total unheimlich“, stimmte ich ihr zu und spürte immer noch die Gänsehaut auf meinen Armen.
„Wusstest du etwas davon?“, wollte Eliza wissen und ich spürte ihren eindringlichen Blick auf mir, während ich versuchte, mich auf die Straße zu konzentrieren.
„Wovon?“ Nun war ich es, die sich dumm stellte.
„Von den anderen Schattenwandlern!“
„Nein, woher sollte ich?“
„Genau wie Rhona wolltest du nicht, dass ich zu dieser Party gehe. Du hast gesagt, Charles Crawford wäre gefährlich. Woher weißt du das?“
„Nur eine Ahnung!“, versuchte ich mich herauszureden, doch schlagartig wurde mir etwas anderes bewusst und ich legte eine Vollbremsung samt quietschenden Reifen mitten auf der Straße hin.
Eliza schrie auf, als sie nach vorne geschleudert wurde und der Sicherheitsgurt in ihre Haut schnitt.
„Dairine!“, stieß ich aus.
Fluchend rieb sich meine Schwester über die wunde Hautstelle. „Was ist mit ihr?“
„Sie muss auch noch bei den Fomori sein!“
„Den Fomori?“ Eliza legte die Stirn in Falten und durchbohrte mich mit ihrem Blick. „Nennt sich so dieser Geheimbund? Wie kann es sein, dass du mehr über sie weißt als ich?“
„Das ist jetzt völlig egal!“, schrie ich. „Wir müssen zurück und Dairine da rausholen.“ Ich setzte dazu an, den Wagen mitten auf der Straße zu wenden, doch Eliza legte ihre Hand auf meine.
„Nein, du bleibst hier und ich gehe alleine zurück!“
Überrascht sah ich sie an.
„Ich kann mich in den Schatten bewegen und nach ihr suchen, ohne dass mich jemand bemerkt. Du wartest hier auf mich.“ Sie sah aus dem Fenster, als sie weitersprach, als würde sie es nicht über sich bringen, mir dabei ins Gesicht zu blicken. „Ich will nicht, dass dir etwas passiert.“
Eine Wärme breitete sich in mir aus, die von meinem Herzen ausging. Eliza mochte unausstehlich sein, aber ein winziger Funke ihrer selbst schien immer noch da zu sein. Ich war ihr immer noch wichtig, auch wenn sie es nicht so deutlich zeigte.
„Na gut“, willigte ich ein und zog mein Handy aus der Tasche. „Aber wenn du in fünfzehn Minuten nicht mit ihr zurück bist, rufe ich die Polizei.“
Eliza lachte auf. „Glaubst du, die könnten etwas gegen eine Horde Schattenwandler ausrichten? Die würden sich doch nicht einmal mehr daran erinnern, dass sie je auf dem Grundstück gewesen sind.“
Meine Erfahrung mit den Fomori und der Polizei hätte mich eigentlich lehren sollen, dass ich besser keine anderen Menschen mit in diese Machenschaften hineinziehen sollte. Es hatte immer mit Leichen geendet.
„Aber mach nur, wenn du dich dann sicherer fühlst“, forderte Eliza mich auf und betätigte die Zentralverriegelung des Dolomite, indem sie den Knopf am Fenster herunterdrückte. „Lass niemanden rein“, schärfte sie mir ein, bevor sie sich vor mir in Schatten auflöste. Unruhig und mit ängstlich klopfendem Herzen blieb ich zurück. Würde sie Dairine finden?