Читать книгу Die kuriosen Abenteuer der J.J. Smith 02: Die schwarze Prinzessin - M.E. Lee Jonas - Страница 6
Kapitel 2 Ein Notruf nach Rosaryon
ОглавлениеJ.J. starrt an die Decke und denkt nach. Als sie im Flur erneut das verzweifelte Fluchen des wütenden Dieners hört, schiebt sie ihre Bettdecke zur Seite und setzt sich langsam auf.
Ihr ganzer Körper schmerzt, da sie sich in den letzten vier Wochen kaum bewegt hat. Aber immer wenn sie loslaufen wollte, stockte ihr Körper und verkrampfte sich. So als wüsste er nicht, wohin er gehen soll. Dieses Haus ist vollgepackt mit erdrückenden Erinnerungen, denen das Mädchen aus dem Weg gehen wollte. Also hat sie sich in ihrem Bett verkrochen und ist irgendwann einfach liegen geblieben.
J.J. sieht an sich herab und schüttelt den Kopf. Was sie sieht, gefällt ihr ganz und gar nicht. Ihr Körper ist ausgezehrt und ungepflegt. Der graue Jogginganzug, den sie seit Wochen trägt, klebt regelrecht an ihrer Haut.
Langsam steht sie auf und schlurft ins Badezimmer. Vor dem Spiegel bleibt sie stehen und betrachtet sich argwöhnisch.
»Wie siehst du nur aus? Linus hätte sich bestimmt nicht so gehen lassen«, raunt sie sich ermahnend zu und schnappt gereizt nach ihrer Zahnbürste.
Es kostet sie viel Überwindung, sich diesen normalen, alltäglichen Dingen hinzugeben. Sie wäscht sich mehrmals die Hände und betrachtet sie abfällig. Aber die Schuldgefühle wollen einfach nicht vergehen.
Anschließend nimmt sie eine ausgiebige Dusche und versucht sich einigermaßen ansehnlich herzurichten. Aber auch das will ihr nicht gelingen. Ihre Haare sind inzwischen viel zu lang und hängen ungepflegt herab.
Genervt schlurft sie in ihr Ankleidezimmer. Nach langer Suche entscheidet sie sich für eine schwarze Jeans und einen grauen Rollkragenpullover. Mehr Farbe gibt die Situation nicht her.
»Grau ist gut.«
Auf Zehenspitzen schleicht sie auf den Flur und horcht. Im Haus ist es ungewohnt ruhig.
J.J. starrt eine Zeit lang auf die Schlafzimmertür ihrer Großmutter und geht langsam darauf zu. Nur zögerlich betritt sie das verwaiste Zimmer. Das Mädchen vermisst ihre Großmutter so sehr, dass es ihr einen Moment lang die Kehle zuschnürt. Darunter mischt sich ein Hauch von Wut und Unverständnis.
Auch wenn es zeitlebens der größte Wunsch ihrer Großmutter war, gemeinsam mit ihrer großen Liebe in Rosaryon zu leben, kann das Mädchen deren endgültigen Entschluss, einfach alles zurückzulassen, nicht verstehen.
»Großmutter gehört nicht nach Rosaryon. Sie gehört hierher! Hier in dieses Haus!«, schnaubt sie gereizt.
Das Zimmer sieht aus, als würde Oma Vettel jeden Moment hereingeschneit kommen und herumzetern. J.J. schließt die Augen und versucht ihren Duft zu erhaschen. Sie setzt sich auf das große Bett und vergräbt ihr Gesicht in den Händen.
»Broaf hat recht! Ich brauche dich. Aber wenn ich dich jetzt anrufe, kommst du Hals über Kopf hierhergestürmt und machst irgendwelchen Unsinn. Du hast nur noch ein paar Monate Probezeit im weisen Phad. Das darf ich nicht kaputt machen!«, flüstert sie dem leicht überdimensionierten Porträt zu, das auf dem Nachtschränkchen steht. Sie streicht sanft über das Foto und geht hinüber zur Frisierkommode. Erleichtert stellt sie fest, dass die silberne Haarbürste noch da ist. Ganz vorsichtig nimmt sie diese in die Hand und streicht versonnen über den kostbaren Stiel.
»J.J.-Cut. Ich möchte den J.J.-Cut haben«, sagt sie laut und fährt sich fest durchs Haar.
Es dauert vielleicht drei Minuten, bis sie die Haarbürste zufrieden zur Seite legt und die breite Strähne sorgfältig über das rechte Auge zieht.
»Es stimmt also, was Großmutter sagte. Sobald ich eine von ihnen bin, hält der Zauber auch bei mir. Die Frisur sitzt perfekt«, spricht sie verächtlich und schiebt sich samt Hocker von der Kommode weg. Dann verlässt sie eilig das Zimmer. Dicht ans Geländer gedrängt, pirscht sie die Treppen hinunter. Außer dem unheimlichen Windgejammer, das das Haus permanent von sich gibt, kann sie nichts hören.
»Das ist gespenstisch.«
Broaf steht in der Küche und füttert Afrim mit Holz. Der Feuerdämon windet sich schmatzend über die großen Holzscheite und stöhnt zufrieden.
Auch das hat sich verändert. Als J.J. ihn das erste Mal sah, hat er ihr furchtbare Angst eingeflößt und sein Gestank war ekelerregend. Nun kann sie dieses extreme Gefühl neu definieren:
Afrim macht ihr keine Angst. Er erinnert sie nur an etwas, das tief in ihr ruht. Wie eine Art unerfüllte Sehnsucht.
»Vielleicht war ich in einem früheren Leben ja selbst ein solches Geschöpf. Wer weiß das schon? Nachdem, was ich erlebt habe, kann ich nichts mehr ausschließen.«
Als das Mädchen die Küche betritt, krümmt sich der Feuerdämon und stöhnt erbärmlich auf. Der Diener stutzt und dreht sich um. Als er J.J. in der Tür stehen sieht, huscht ein erleichtertes Lächeln über sein Gesicht. Behutsam legt er das Holz zur Seite und geht auf sie zu.
»Gut siehst du aus! Es tut mir leid, dass ich vorhin so grob zu dir sprach. Ich bin im Moment nur selbst etwas hilflos«, entschuldigt er sich.
J.J. drückt seine Hand und setzt sich auf die Eckbank. Auf dem Tisch wartet bereits ein üppiges Frühstück, das ihr großen Appetit macht. Aber wirklich Hunger hat sie nicht. Sie schnappt sich einen kleinen Pfannkuchen und isst ihn langsam. Broaf serviert ihr dazu einen frischen Kamillentee, den sie ebenfalls mühsam schlürft. Die Wärme tut ihr gut. Doch ihr Magen beginnt sofort zu rebellieren, deshalb schiebt sie den Teller wieder beiseite.
Broaf starrt sie konzentriert an und überlegt, wie er am besten ein lockeres Gespräch beginnt. Er will das Mädchen auf gar keinen Fall wieder vertreiben.
»Jezabel, was wollen wir tun? Ich möchte den Teufel nicht an die Wand malen, doch ich befürchte, dass ich heute Nacht die Schreie von Skulks wahrnehmen konnte. Sie werden dich holen, wenn du nicht endlich etwas unternimmst. Darania hat nun das offizielle Recht dich einzuberufen. Auch wenn der Grund dafür eine Frechheit ist. Ich möchte nicht, dass du mich falsch verstehst, aber ich bin nur euer Diener. Ich kann mir vorstellen, dass deine Großmutter sehr verärgert sein wird, wenn sie erfährt, dass ich mich derart in diese Familienangelegenheit eingemischt habe, ohne sie um Rat zu fragen. Ich weiß, dass du nicht nach Xestha willst. Deshalb müssen wir dringend eine Entscheidung treffen!«
J.J. starrt nachdenklich aus dem Fenster. Nervös knetet sie ihre verkrampften Hände und schüttelt verzweifelt den Kopf.
»Keine Lösung. Ich finde einfach keine Lösung, Broaf. Ich will nur, dass es zu Ende ist. Alles! Diese furchtbare Situation, diese endlosen Gedanken und vor allem dieser grausame Schmerz!
Ich weiß, dass du recht hast und ich endlich handeln muss. Aber ich bin wie erstarrt. Vielleicht wäre es wirklich das Beste, wenn wir Großmutter kontaktieren. Aber wir müssen vorsichtig sein! Marla wird es nicht gutheißen, dass sie sich mit mir trifft. Sie weiß bestimmt von dieser Einberufung. Ich bin jetzt eine Gefahr für Rosaryon!«
J.J. schluckt, als sie den Satz beendet, und sieht Broaf hilflos an.
Der Diener beugt sich zu ihr und nimmt ihre Hand.
»Ich werde mir in dieser Hinsicht etwas überlegen. Ich schreibe Vettel umgehend eine Nachricht! Aber ich muss diplomatisch vorgehen. Währenddessen solltest du etwas spazieren gehen. Du warst einen Monat lang nicht an der frischen Luft. Es bringt uns nichts, wenn du noch kränker wirst. Du solltest die letzten schönen Herbsttage genießen. Es wird bald Winter in Neuseeland.«
Er drückt sanft ihre Hand und spurtet eilig hinauf in sein Zimmer.
Als der Monitor hochgefahren ist, überlegt Broaf eine Weile. Er spricht es nicht aus, aber es kostet ihn einiges an Überwindung, Vettel zu schreiben, da er einfach nicht die passenden Worte findet. In den letzten Monaten saß der Diener manchmal stundenlang vor dem Monitor und schrieb ihr sehr lange Briefe, die er anschließend alle schluchzend löschte.
Es ist über eine Woche her, dass er ihr das letzte Mal eine Nachricht schrieb, die er auch absendete. Darin beschränkte er sich allerdings nur auf das Nötigste:
Bewohner wohlauf. Haus deprimiert. Der Winter kommt.
Von J.J. hat er kein Wort erwähnt. Also hat er sie auch nicht wirklich angelogen.
Broaf knetet nervös seine Hände. Nachdem er tief Luft geholt hat, beginnt er zu schreiben:
Vettel!
Ich schreibe dir heute aus einem außergewöhnlichen Anlass.
Ich habe leider nicht die Zeit, dir alles ausführlich zu erklären. Deshalb fasse ich mich kurz:
Ich möchte, dass du Marla um eine außerordentliche Reisegenehmigung bittest.
Der Grund ist folgender:
Du musst dringend nach Havelock kommen!!!
Erbitte dir ein paar Tage Urlaub.
Ich weiß, dass es unhöflich klingt, aber komm bitte allein! Es gilt ein schwerwiegendes weltliches Problem zu lösen!
Broaf
Der Diener drückt hastig die Sendetaste und wartet auf den Boten, der nur kurze Zeit später erscheint und lächelnd ein Plakat in die Höhe hält:
Erfolgreich versendet.
Vor Nervosität knabbert Broaf an den Fingernägeln, während er ungeduldig auf den Bildschirm starrt. Aber der Bote kommt nicht zurück. Der Diener seufzt und steht auf. Eine halbe Stunde lang umkreist er den Schreibtisch und betet. Und das scheint tatsächlich zu helfen, denn plötzlich klingelt das Telefon.
Broaf schreckt zusammen und eilt zum Apparat. Er zupft sorgsam seinen Frack zurecht und räuspert sich kurz.
»Guten Morgen. Hier bei Winterhardt«, meldet er sich übertrieben fröhlich.
Am anderen Ende bleibt es zuerst still, dann erklingt die Stimme, die er so schmerzlich vermisst.
»Hallo Broaf. Ich habe gerade deine Nachricht gelesen und mich heimlich in Konrads Büro geschlichen. Also, ich habe nicht viel Zeit! Was gibt es für ein Problem?«, fragt Vettel in ungewohnt leisem Tonfall nach.
Der Diener schließt kurz die Augen und schluckt.
Seit Vettels Abreise nach Rosaryon hat er nicht mehr mit ihr gesprochen. Es versetzt ihm einen schmerzhaften Stich, als er bemerkt, wie sehr sie ihm tatsächlich fehlt.
»Ich kann dir nicht alles am Telefon erklären, Vettel! Ich habe ein Problem, das einer dringenden Lösung bedarf. Und du bist leider die Einzige, die mir dabei helfen kann. Bitte sei so höflich und frage mich nicht weiter aus. Denn ich werde nicht auf weitere Einzelheiten eingehen! Wirst du Marla fragen?«, stammelt er hilflos.
Am anderen Ende herrscht kurze Zeit Stille. Dann zetert Vettel in gewohnter Manier los.
»Ist einer der Bewohner krank? Oder gibt es wieder Ärger mit Darania?«, brüllt sie verwirrt in den Hörer.
Broaf kneift die Augen zusammen und versucht die richtigen Worte zu finden. Aber Vettel hatte schon immer ein außerordentliches Talent, ihm alles aus der Nase zu ziehen.
»Ich sagte doch, dass du mich nicht ausfragen sollst! Bitte komm so schnell es dir möglich ist nach Havelock. Dann können wir alles in Ruhe besprechen!«
Seine Stimme bricht ab, was Vettel nicht entgeht. Einen Moment lang herrscht Stille. Es ist für beide eine ungewöhnliche, aufwühlende Situation.
»Broaf, hast du etwas von Jezabel gehört? Geht es ihr gut?«, fragt Vettel vorsichtig.
Der Diener reibt sich die Schläfen und lacht gereizt ins Telefon. Da er mit Worten nicht weiterkommt, versucht er es nun über den Klang seiner Stimme.
»Vettel, es ist wirklich dringend! Bitte komm sofort nach Havelock!«, brüllt er sie an.
Seine Stimme ist ungewohnt zornig, und um seiner Not Nachdruck zu vermitteln, knallt er den Hörer einfach auf. Broaf lässt seine Hand noch einen Moment lang auf dem Telefon liegen und senkt erschöpft den Kopf. Er wartet einige Minuten, aber Vettel ruft nicht zurück.
»Ich hoffe, sie hat es verstanden«, raunt er verzweifelt in das Zimmer.
Bekümmert sieht er sich um und geht zu seinem Nachtschränkchen. Langsam öffnet der Diener die oberste Schublade und starrt auf den Inhalt. Verzweifelt schüttelt er den Kopf und schließt sie wieder.
Aber der Druck ist stärker. Also öffnet er sie erneut und zerrt hastig die kleine Flasche heraus, die er voller Verachtung betrachtet. Seine Hände zittern, genau wie seine Knie.
Die Flüssigkeit brennt sich wie Feuer durch seine Kehle. Er hustet und wischt sich angewidert den Mund ab. Aber die Wärme, die augenblicklich seinen Körper durchströmt, beruhigt ihn und holt ihn für einen künstlichen Moment aus seiner Ohnmacht. Lässt ihn seinen eigenen Schmerz verdrängen.
Der Diener atmet tief durch.
»Es muss etwas passieren! Wir benötigen alle deine Hilfe, Vettel! Ich brauche dich ebenso!«, flüstert er mit tränenerstickter Stimme.
Behutsam legt Broaf das Fläschchen zurück in den Schrank und nimmt sich ein Pfefferminzbonbon. Dann stellt er sich vor den Spiegel und rückt seinen Frack zurecht. Er kämmt sich einen akkuraten Mittelscheitel und lächelt gekünstelt. Hoffnungsvoll starrt er noch einmal auf das Telefon, bevor er hinunter in die Küche geht.
Dort sitzt J.J. angespannt auf der Eckbank und wartet. Als der Diener hereinkommt, lächelt sie ihn schüchtern an. Inzwischen hat Lincoln sich zu ihr gesellt und sitzt nun ebenfalls mit großen, erwartungsvollen Augen auf ihrem Schoß.
Broaf räuspert sich kurz und geht festen Schrittes zur Kochinsel.
»Guten Morgen, Lincoln! Ich habe gerade mit Vettel gesprochen und sie gebeten, ein paar Tage hierherzukommen! Leider habe ich noch keine direkte Antwort von ihr bekommen. Deshalb können wir jetzt erst einmal nur abwarten!«, sagt er knapp.
Als der kleine Halbtagshund Oma Vettels Namen hört, hechelt er ganz aufgeregt und rennt zu Broaf.
J.J. sieht den Diener mit großen Augen an.
»Was hast du ihr gesagt?«, fragt sie verlegen.
Broaf antwortet, ohne sie dabei anzusehen:
»Eigentlich habe ich ihr gar nichts gesagt! Ich denke, das ist genau das, was sie letztendlich zwingen wird, zügig hierherzukommen!«
Das Mädchen stutzt und sieht ihn eindringlich an. Obwohl Broaf lächelt, bemerkt sie seine Unsicherheit. Das Mädchen fasst sich an den Bauch und versucht den unangenehmen Druck im Magen zu unterdrücken. Hastig schlürft sie ihren Tee und schnappt sich die Zeitung, die neuerdings jeden Morgen auf dem Tisch liegt.
Es ist nicht so, dass J.J. das Geschehen in der Welt nicht interessiert, aber für gewöhnlich liest sie eher selten die Zeitungen, da heutzutage die wichtigsten Neuigkeiten durch das Internet oder den Fernseher verbreitet werden.
Das Mädchen überspringt gelangweilt die erste Seite und liest sich dann einen interessanten Sportartikel durch. Am regionalen Teil bleibt sie schließlich hängen. Das Lesen der Geschichten anderer Menschen entspannt sie und nimmt ihr für einen Moment die Angst. Jetzt versteht sie, warum Broaf neuerdings jeden Morgen die Zeitung liest. Es lenkt ihn ab.
J.J. ist gerade in einen Artikel über das bevorstehende Dorffest vertieft, als ein schriller Ton sie hochschrecken lässt. Verängstigt lässt sie die Zeitung fallen und hält sich beide Ohren zu. Ihr Körper verkrampft und beginnt unkontrolliert zu zittern, während sich ihr Atem in schweren Zügen aus ihrem Körper pumpt. Sie kneift die Augen zusammen und beißt sich auf die Lippen.
»Skulks! Sie holen mich«, presst sie panisch hervor.
Broaf eilt zu ihr und fasst sie beruhigend an der Hand.
»Keine Angst, Jezabel! Es ist alles in Ordnung. Du bist in Sicherheit! Das sind nicht die Skulks. Das ist der Signalton meines Monitors! Ich habe ihn eingebaut, da ich nicht die ganze Zeit vor dem Bildschirm sitzen und auf Nachrichten von Vettel warten wollte. Deshalb habe ich etwas gebastelt, das mir sofort Bescheid gibt, wenn ich eine Nachricht bekomme. Dieses Signal ertönt übrigens auch, wenn ein neuer Bewohner eintrifft!«, sagt er stolz.
Als er bemerkt, dass J.J. eine regelrechte Panikattacke hat, küsst er sie sanft auf die Stirn und nimmt vorsichtig ihre Hände von den Ohren.
»Es ist alles gut, kleine Prinzessin! Niemand wird dich holen. Ich denke, dass vielen Wesen überhaupt nicht bewusst ist, welche Auswirkungen die Ereignisse der letzten Monate auf dich haben«, flüstert er betroffen und drückt das Mädchen fest an sich.
Nur langsam kann J.J. sich aus ihrer Starre lösen. Trotz der beruhigenden Worte des Dieners sieht sie noch einmal panisch in den Garten. Erst als sie sicher ist, dass dort keine riesigen Spinnen auf sie lauern, kann sie sich wieder entspannen.
Broaf legt ihr ein kühles Tuch auf den Nacken und eilt aus der Küche. Aufgeregt rennt er in sein Zimmer und setzt sich vor den Monitor. Bevor er die Nachricht öffnet, holt er noch einmal tief Luft.
Tatsächlich! Oma Vettel hat ihm zurückgeschrieben!
Es ist sehr unhöflich, einfach aufzulegen, mein lieber Broaf! Da ich dich jedoch fast mein ganzes Leben lang kenne, deute ich dies als dringenden Notruf!
Ich habe deshalb bereits mit Marla gesprochen und die Erlaubnis bekommen, für drei Tage nach Havelock zu reisen. Sie war nicht sehr erfreut darüber, dass ich einfach in die Sitzung des Rats der Weisesten gestürmt bin. Na ja, mehr als eine weitere Verwarnung kann das aber nicht geben.
Mit Konrad habe ich ebenfalls gesprochen und ihm erklärt, dass Iris ein dringendes Problem hat. Er war nicht böse, dass er nicht mitkommen kann, da er im Moment in Rosaryon selbst sehr viel zu tun hat. Humptypuff hat bereits alle nötigen Papiere und Kleider zusammengepackt. Ich reise umgehend ab und werde noch heute Nacht bei euch eintreffen!
Vettel
PS: Willkommensparty nicht nötig. Für ein saftiges Steak wäre ich dir allerdings sehr, sehr dankbar!
Broaf starrt auf die Nachricht und atmet erleichtert aus. Nach einem tonlosen Freudensprung geht er wieder hinab in die Küche und erzählt den beiden, was er gerade erfahren hat. J.J. lächelt unsicher und beginnt wieder zu weinen. Lincoln dagegen macht einen Luftsprung und lächelt breit über das Gesicht. Der Halbtagshund vermisst seine Oma Vettel wirklich sehr!
»Wir sollten ein paar Vorkehrungen treffen«, sagt Broaf ganz aufgeregt.
Er reicht J.J. ein Taschentuch und drückt sie noch einmal schnell an sich. Dem Mädchen entgeht nicht, dass der Diener plötzlich sehr nervös ist. Nicht im negativen Sinn, sondern eher freudig aufgeregt. Sie wischt sich die Tränen vom Gesicht und hört ihm aufmerksam zu.
»Ich möchte nicht, dass Vettel den Eindruck gewinnt, dass wir uns nicht gut um das Haus kümmern. Wir sollten also etwas aufräumen und das Essen im Esssalon servieren. Gott sei Dank hat das Haus die Tür wieder angebracht! Wir werden also alle gemeinsam im Esssalon speisen. So wie wir es immer getan haben, als Vettel noch hier lebte.
Lincoln, du überbringst den restlichen Bewohnern die freudige Neuigkeit. Sie sollen sich hübsch machen und eine Kleinigkeit vorbereiten. Vielleicht kannst du ja mit Henry McMuffel sprechen. Auf mich hört dieser aufgeblasene Geisterfrosch jedenfalls nicht.
J.J., du kannst mir gern in der Küche helfen!«
Das Mädchen sieht belustigt hinter dem nervös gestikulierenden Diener her, der sich umgehend an die Arbeit macht.
Innerhalb einer Stunde ist das Haus von fröhlichen, aufgeregten Stimmen erfüllt. Jeder Bewohner hantiert beschäftigt herum. Lincoln sitzt im Flur und delegiert die Gemeinschaft, was bei Henry McMuffel auf puren Argwohn trifft. Seit Vettels Abreise hat sich der Geisterfrosch in sein Baumhaus verkrochen und höchst beschäftigt an seinen Memoiren geschrieben.
Afrolino schwebt derweil schnarchend durch’s Haus und Rosinante rennt wütend hinter den losen Blättern her, die sich wie kleine Kinder jagen.
Die Meerjungfrau Myrrda kann vor lauter Vorfreude gar nicht mehr aufhören zu weinen und Yeta schnitzt mithilfe von Xynthalius’ Klinge eine wirklich außergewöhnliche Eisskulptur.
Auch wenn die Situation nicht unbedingt angenehmer Natur ist, so ist es in diesem Moment doch ein kleines bisschen wie früher.
Broaf hängt die Bilder und Fotos der Galerie wieder gerade auf, während J.J. ihr Zimmer aufräumt. Nachdem alle fertig sind, setzen sie sich an den großen Tisch im Esssalon, verspeisen leckere Sandwichs und trinken Orangenlimonade. Erst gegen Abend löst sich die Gesellschaft auf. Alle Bewohner gehen auf ihre Zimmer, um sich für den nächsten Morgen auszuruhen.
J.J. steht noch mit Broaf in der Küche und räumt das letzte Geschirr weg.
»Kann ich aufbleiben, bis Großmutter kommt?«, fragt sie den Diener vorsichtig.
Sie hat sich vorgenommen, nicht mehr frech oder vorlaut zu sein, und sieht ihn schüchtern an. Broaf stutzt, schüttelt aber energisch den Kopf.
»Nein. Kommt gar nicht infrage! Wir wissen nicht, wann sie eintrifft. Es könnte nach Mitternacht werden! Ich denke, du solltest dich ausruhen und sie morgen früh in aller Frische begrüßen. Sie wird sich schon genug erschrecken, wenn sie sieht, wie dünn du geworden bist!«
Das Mädchen sieht an sich hinab und steckt verlegen die Hände in die Hosentaschen.
Sie ist zwar ein wenig enttäuscht, haucht dem Diener aber trotzdem ein Küsschen auf die Wange, bevor sie mit Lincoln hinauf in ihr Zimmer geht.
»Ich bin noch überhaupt nicht müde! Ich glaube, ich werde noch mal den Monitor hochfahren! Vielleicht lenkt mich das ein bisschen ab«, sagt sie leise zu dem Halfie, von dem mittlerweile nur noch der hintere Teil sichtbar ist.
J.J. hört nur ein leichtes Hecheln und sieht zu dem blauen Hundekörbchen.
»Schläfst du immer hier? Ich meine, auch wenn ich nicht da bin?«, fragt sie.
Der kleine Halfie seufzt.
»Eigentlich schlafe ich wieder oben bei … Du weißt schon. In dem Zimmer, wo ich vorher auch gewohnt habe.
Ich bin dort sehr gern. Es erinnert mich an ihn. Ich weiß, dass du immer mal wieder in Havelock vorbeikommst. Da schlafe ich auch gern bei dir im Zimmer. Aber ich weiß auch, dass … Na ja, dass Diggler nicht wiederkommt. Deshalb bin ich lieber oben und denke an unsere lustige Zeit!«
Dem Mädchen treten bei den leisen Worten des Halfies unwillkürlich dicke Tränen in die Augen. Durch ihre eigene Verzweiflung und Wut hat sie ganz vergessen, dass die anderen Bewohner ihren eigenen Schmerz haben. Sie geht zu dem traurigen Halfie, der verträumt in den Raum starrt.
»Es ist sehr höflich von dir, dass du mich nicht alleine lassen möchtest. Wenn du jedoch lieber in deinem Zimmer schlafen möchtest, ist das auch in Ordnung. Wirklich!«, flüstert sie betroffen und krault ihm sanft den Rücken.
Der kleine Mops winselt leise und schluchzt, denn er ist immer noch in tiefer Trauer über den Verlust seines besten Freundes Diggler.
»Heute Nacht bleibe ich noch hier, J.J. Wenn es dir wirklich nichts ausmacht, schlafe ich morgen wieder oben!«, antwortet er leise.
J.J. lächelt ihn sanft an und nickt.
Dann geht sie zum Schreibtisch zurück und lässt den Monitor hochfahren. Nur ein paar Augenblicke später kann sie schon das leise Schnarchen ihres kleinen Freundes hören.
Dass der Bote prompt auf dem Monitor erscheint, erschreckt sie dann doch. Breit lächelnd hält dieser ein Plakat in die Höhe:
Du hast vierundzwanzig neue Nachrichten! Möchtest du sie alle lesen?
Das Mädchen starrt nachdenklich auf das Plakat und nickt automatisch. Dieses Mal will sie wissen, wer ihr geschrieben hat.
Zwölf Nachrichten sind von Zoé, vier von William, zwei von Felder, eine Nachricht ist von Cassidy, eine von Mrs. Rogan und die letzten vier Nachrichten sind von Ava! Zögerlich öffnet sie die erste Nachricht von Zoé.
J.J.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich bin total durcheinander. Ich habe deinen Brief gefunden, aber ich verstehe ihn nicht. Ich verstehe gar nichts!
Ich mache mir große Sorgen und sehr große Vorwürfe. Ich habe bemerkt, dass es dir in den letzten Wochen nicht gut ging, und mich wohl nicht genug um dich bemüht. Ich hoffe, dass du bald wieder gesund bist und zu uns zurückkommst. Und ich bete dafür, dass bald alles wieder so wird, wie früher.
Ich vermisse dich so sehr. Du bist doch meine Schwester im Herzen! Es ist sehr einsam hier ohne dich. Wenn du irgendwelche schlimmen Probleme hast, melde dich bitte bei mir! Wir finden eine Lösung.
Was ist nur geschehen?
Ich umarme dich!
Deine Freundin Zoé!
J.J. lässt ihren Tränen freien Lauf. Sie vermisst Zoé ganz schrecklich und die Tatsache, dass sie sich ihrer besten Freundin nicht anvertrauen kann, macht ihr schwer zu schaffen.
Sie hat oft darüber nachgedacht, ob sie es ihr nicht einfach sagen soll. Was könnte schon passieren? Zoé könnte sie höchstens für verrückt halten. Vielleicht vergisst sie es ja auch wieder. So wie die Sache mit dem Gedankenstein. Darüber hat sie schließlich auch kein Wort mehr verloren.
J.J. holt noch einmal tief Luft und liest die anderen elf Nachrichten von Zoé, die eigentlich alle den gleichen Inhalt haben.
Melde dich! Wie geht es dir? Ich vermisse dich!
Sie kann die Verzweiflung ihrer besten Freundin regelrecht fühlen. Das macht sie richtig fertig. Was würde sie tun, wenn es umgekehrt wäre?
Vorsichtig tippt sie auf die letzte E-Mail, die Zoé erst vor vier Tagen abgesendet hat. J.J. bemerkt, dass ihre Freundin hier nicht mehr traurig, sondern sehr wütend schreibt.
Okay, J.J. Ich hab’s kapiert! Es ist dein Leben. Offensichtlich spiele ich darin keine sehr große Rolle mehr.
Melde dich einfach, wenn du bereit bist!
Deine Freundin Zoé!
J.J. seufzt verzweifelt und überlegt eine Weile, ob sie ihrer Freundin nicht doch antworten soll. Sie weiß, dass diese Ungewissheit grausam für Zoé sein muss. Aber sie hat Angst, wieder einen großen Fehler zu machen. Also lässt sie es sein und öffnet die E-Mail von Cassidy, Pippas Tochter.
Erstaunlicherweise hat diese Nachricht fast denselben Wortlaut wie die erste Nachricht von Zoé.
J.J.!
Was ist nur passiert? Wo bist du? Geht es dir gut?
Unsere Mutter macht sich große Sorgen, weil du einfach weggegangen bist, ohne ihr etwas zu sagen. Melde dich doch bitte, bitte bei ihr!
Cassidy
»Nein! Bei Pippa werde ich mich garantiert nicht melden! Es würde mir das Herz brechen, wenn ich sie wieder weinen höre!«
Wütend löscht sie eine Nachricht nach der anderen, auch die von William, Felder und Mrs. Rogan, ohne sie überhaupt gelesen zu haben. Bei Avas Nachricht hält sie allerdings inne.
Verachtend starrt sie auf den Namen der Junghexe und bemerkt, wie ihr Blut zu pulsieren beginnt. Nervös betrachtet sie ihre Hände, auf denen sich die Adern schon ziemlich dick abzeichnen. Hastig tippt sie auf die erste Nachricht.
Jezabel!
Ich weiß, was in Xestha vorgefallen ist. Deshalb denke ich auch, dass du diese Nachricht gar nicht erst lesen wirst. Also kann ich meinen Gedanken auch freien Lauf lassen:
Ich habe verstanden, dass die Menschen in der realen Welt eine andere Vorstellung von gesellschaftlichen Verpflichtungen haben als wir Hexen aus Xestha. Wir Hexen vom dunklen Phad definieren Loyalität auf eine andere Weise als ihr. Was aber nicht automatisch bedeutet, dass ihr Menschen die besseren Wesen seid! Ihr habt einfach nur andere Gesetze, die »gut und böse« völlig vereinfacht eingrenzen.
Manchmal sind die Dinge allerdings anders, als sie im ersten Augenblick erscheinen. Ich möchte mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen und behaupten, dass unsere Gesetze im Endeffekt ehrlicher sind. Ich wollte dir nur gern schreiben, dass ich es nicht nachvollziehen kann, warum ihr mich damals nicht mit ins Amtsgebäude genommen habt. Ich denke, dass Linus Bedenken hatte und er euer Vorhaben nicht gefährden wollte. Aber egal was du von mir denkst, ich kann mit erhobenem Kopf behaupten, dass ich euch nicht in eine Falle gelockt habe!
Hast du mal darüber nachgedacht, dass ich vielleicht selbst in eine geraten bin?
Als ich in der Arena den Dämonenhund gesehen habe, wusste ich sofort, dass nur du das gewesen sein kannst. Glaube mir, ich fand das großartig! Aus Erfahrung weiß ich, dass nur eine Hand voll Hexen in deinem Alter solch ein Wesen beschwören kann. Diese würden so etwas im Gegensatz zu dir allerdings niemals tun!
Das mit Fjigor hat mir ganz offensichtlich gezeigt, wie wenig du uns Bewohner vom dunklen Phad verstehst.
Ich weiß, dass du viele Dinge ablehnst, die wir in Xestha tun, weil sie gegen deine ethischen Grundsätze verstoßen. Aber wir dunklen Hexen haben eine eigene Vorstellung von Moral. Ganz einfach, weil wir alle die gleichen Möglichkeiten haben. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir respektloser leben oder ständig aus einem Impuls heraus große Flüche aussprechen. Auch wenn wir von Geburt an wissen, dass wir am Ende nur für uns selbst verantwortlich sind.
Was mit Linus passiert ist, finde ich schrecklich. Auch wenn ich die wahren Begebenheiten nicht kenne. In Xestha geht lediglich das Gerücht um, dass du ihn verzaubert haben sollst, weil er nicht dein Freund sein wollte. Das kann ich aber nicht glauben! Ich habe nämlich bemerkt, wie er dich angesehen hat. Schon auf deiner Party konnte man erkennen, dass er in dir etwas ganz Besonderes sieht.
Es ist alles einfach nur schrecklich!
Ich weiß auch nicht, warum ich dir schreibe. Ich denke, ich musste das einfach mal loswerden. Jetzt, wo du offiziell nach Xestha, zu uns, gehörst, wissen übrigens auch alle anderen Xesthaner, wie du wirklich aussiehst. Viele Junghexen tragen jetzt kurzes Haar und einen tiefen Scheitel. Deine Statue übrigens auch. Die ist wirklich sehr schön!
Na ja, ich habe es auch einmal ausprobiert. Vielleicht hast du es gesehen. An dem Abend in der Arena, als du (davon gehe ich einfach aus) Fjigor gerufen hast. Ich finde jedoch, dass es mir nicht steht! Es war eigentlich die Idee von meiner Tante, dass ich in der Öffentlichkeit mein Auftreten verändere. Ich denke, sie will unbedingt, dass ich so perfekt werde wie du!
Ich wünsche dir alles Gute, Jezabel.
Ava
J.J.s Atem beruhigt sich plötzlich. Diese Nachricht ergibt keinen Sinn und erklärt trotzdem so vieles.
Das Mädchen lehnt sich zurück und öffnet die zweite E-Mail von Ava.
Jezabel!
Ich weiß, dass du mir nicht vertraust. Aber ich muss dich warnen! Melde dich beim Hexenrat! Mach irgendwie auf dich aufmerksam! Sonst werden sie dich vernichten! Denk an deine Bestimmung!
Ava
J.J. liest diese Nachricht mehrmals und stutzt.
Was sollen diese Worte bedeuten? Eigentlich will sie Avas Nachrichten ignorieren, da ihr die letzten Zeilen doch große Probleme bereitet haben. Trotzdem öffnet sie auch die dritte E-Mail. Vielleicht aus Neugier, aber vielleicht auch aus Angst. Ihr Bauchgefühl sagt ihr auf jeden Fall, dass sie auf irgendeine Weise wichtig sein wird.
Jezabel!
Es wird Ernst! Der Elonyk von Festos wird ungeduldig! Im dunklen Phad gehen seltsame Dinge vor sich. Auch wenn du deine Bestimmung hasst, denke ich, dass alles mit dir zusammenhängt! Jezabel, du musst nach Xestha kommen!
Ava
Mit klopfendem Herzen liest J.J. die Worte und schluckt.
Es war ihr klar, dass sie sich nicht ewig vor dem Hexenrat verstecken kann, aber Avas Worte verraten, dass ihr Verhalten wohl sehr viel mehr Probleme schafft, als es löst.
Zögerlich öffnet das Mädchen die letzte Nachricht, die Ava ihr erst gestern Abend geschickt hat.
Jezabel!
Bitte! Das wird die letzte Nachricht sein, die ich dir schicke. Es ist inzwischen auch für mich gefährlich. Danach liegt es allein an dir!
Der Hexenrat hält ständig geheime Treffen im Haus meiner Tante ab. Ich fühle, dass etwas Großes im Gange ist. Leider erfahre ich nichts mehr. Sie schotten sich regelrecht ab, weil sie mich für vertrauensunwürdig halten.
Das ist lustig, nicht wahr?
Du glaubst, dass ich euch damals verraten hätte, und meine Tante glaubt, dass ich sie verraten habe. Plötzlich glaubt mir niemand mehr. Aber das ist schon okay.
Trotzdem flehe ich dich an! Komm bitte nach Xestha! Sonst ersetzen sie dich, ohne dass irgendjemand etwas davon bemerkt. Und ich bin mir ganz sicher, dass Darania alles tun wird, dass es auch so bleibt!
Denke an deine Möglichkeiten!
Ava
Das hat gesessen!
»Darum ist der Hexenrat in den letzten Tagen so ruhig geblieben. Darania will mich also durch eine falsche schwarze Prinzessin ersetzen! Aber wie soll das gehen?«
Diese Neuigkeit öffnet J.J. schlagartig die Augen. Sie vertraut Ava zwar immer noch nicht. Aber diese Information klärt ihr Bewusstsein innerhalb von ein paar Sekunden auf!
Eilig fährt sie den Monitor herunter, ohne Ava zu antworten.
»Was soll ich diesem Mädchen auch schreiben?
Soll ich ihr etwa danken? Nein! Diese Nachrichten erklären gar nichts!«
Nachdenklich setzt sie sich auf ihr Bett.
»Ava hat recht. Ich habe Möglichkeiten. Viele Möglichkeiten sogar. Nur welche nützen mir und welche machen mir nur noch mehr Probleme?«, flucht sie ratlos.
Sie denkt noch einmal über alles nach, was sie mit Ava erlebt hat, und entschließt sich am Ende, diese Nachrichten doch sehr ernst zu nehmen.
Während sie versonnen vor sich hindöst, passiert etwas Eigenartiges:
J.J. liegt entspannt auf ihrem Bett, aber sie bemerkt, dass plötzlich irgendetwas anders ist. Langsam richtet sie sich auf und sieht sich verwirrt um.
Lincoln hat recht, dieser schwarz-weiße Gruselfilmeffekt ist wirklich nervtötend. Aber genau das ist es, was sie irritiert. Der Trauereffekt ist weg und ihr Zimmer erstrahlt wieder in hellen, violetten Tönen!
Während sie verschlafen die Farben betrachtet, geschieht etwas, das ihr das Blut in den Adern gefrieren lässt.
Sie hört ihn! Ganz deutlich hört sie den Ruf des Falken.
J.J. springt hastig aus dem Bett und rennt zum Fenster. Als sie es endlich mit zittrigen Händen geöffnet hat, sieht sie erwartungsvoll hinaus. Aber sie sieht nur den Garten, über dem die Dunkelheit liegt, und ein paar Sterne, die sich durch die Wolken kämpfen konnten.
Während ihr dicke Tränen über die Wangen rollen, verschließt sie enttäuscht das Fenster. Aus einem inneren Impuls heraus öffnet sie es erneut und steigt auf den Sims. Dann ruft sie, so laut sie kann, seinen Namen.
»Linus! Ich bin hier! Bitte komm zu mir zurück!«
Aber es bleibt still.
Gedemütigt von ihrer eigenen Hoffnung sinkt das Mädchen in die Knie und schluchzt. Da streicht ihr etwas sanft über den Kopf. J.J. kennt diese Art der Berührung. Aber sie traut ihr nicht. Aus Angst vor einer Enttäuschung presst sie ihre Augen fest zusammen. Erst als der Duft nach grenzenloser Freiheit sie umgarnt, hebt sie langsam ihren Kopf.
»Linus! Du bist es wirklich! Wo bist du gewesen?«, fragt sie hastig und springt hoch.
Der Falke antwortet ihr nicht, sondern sieht sie nur traurig an.
Ganz sanft umfasst das Mädchen die Federn in seinem Gesicht. Der Falke legt behutsam seine Krallen auf ihre Schultern und zieht sie vorsichtig aus dem Fenster. Während sie lautlos durch die Nacht schweben, erinnert sie sich endlich wieder an dieses vollkommene Gefühl des Friedens. Zärtlich umfasst sie seine Krallen und sieht nach oben.
Dann realisiert sie jedoch, dass sie in Richtung des Nydia-Walkways fliegen. Dorthin, wo das Tor nach Xestha ist. Und plötzlich bekommt sie Angst, dass Linus sie zum Hexenrat verschleppen will. Immerhin wollte der Junge sie mit einem tödlichen Fluch belegen, als sie ihn das letzte Mal sah.
J.J. fühlt sich mit einem Schlag überhaupt nicht mehr wohl und schreit ihn wütend an:
»Linus! Wo bringst du mich hin? Ich will nicht nach Xestha! Bring mich sofort zurück!«
Panisch strampelt sie mit den Beinen und flucht.
Da antwortet ihr eine sehr vertraute Stimme:
»Bitte hab keine Angst, Jezabel! Ich muss dir etwas sehr Wichtiges zeigen! Du musst mir vertrauen! Bitte!«
J.J. hält inne und sieht verwirrt nach oben.
Es ist Linus‘ Stimme. Aber niemals zuvor hat er mit ihr geredet, wenn er als Falke wandelte.
»Was hat das zu bedeuten?«
Im nächsten Moment senken sie sich langsam herab. Der Falke lässt das Mädchen sacht auf dem Dach des Amtsgebäudes nieder und dreht ab.
J.J. sieht sich hastig um, da sie befürchtet, dass Skulks in der Nähe sein könnten. Aber da ist kein anderes Wesen. Nur Linus, der am anderen Ende des Gebäudes in menschlicher Gestalt aus dem Schatten tritt und langsam auf sie zuschreitet.
»Was soll ich hier? Linus, wo bist du gewesen?
Ich will nicht hier sein und ich will auch nicht in der anderen Welt sein! Ich will nirgendwo mehr sein, verstehst du?«, schreit sie ihm verzweifelt zu.
J.J. versteht nicht, was hier vor sich geht. Alles in ihr rotiert. Die quälenden Fragen der vergangenen Monate vermischen sich mit der Unsicherheit dieser obskuren Situation.
Linus bleibt in sicherer Entfernung stehen und hebt beschwichtigend seine Hände. Dabei sieht er ihr tief in die Augen, so wie er es vor dieser Katastrophe immer getan hat. Aber im Gegensatz zu früher wirkt er dabei nicht stark und selbstbewusst, sondern tieftraurig.
»Jezabel, ich weiß, dass du Angst vor mir hast. Bitte höre mir trotzdem zu! Ich wollte dir niemals wehtun! Es gibt etwas, das ich dir unbedingt erklären muss. Dafür ist der richtige Zeitpunkt jedoch noch nicht gekommen. Ich habe Fehler gemacht, weil ich dich schützen wollte …
Ich habe im Moment nicht viel Zeit.«
Als seine Stimme abbricht, geht er verzweifelt auf sie zu.
»Bitte! Du musst mir glauben. Ich …«, spricht er hastig, als ein bekanntes Kreischen seine Rede unterbricht.
Das Mädchen dreht sich ängstlich im Kreis, kann aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Sie wendet sich wieder zu Linus, der nun hektisch auf sie zukommt.
J.J. selbst kann sich nicht bewegen. Sie steht kurz vor einem Kollaps. Ihre Gefühle und Gedanken fahren Achterbahn und sie zittert am ganzen Körper.
»Bitte, Jezabel. Ich habe keine Zeit mehr. Hör mir zu. Du musst nach Xestha zurückgehen! Es wird dir dort nichts geschehen.
Überlege dir jedoch gut, wem du vertraust! Nicht jeder, den du als Feind ansiehst, will dir schaden. Jedes Wesen hat seine eigene Geschichte.
Ich weiß, dass du es schaffen wirst! Wenn die Zeit gekommen ist, wirst du wissen, was du zu tun hast.«
Er unterbricht sich erneut und sieht sich nervös um. Das Kreischen ist nun ganz nah über ihnen. Linus winkt sie hektisch zu sich, aber J.J. kann sich einfach nicht bewegen. Irgendwie ist alles in ihr erstarrt.
»Träume ich?«, fragt sie den Jungen leise, der sich nun umdreht und auf das Zentrum zeigt. Ein seltsamer, orangefarbener Lichtstrahl fährt aus seiner Hand, der sich weit durch die ewige Dämmerung zieht, bis er auf ein ungewöhnliches Gebäude trifft, das viel kleiner als die anderen ist und sehr verwahrlost aussieht.
»Dort liegt deine Aufgabe! Nur dort wirst du alle Antworten finden! Hab keine Angst. Du wirst niemals alleine sein«, spricht der Junge mit ruhiger Stimme.
J.J. atmet hastig. Sie versteht einfach nicht, was er von ihr will. Erst als er sich hektisch in den Falken verwandelt, löst sich endlich ihre Starre.
Völlig aufgelöst rennt sie auf ihn zu, während sie verzweifelt schreit:
»Warte! Linus, bitte! Geh nicht wieder weg! Ich muss wissen, wo du bist. Linus!
Ich verstehe nicht … Bitte!«
Sie bemerkt nicht, dass sich hinter ihr eine ekelerregende Gestalt kopfüber auf sie stürzt. Kurz bevor das Mädchen den Falken erreicht, sieht sie nur den Schrecken in seinen Augen.
Der Falke erhebt sich blitzschnell in die Höhe und stürzt schreiend auf sie zu. J.J. bleibt erschrocken stehen und dreht sich endlich um. Mit Entsetzen sieht sie das gewaltige weiße Netz, das auf sie herabgeschossen kommt.
»Skulks«, denkt sie panisch und kreischt los.
In diesem Moment stürzt der Falke auf sie zu und stößt sie vom Dach des Amtsgebäudes.
Während des Falls empfindet sie eigenartigerweise gar nichts. Kurz bevor sie auf den Boden trifft, hört sie noch einmal seine Stimme.
»Ich habe dich nicht belogen. Du musst mir vertrauen. Folge deiner Bestimmung, schwarze Prinzessin. Dein Mut ist meine Stärke.«
Als sie aufprallt, schreit sie vor Schmerz laut auf. Mit geschlossenen Augen bleibt sie liegen. Alles dreht sich.
»Der Skulk!«, denkt sie panisch.
»Linus! Bitte! Linus! Was tust du da?«, schreit sie hysterisch los, bevor sie im nächsten Moment zu würgen beginnt, da sie befürchtet zu ersticken. Panisch spuckt sie das kalte Wasser aus und öffnet entsetzt die Augen.
Oma Vettel, mit einem großen Eimer in der Hand, kniet neben ihr und sieht sie besorgt an.
»Es ist alles gut, Jezabel! Ich bin ja da!
Komm, ich helfe dir auf. Wie es aussieht, hattest du einen schrecklichen Albtraum!«, spricht die alte Dame leise.
J.J. sieht sich völlig verwirrt um und tastet nach dem Gesicht ihrer Großmutter. Als das Mädchen sicher ist, dass sie nicht träumt, springt sie hoch und läuft verstört durchs Zimmer.
»War das ein Traum? Habe ich das wirklich nur geträumt?«, denkt sie irritiert, während sie zum Fenster geht und es mit stummer Miene verschließt. Verwirrt tastet sie an der Wand entlang. Die Tapete ist immer noch violett!
»Ich verstehe das nicht«, flüstert sie leise.
Ihre Großmutter kommt auf sie zu und streicht ihr sanft durchs Haar.
»Da hat das Haus aber wirklich Glück gehabt! Broaf hat mir berichtet, dass es bis zu meiner Ankunft diesen schrecklichen Trauereffekt beibehalten hat. Morgen früh werde ich ihm dafür gehörig die Meinung geigen! Aber jetzt kümmern wir uns erst einmal um dich! Wie ich sehe, komme ich keinen Moment zu früh.«
Ohne Vorwarnung schnappt sie J.J.s Hand und zieht sie einfach hinter sich her.
Während die beiden stumm die Treppe hinabgehen, denkt das Mädchen verkrampft nach. Nichts scheint ihr dieses seltsame Erlebnis erklären zu können.
Wenn es wirklich nur ein Traum war, warum war das Fenster noch geöffnet?
Und für einen Fall von der Bettkante war der Aufprall ziemlich schmerzhaft.
Und da war noch seine Berührung. Sie konnte seinen Duft riechen und seine Worte klangen klar und deutlich.
Aber würde Linus wirklich wollen, dass sie zurück nach Xestha geht?