Читать книгу Die kuriosen Abenteuer der J.J. Smith 02: Die schwarze Prinzessin - M.E. Lee Jonas - Страница 8

Kapitel 4 Ein Dämon am Strand

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Es war ein plötzlicher, innerer Impuls, der sie hierherführte. Eine flüchtige Vision. Jetzt wo sie hier ist, fühlt sie sich außergewöhnlich gut. Irgendwie befreit. J.J. rennt ein Stück am Strand entlang und bleibt erst kurz vor der Familienbucht stehen.

Gedankenversunken starrt sie auf das Meer. Der raue Wind treibt ruhelos mächtige Wellen an den Strand, die mit gewaltigen Donnerschlägen an den Felsen brechen. Es ist laut, fast bedrohlich.

Das Meer ist wütend. Irgendetwas Ungeheuerliches bahnt sich an. Etwas, das wir noch nicht sehen können. Aber ich fühle, dass etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist, und ich bin mir sicher, dass es etwas mit mir zu tun hat. Vielleicht sind diese Welten doch nicht so weit voneinander entfernt, sondern haften unbemerkt aneinander. Die Natur hat ihre eigenen Gesetze, vielleicht habe ich eines davon verletzt.

Ich war stur und habe mich gegen alles aufgelehnt, was von mir verlangt wurde. Vielleicht habe ich dadurch eine natürliche Linie unterbrochen. Ich hatte immer ein gutes Verhältnis zu der Natur. Nun fordert sie mich heraus. Aber es ist nicht der richtige Zeitpunkt. Meine Kräfte sind am Limit.

Ich weiß nicht mehr, was richtig ist und was nicht. Ich versuche Fehler zu vermeiden, indem ich keine Entscheidungen mehr fälle. Dadurch entscheiden andere für mich und lenken die Ereignisse somit in ihre Richtung.

Ich weiß einfach nicht, wem ich noch vertrauen kann. Noch nicht einmal bei Großmutter bin ich mir sicher. Sie betont zu oft, wie ähnlich ich ihr bin. Aber bin ich das wirklich? Will ich das überhaupt? Wäre ich eine schlechte Enkelin, wenn ich andere Entscheidungen treffen würde?

In mir ist etwas, das so groß ist. Es ist ehrlich, pur. Ich dachte immer, dass dies nur die guten Geschöpfe von sich behaupten können. Menschen oder Wesen mit schlechter Gesinnung dürften so etwas nicht, glaubte ich. Nun musste ich jedoch die Erfahrung machen, dass man in dem Moment, wo man reinen Herzens eine Entscheidung trifft, auch gleichzeitig enormen Schaden anrichten kann. Das war mir bis dahin nicht bewusst.

Hätte man mich im gleichen Augenblick gefragt, ob es eine gute und ehrliche Entscheidung ist, hätte ich aus tiefster Überzeugung mit »Ja« geantwortet. Was ich mit dem Entschluss, einen Zauber zu benutzen, wirklich anrichtete, habe ich erst viel später bemerkt. Ich weiß also nicht mehr, was der Unterschied zwischen Gut und Böse ist.

Linus hat mir gesagt, dass ich eine reine Seele habe. Wie es aussieht, hat er sich getäuscht. Das Dunkle in mir wird stärker und dieser Ruf macht mir im Moment leider weniger Angst, als die Aussicht, ein Leben wie Großmutter führen zu müssen. Ich muss herausfinden, was mit ihm passiert ist. Dann sehe ich weiter. Ich vermisse ihn so sehr.

J.J. schließt ihr Tagebuch und versteckt es in ihrer Tasche. In den letzten Wochen ist es zu ihrem einzigen Freund geworden. Seitdem ihre Großmutter es ihr geschenkt hat, hat sie fast täglich hineingeschrieben. Nur ihm vertraut sie ihre wahren Gedanken und Gefühle an. Dabei fiel ihr auf, dass die leeren Seiten nicht zu Ende gehen. Denn egal wie oft sie an der letzten freien Seite angelangte, wenn sie umblätterte, war wieder eine neue da.

»Manchmal sind zauberhafte Dinge eben doch sehr nützlich.«

Verträumt sieht das Mädchen zum Himmel. Sie schließt die Augen und saugt die frische Meeresluft tief ein. Dann steht sie auf und schreit los. Sie brüllt ihre ganze Wut in den Wind, damit er sie weit fortträgt. Die dunklen Worte, die sie dabei aus Versehen ausspricht, bemerkt sie nicht. Erst als neben ihr ein kleiner Busch in Flammen aufgeht, hält sie inne. Sorgsam löscht sie das Feuer und holt Luft. Vor ein paar Monaten hätte sie so etwas noch in Panik versetzt, aber nachdem sie am eigenen Leib erfahren hat, zu was Magie imstande sein kann, erschrecken sie solche Ereignisse nicht mehr.

»Dennoch sollten sie mir nicht in der realen Welt passieren.«

Das Mädchen setzt sich unter den Felsvorsprung, neben dem sie das Weihnachtspicknick veranstaltet haben, und genießt die Ruhe. Es ist ein friedlicher Moment. Lächelnd sieht sie auf das Meer.

Nach einer Weile zieht sie ihre Kapuze ins Gesicht und steckt ihre Hände in die Jackentaschen, da es zu vorgerückter Stunde doch kalt wird. Der Sommer ist endgültig zu Ende. Nun kommt die dunklere Jahreszeit zurück.

»Schade. So viel hatte ich dieses Mal nicht vom Sommer. Den größten Teil der letzten Ferien habe ich im dunklen Phad verbracht und danach … Ich hasse die ewige Dämmerung«, flüstert sie versonnen.

J.J. hält inne, da sie plötzlich etwas in ihrer Jackentasche fühlt. Sie umschließt es ganz fest und schluckt. Für ein paar Sekunden erstarrt ihr Körper und sie hat große Mühe, nicht gleich wieder zu loszuweinen.

Zögerlich holt sie den kleinen Stein heraus und betrachtet ihn. Sanft streicht sie über das Kreuz, das immer noch deutlich sichtbar ist. Sie geht ans Ufer und starrt eine Zeit lang auf die raue See. Der Stein ruht warm in ihrer Hand, scheint jedoch mit jeder Minute schwerer zu werden.

»Du bist das Zeugnis meines Versagens, meiner verlorenen Hoffnung und die unerbittliche Erinnerung, dass ich nun schwarzes Blut habe. Das ist nicht fair«, flüstert sie, während sie langsam in das Wasser hineingeht. Die kalten Ausläufer der Wellen umspülen ihre Schuhe und ihre Knöchel. Als das Wasser ihr bis an die Unterschenkel reicht, bleibt sie stehen und öffnet langsam die Hand.

»Obwohl ich dich so oft in der Hand gehalten habe, ist das Kreuz immer noch deutlich zu sehen. Ich dachte, wenn ich dich festhalte, kann ich ganz nah bei ihm sein, da ich gehofft habe, dass du uns irgendwie verbindest. Aber eigentlich hast du mich die ganze Zeit nur daran erinnert, dass er fort ist.

Ich fühle, dass er irgendwo da draußen ist. Vielleicht finde ich eines Tages tatsächlich einen Gegenzauber oder wenigstens eine Antwort, warum diese Katastrophe passieren musste. Aber ich bin nicht wie meine Großmutter. Ich kann nicht vierzig Jahre warten und mit diesem Schmerz leben. Ich lasse dich jetzt los. Ich will frei sein. Frei von der Vergangenheit und von ihm …

Ich bin jetzt Jezabel, die schwarze Prinzessin. Linus wollte mir helfen, den rechten Weg zu finden. Doch dann war ich gezwungen diesen Zauber anzuwenden, weil niemand da war und mir half. Jetzt wollen sie bestimmen, wie ich weiterlebe. Ich weiß nicht, ob ich das zulassen kann.

Genauso wenig, wie ich weiß, ob ich einem kleinen Stein die Macht geben möchte, mich den Rest meines Lebens an eine Schuld zu binden, deren Ursache ich nicht kontrollieren konnte. Ich akzeptiere: Du bist fort!!! Basta!«

Sie ballt ihre Hände zu Fäusten und geht noch ein Stück ins Meer hinein. Es erinnert sie daran, als sie in den Traubenperlensee gegangen ist. Das schwarze Wasser dort hatte sich gut angefühlt. Ganz warm und weich. Sie fühlte sich willkommen und vollkommen frei, obwohl sie damals auch allein war und so furchtbare Angst um ihn hatte.

Dieses Wasser hier ist eiskalt und die Wellen prallen hart gegen ihre Beine. Trotzdem geht sie immer weiter und sieht hasserfüllt in den Himmel.

»Du bist nichts! Brüll mich ruhig weiter mit deinem vergifteten Atem an! Das wird nichts ändern. Du weißt nichts!«, schreit sie dem Sturm entgegen. »Und, macht es Spaß, ein Mädchen zu verhöhnen? Meinst du, das macht mir Angst? Ich habe schon ganz andere Dinge erlebt!«, brüllt sie wie von Sinnen weiter.

Da hält der Wind plötzlich inne und die Wogen glätten sich, bis das Meer ganz ruhig vor ihr liegt. Das Wasser reicht ihr mittlerweile bis zu den Oberschenkeln.

J.J. sieht sich verwirrt um.

»Was passiert hier?«, stottert sie verwirrt.

Plötzlich überkommt sie das eigenartige Gefühl, dass sie jemand beobachtet, kann jedoch niemanden entdecken. Der Strand ist menschenleer und es sind auch keine Fischerboote in der Nähe.

»Es ist das Meer! Ich kann es fühlen. Irgendetwas stimmt nicht«, flüstert sie.

Sie streicht sanft über die Wasseroberfläche und betrachtet verstört ihre nassen Finger. Das Wasser auf ihrer Hand verfärbt sich. Es wird schwarz!

Erschrocken tritt sie zurück und schleudert den Stein mit hasserfüllter Miene aufs Meer hinaus.

»Ich will dich nicht! Ich wollte dich nie! Lasst mich alle in Ruhe!«, schreit sie ihm nach.

Als der Stein die Wasseroberfläche berührt, setzt das Wasser sich wieder in Bewegung. So gewaltig und unerwartet, als hätte jemand einen Knopf gedrückt. Um den Stein bildet sich ein gewaltiger Strudel, der ihn wildbrausend in die Tiefe reißt. Dann beginnt das Meer zu murmeln. Dunkle Worte dringen vom Meeresgrund, die J.J. zwar nicht versteht, deren Ursprung sie aber erahnen kann. Sie ist wie erstarrt. Mit aufgerissenen Augen beobachtet sie das Spektakel.

»Das darf nicht wahr sein!«, denkt sie entsetzt, als sich das Wasser um sie herum plötzlich wütend auftürmt und der Sturm mit brachialer, ungeheuerlicher Kraft zurückkommt. Das Mädchen hält sich die Ohren zu und presst den Mund fest zusammen, da diese Gewalt ihr buchstäblich den Atem raubt.

Im nächsten Augenblick zieht sich das Meer zurück, um sich unweit von ihr zu einer kolossalen Wasserwand aufzutürmen. Dann verdunkelt sich der Himmel. Schwarze, tief hängende Wolken schließen sich zu gewaltigen Armeen zusammen und schreiten entschlossen auf sie zu.

Mittlerweile ist es so stürmisch, dass sich J.J. nicht mehr auf den Beinen halten kann. Vor Angst gelähmt liegt sie im Schlamm und sieht dem monströsen Schauspiel zu.

»Hilfe. Ich brauche Hilfe!«, flüstert sie ängstlich, während sie schockiert auf die gigantische Wasserwand starrt, die unaufhaltsam auf sie zuwandert. Als dann auch noch riesige Blitze aus dem Wasser geschossen kommen, die krachend in den pechschwarzen Himmel fahren, ist sie sich endgültig überzeugt, dass dieses Phänomen nicht weltlicher Natur ist.

J.J. versucht aufzustehen, um zu fliehen. Aber der Sturm drückt sie immer wieder zurück. Da passiert etwas Ungeheuerliches.

Aus der Wasserwand löst sich ein gigantisches Relief, das mit immenser Geschwindigkeit auf sie zugerast kommt. Dem Mädchen bleibt vor Schreck fast das Herz stehen.

Während diese seltsame Welle auf sie zurollt, verformt sie sich zu einem bekannten Gesicht, das sie dämonisch angrinst. J.J. kann nicht glauben, was sie da sieht.

»Das muss eine Halluzination sein! Was hier gerade passiert, darf nicht sein«, stottert sie fassungslos. Es ist Sander, der Fährmann vom Traubenperlensee! Geformt aus Wasser schreitet der Dämon in ihre Richtung.

»Das ist die reale Welt! Kein Dämon darf sich hier ungerufen zeigen«, schreit sie ihm entsetzt zu, während sie verzweifelt versucht, vom Ufer wegzukriechen.

»Jezabel! Warum die Eile? Ich dachte, wir wären Freunde. Du kannst dich nicht ewig in der realen Welt verstecken! Es ist deine Bestimmung! Verstehst du das nicht? Je länger du dich hier verkriechst, um so mehr verblassen die Grenzen, weil andere deine Pflichten übernehmen. Es ist dein Schicksal, dieses Gleichgewicht aufrecht zu erhalten. Du musst das große Ganze sehen. Auch die Unsrigen verzehren sich nach deiner Macht, dunkle Herrscherin. Die Zeit eilt!«

Die Stimme von Sander ist laut, aber genauso ruhig und betörend wie damals, als sie ihm beinahe die Seele ihrer Großmutter verkauft hätte.

Das Mädchen liegt auf dem schlammigen Boden und sieht mit aufgerissenen Augen auf den Wasserkoloss, der auf sie zugerollt kommt. Kurz bevor es das Mädchen erreicht, löst sich das Wassermonster plötzlich auf und schwappt als riesige Welle auf sie zu.

J.J. versucht verzweifelt aufzustehen, aber der Sturm drückt sie weiterhin zu Boden. Mit geballter Kraft dreht sie sich um, und versucht auf allen Vieren vom Strand wegzukriechen. Doch da hat die Welle sie schon erreicht.

Im letzten Moment packt sie jemand am Arm und zerrt sie unter einen Felsvorsprung, der kurz darauf überflutet wird. Als das eiskalte Wasser sich wieder zurückgezogen hat, schnappt das Mädchen mit letzter Kraft nach Luft. Panisch sieht sie zu Broaf, der ebenfalls durchnässt, mit angsterfüllter Miene hinter ihr kauert und sie festhält.

Das Mädchen starrt zum Ufer, wo ihre Großmutter bis zur Hüfte im Wasser steht. Ihren alten Hexenbesen weit in die Höhe gestreckt, brüllt die alte Dame ein paar dunkle Verse, die ihr allerdings nicht mehr gehorchen. Besorgt beobachtet der Diener, wie sich neue Wellen bedrohlich auftürmen und nun auf Vettel zurasen, die trotzdem entschlossen im Wasser stehen bleibt und immer lauter ihre alten Zaubersprüche brüllt. Rosinante hat jedoch eine neue Herrin, daran ändert auch diese Situation nichts. Als J.J. das endlich begreift, löst sie sich aus Broafs Umklammerung und rennt zu ihrer Großmutter. Ohne zu überlegen, reißt sie ihr den Hexenbesen aus den Händen und brüllt: »Stabigo!«

Das Mädchen bemerkt, wie sich ihre Stimme verändert. Dunkel und laut donnert sie los. Ihre Angst ist plötzlich wie weggeblasen. Sie stemmt ihre Füße in den Sand und wartet, bis sich der Besen in das mächtige Zepter verwandelt hat. Dann befiehlt sie ihrer Großmutter, zu Broaf unter den Felsvorsprung zu gehen. Der Diener steht jedoch bereits hinter ihnen und zerrt die keifende Vettel mühsam von J.J. weg. Diese streckt das Zepter in die Höhe und konzentriert sich. Mit geschlossenen Augen beginnt sie zu murmeln:

»Ich rufe den Sturm und den donnernden Blitz! Nur ich bin eure Gebieterin und nur ich kann euch rufen! Kommt an meine Seite und bringt mir die dunklen Schatten!«

Prompt reißt der Boden unter ihren Füßen mit einer solchen Wucht auf, dass es das Mädchen einige Meter nach hinten schleudert. J.J. rappelt sich schnell wieder hoch und beginnt den Sturm zu dirigieren, der sich brüllend um sie herumwindet. Als die keuchenden Schatten aus dem Boden gekrochen kommen, beginnt sie zufrieden zu lächeln. Sie fühlt sich befreit, so als könne sie seit drei Monaten das erste Mal wieder ausatmen.

Mit verachtender Miene erhebt J.J. die Hand, worauf die dunklen Wesen sich tief vor ihr verneigen, bevor sie kreischend in den Sturm springen, um in großen Bögen um sie herumzutanzen. Dann beginnt der Boden unter J.J. zu brennen. Diese Feuersbrunst ist so gewaltig, dass Rosinante zu zittern beginnt.

»Fju! If Aquorius si tei. Nomo fi du ruhx. Goromdai! I fju! Goromdai!«, brüllt J.J. mit dämonischer Stimme, während ihre Augen sich verdunkeln, was ihre Großmutter Gott sei Dank nicht sehen kann. Die alte Dame sitzt leichenblass unter dem Felsvorsprung und kreischt ihr irgendetwas zu. Aber das Mädchen kann sie nicht verstehen. Sie hört nur noch, wie Oma Vettel ein lautes »Allmächtiger!« brüllt, als die Erde zu beben beginnt.

Eine gigantische Gestalt zieht sich stöhnend aus dem Sand, deren Augen lichterloh brennen. Dieser Sandriese hat große, spitze Dornen, die sich von den Schultern bis zur Schwanzspitze hinabziehen. Ungeduldig und rasend vor Wut schlägt er damit auf den Boden und wirbelt gewaltige Mengen an Matsch und Sand auf.

Während Broaf und Oma Vettel entsetzt loskreischen, betrachtet J.J. das Geschöpf mit Genugtuung. Genau wie in jenem Augenblick, als Fjigor in die Arena kroch.

»Goromdai! Hol dir Sander!«, befiehlt sie dem Sandriesen mit dämonischer Stimme.

Das Monster brüllt und schlägt zornig mit der Faust auf den Boden, als sie den Namen des Fährmanns erwähnt.

Während er in der dunkelsten aller Sprachen spricht, gleitet Goromdai in das Meer und wird mit jedem Atemzug größer und größer. Als der Gigant die nächste Monsterwelle erreicht, überragt er diese bereits haushoch.

Oma Vettel sitzt unter dem Felsvorsprung und spuckt Gift und Galle. J.J. ignoriert sie und sieht dem Sandgeschöpf entspannt hinterher. Als der Koloss explodiert und die gewaltigen Sandmassen die Welle unter sich begraben, beginnt die Erde erneut zu beben.

J.J. steht unberührt am Ufer und beobachtet, wie sich das Wasser langsam zurückzieht. Ihre Großmutter und der Diener hocken mit offenen Mündern unter dem Felsvorsprung und starren das Mädchen entsetzt an.

Dann zieht der Sturm sich zurück und plötzlich ist es so still, als hätte jemand den Ton abgestellt. Noch ehe sie begreifen, was hier vorgeht, lässt ein markerschütternder Schrei die Drei zusammenzucken. Das Meer treibt Goromdais Stimme ans Ufer, der in den Tiefen des Meeres dämonische Verse murmelt, die Sander schier unerträgliche Qualen zu bereiten scheinen, denn der Fährmann wimmert in dunkler Sprache um Gnade.

J.J. betrachtet derweil mit schmerzverzerrtem Gesicht ihre Hände. Rosinante vibriert so heftig, dass sich auf den Innenflächen schon Blasen bilden. Der Hexenbesen wehrt sich entschlossen gegen diese Art der Magie und versucht sich aus den Händen des Mädchens zu befreien.

Mit verachtender Miene stemmt das Mädchen das Zepter in den Sand:

»Ich bin deine Herrin! Es ist zu Ende, wenn ich es dir befehle! Meine getreuen Diener: Nehmt diese Kreaturen und bringt sie dem Falken!«

Diese Worte, die verachtend und dunkel aus dem Mund des Mädchens donnern, lassen Broaf und Vettel den Atem stocken. Mit aufgerissenen Augen sehen sie zu, wie die dunklen Schatten in das Meer stürzen und kurz darauf mit zwei glühenden Körpern, die sich wild in ihren Klauen winden, wieder emporsteigen.

Während J.J. dem Treiben gelassen zusieht, beginnt Rosinante zu rotieren, sodass das Mädchen große Mühe hat, das Zepter in ihren Händen zu halten. Mit eiskaltem Blick hält sie es vor ihren Körper, während die grüne Kugel die kreischenden Kreaturen einsaugt.

»Du bist nur ein Dämon! Nichts als ein gewöhnlicher Dämon«, spricht sie verachtend, während Sanders Körper im Sog des dunklen Wirbels verschwindet.

Als die grüne Kugel innehält, fällt Rosinante wie vom Blitz getroffen zu Boden.

Die dunklen Wolken lösen sich schlagartig auf und der Sturm wandelt sich zu einer leichten Brise. J.J. steht bis zu den Oberschenkeln im Meer, das nun ruhig vor ihr liegt, und erwacht nur langsam aus ihrer Trance.

Broaf springt hoch und zieht das erstarrte Mädchen mühsam ans Ufer. Oma Vettel stapft wütend an ihnen vorbei und sucht Rosinante. Schnaubend holt sie den Reisigbesen aus dem Wasser.

»Das ist eine Schande! Sechshundert Jahre hat Rosinante uns treu gedient und du benutzt sie für deine Spielchen. Und obendrein vergisst du sie einfach im Meer! Du solltest gut auf sie aufpassen, Jezabel«, schimpft Oma Vettel empört los und trägt den Besen wie ein Kleinkind zu dem Felsen.

J.J. kniet im Sand und sieht verwirrt zu ihrer Großmutter, die nun wütend auf sie zugestapft kommt.

»Hast du den Verstand verloren? Was hast du dir dabei gedacht? Nein. Halt! Ich will überhaupt nicht wissen, was hier gerade passiert ist. Wahrscheinlich musstest du deinen verrückten Emotionen wieder freien Lauf lassen und hast mit ein paar alten Versen herumgespielt!«, schreit Oma Vettel vollkommen außer sich los.

Broaf hält beschwichtigend die Hand gegen die wütende alte Dame und zieht J.J. ein Stück näher zu sich heran.

»Wir sollten uns erst einmal beruhigen, Vettel. Das war gerade außerordentlich anstrengend für uns alle und wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, mehr als gefährlich. Nicht nur für uns, sondern auch für die anderen Bewohner von Havelock! Jezabel, wie konntest du nur in aller Öffentlichkeit solche Geschöpfe herbeirufen? Das war keine gewöhnliche dunkle Magie. Das war der Vorhof zur Hölle!«, sagt er entsetzt. Obwohl der Diener immer noch am ganzen Leib zittert, versucht er ruhig und sachlich zu sprechen.

J.J. rappelt sich auf und sieht die beiden wütend an.

»Das glaubt ihr also? Ihr glaubt, dass ich das war? Ihr denkt, ich bin hier am Strand herumspaziert und habe aus Langeweile Sander in die reale Welt gerufen?«, brüllt sie los.

Als sie den Namen des Sirenendämons erwähnt, verdunkelt sich Oma Vettels Gesicht noch mehr. Entsetzt reißt sie die Augen auf.

»Sander? Das war der Fährmann vom Traubenperlensee? Das kann nicht sein, Jezabel! Erstens kommt ein Dämon niemals ungerufen in die reale Welt! Niemals! Und zweitens würde Sander den Traubenperlensee nicht unbewacht lassen! Warum sollte gerade ER die Grenzen überschreiten?

Das glaube ich nicht! Du lieber Himmel, sie hat den Fährmann vernichtet … Mit Rosi …«, flüstert Vettel entsetzt.

J.J. erkennt eine explosive Mischung aus Furcht und Abscheu im Gesicht ihrer Großmutter, gemischt mit tiefstem Misstrauen.

Verzweifelt reißt das Mädchen die Arme in die Höhe. So als wenn sie ihr beweisen will, dass sie unbewaffnet ist.

»Das weiß ich auch, Großmutter! Aber ich schwöre, dass ich ihn nicht gerufen habe! Ich bin nur ins Meer gegangen, um Linus’ Stein hineinzuwerfen! Da ist es plötzlich passiert. Das Wasser wurde schwarz und hat sich aufgetürmt. Dann ist Sander darin erschienen und auf mich losgegangen. Warum glaubst du mir nicht?«

J.J. sieht ihre Großmutter böse an und schnaubt. Tränen laufen ihr über die Wangen, die sie wütend wegwischt.

Das Mädchen weiß, dass sie unschuldig ist. Also gibt es auch keinen Grund zu weinen!

Oma Vettel stemmt entrüstet die Hände in die Hüfte und schüttelt energisch den Kopf.

»Es tut mir leid, aber das kann nicht die Wahrheit sein, Jezabel. Auch wenn ich es gern glauben möchte! Sollte nämlich stimmen, was du mir da so lapidar erzählst, hätten wir weitaus größere Probleme, als ich gedacht habe. Dann wäre etwas im Gange, was unsere grausamsten Ängste überträfe. Was wollte er von dir?«, fragt sie ungläubig, während sie ihre Enkelin fixiert, als wolle sie herausfinden, ob das Mädchen sie anlügt.

J.J. bemerkt das natürlich und senkt beschämt den Kopf.

»So ganz genau weiß ich es auch nicht. Ich war selbst geschockt, als er auf mich zugerast kam. Ich kann mich nur erinnern, dass er sagte, ich sei schuld, dass die Grenzen verschwimmen.«

Ihre Stimme bricht ab. Die Situation ist brisant genug. Deshalb beschließt das Mädchen, ihrer Großmutter nicht alles zu erzählen, was Sander sagte, da sie befürchtet, dass ihre Großmutter und Broaf sie dann noch energischer zu einer Entscheidung drängen würden. Außerdem ist sie im Moment stinksauer auf Oma Vettel und hat keine Lust mit ihr zu reden.

Diese sieht entsetzt zu Broaf und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen.

»So ein Mist. Was sollen wir nur tun, Broaf?«, fragt sie hilflos.

Das letzte Mal, als der Diener sie so erlebt hat, war die Nacht, in der Timothey und Cassy den schrecklichen Autounfall hatten. Er steht auf und zieht J.J. vorsichtig hoch.

»Wir sollten die Brandspuren entfernen und schnellstens von hier verschwinden. Wir müssen herausfinden, inwiefern die Menschen etwas von diesem Vorfall mitbekommen haben. Ich mag mir nicht vorstellen, wie Darania darauf reagiert, wenn sie davon erfährt. Und ich bin mir sicher, dass sie das wird! Ich denke, uns gehen langsam die Möglichkeiten aus!«, flüstert der Diener ratlos.

Nachdem sie die Spuren der Beschwörung weitestgehend beseitigt haben, setzen sie sich vollkommen erschöpft in den Wagen und fahren zurück auf das Anwesen. Während der Fahrt redet niemand ein Wort. J.J. starrt stur aus dem Fenster und hofft, dass dies alles nur ein schrecklicher Irrtum war. Aber die Tatsache, dass sie Rosinante benutzt hat, um einen Dämon zu rufen, um daraufhin zwei solcher Kreaturen zu vernichten, lässt ihrer Großmutter keine Ruhe.

»Ich muss schon sagen, du hast ganz schön was zu bieten, junge Dame! Dieses Sandding war zwar gruselig, aber außerordentlich respekteinflößend. Was mich allerdings immer noch stört, ist die Tatsache, dass du alle Probleme nur mit Dämonenzauberei löst! Auch wenn du das mit der Seele dieses Mal geschickt angestellt hast. Sie dem Falken zum Fraß vorzuwerfen, war meines Erachtens aber eine Nummer zu groß für dich! Ich denke, das wird uns erst richtige Probleme bringen! Den Rest mag ich mir gar nicht vorstellen.

Sander war schon immer der Fährmann am Traubenperlensee. Er ist wichtig für Xestha. Versteh mich richtig, Jezabel. Sander und der Traubenperlensee sind ein Geschöpf. Wenn der Fährmann plötzlich fehlt, dann stürzt das Gleichgewicht. Ich mag mir überhaupt nicht ausmalen, was passiert, wenn die Kreaturen des Traubenperlensees sein Verschwinden bemerken. Er hat sie beschützt und gefüttert.

Nun ist etwas ins Rollen geraten, dessen Ausmaß ich nicht mehr einschätzen kann. Jezabel, ich bin zum ersten Mal seit sehr langer Zeit ratlos. Ich weiß nicht, ob wir unter diesen Umständen noch große Chancen haben, uns mit Darania zu einigen. Auch wenn ich immer noch nicht begreife, wieso Sander diese Grenze ungerufen überschritten haben soll. Bist du dir sicher, dass du nicht aus Versehen, ganz unbewusst einen Anrufungsvers gemurmelt hast?«

Oma Vettel sieht ihre Enkelin fragend, hoffnungsoll und flehend zugleich an.

Das Mädchen sitzt wie ein Häufchen Elend am Ende der Eckbank und schüttelt verzweifelt den Kopf.

»Ich habe es euch doch schon fünf Mal erzählt. In diesem Moment habe ich nicht einmal über das Zaubern nachgedacht! Ich habe nur den Stein in das Meer geworfen. Als Ritual, um mit der Vergangenheit abzuschließen, und plötzlich ist das alles losgegangen. Das Wasser wurde schwarz, der Himmel auch und dann kam diese Wasserwand auf mich zu. Aber selbst in diesem Moment habe ich noch nicht ans Zaubern gedacht! Erst als ich dich mit Rosinante im Wasser stehen sah, ist mir eingefallen, dass du sie nicht mehr benutzen kannst. Da bin ich zu dir gerannt, weil ich Angst um dich hatte. Den Rest wisst ihr ja!«

Genervt verdreht sie die Augen und holt tief Luft.

Oma Vettel läuft nervös in der Küche herum und seufzt ununterbrochen.

»Ja, das war auch für mich ein seltsames Gefühl. Das mit Rosi, meine ich. Ich war es so gewohnt, dass ich mit ihr große Zauber vollenden kann, dass ich überhaupt nicht darüber nachdachte, dass sie eine neue Herrin hat. Erst als ich mit ihr im Meer stand, habe ich realisiert, dass sie nicht mehr zu mir gehört. Wenn ich gewusst hätte, wozu …« Ein tiefer Seufzer entfährt der ehemaligen, dunklen Hexe, »Na ja, das kann ich alles nicht mehr ändern! Ich finde es trotzdem unmöglich, wofür du sie dort am Strand benutzt hast!«

J.J. sieht ihre Großmutter traurig an.

»Wieso seid ihr eigentlich am Strand gewesen? Du warst doch gerade mal eine Stunde bei Iris«, fragt das Mädchen neugierig nach.

»Tja, als Henry, Iris’ Ehemann nach Hause kam und uns ganz aufgeregt erzählte, dass eine seltsame schwarze Wolkenwand Richtung Strand zieht, war mir sofort klar, dass wieder etwas im Busch ist. Immerhin hatten wir dich erst eine Stunde zuvor dort abgesetzt. Ich hatte auch schon alles Interessante mit Iris besprochen. Es geht ihr übrigens ausgezeichnet! Keine Probleme, keine Sorgen!

Also habe ich mich höflich von ihr verabschiedet und bin mit Broaf losgefahren. Wir haben schon von Weitem den Schlamassel gesehen. Ich glaube, Broaf ist noch nie so schnell gefahren wie heute. Ein Wunder, dass du nicht gesehen wurdest«, antwortet ihre Großmutter, bevor sie mit deutlicheren Worten fortfährt.

»Was da am Strand passiert ist, war gefährlich, dumm und verantwortungslos. Schon als ich diese Monsterwelle sah, wusste ich, dass dieses Versteckspiel ein Ende haben muss. Es wird Zeit, dass du Verantwortung übernimmst, Jezabel. Du bist jetzt alt genug, um solche Fehler vermeiden zu können.

Es ist ja auch zu einfach, nicht wahr? Du lebst dein tugendhaftes, beschütztes Leben in der realen Welt, aber sobald sich ein Problem auftut, schwingst du deinen Hexenbesen und löst es mithilfe von Dämonen. Du musst dich entscheiden! So wie ich es auch tat. Das Leben in Rosaryon ist auch nicht jeden Tag ein Jahrmarkt. Ich muss mich ebenfalls den Gesetzen Marlas unterwerfen. Mit diesen unüberlegten Dingen, die du da tust, gefährdest du allerdings auch meine Zukunft! Hätte Rosinante am Strand auf mich gehört, dürfte ich jetzt nicht zu Konrad zurückkehren!«

Das Mädchen starrt ihre Großmutter geschockt an. Sie hatte überhaupt nicht mehr daran gedacht, dass Vettel durch die Anwendung dunkler Zauber gegen ihre Auflagen verstoßen würde.

Da klingelt das Telefon.

Erschrocken sehen sich die Drei an. J.J. befürchtet, dass sie jemand gesehen haben könnte, und beginnt vor Angst zu zittern. Ihre Großmutter räuspert sich kurz und nimmt eilig den Hörer ab. Am anderen Ende befindet sich Iris und erkundigt sich besorgt, ob sie gut nach Hause gekommen sind.

»Ja, wir sind heil nach Hause gekommen, Iris. Das war sicherlich nur eines dieser modernen Wetterphänomene. Das ist doch nichts Unnatürliches für Neuseeland. Weißt du noch, wie es vor ein paar Jahren plötzlich angefangen hat zu schneien, als wir am Strand gepicknickt haben?

Wie bitte? Nein, wir haben keine Monsterwelle gesehen!

Ja, es waren ein paar dunkle Wolken am Himmel. Aber keine Sorge, J.J. war längst zu Hause, als wir ankamen. Sie ist mit einer Bekannten zurückgefahren, als der Wind zu stark wurde.

Hm, hm, hm …

Nein, davon habe ich noch nichts gehört.

Ja, ich reise morgen wieder ab. Es hat mich auch sehr gefreut, dich endlich wiederzusehen! Alles Gute, meine Liebe!«

Sie knallt den Hörer auf und schnaubt.

»Dieses Mal ist es nicht unbemerkt geblieben. Das ganze Dorf ist in Aufruhr. Sie haben die Welle gesehen und sind beunruhigt, weil die Erde gebebt hat. Ein paar Fischer waren auf See und haben das Spektakel beobachtet. Der Sandsturm hat sie völlig aus der Fassung gebracht. Das ist eine Katastrophe!

Wenn Sander die Grenzen überschreiten konnte, dann tun es andere Geschöpfe ebenfalls. Das darf nicht passieren! Ich werde sofort Vivellia kontaktieren. Ich muss wissen, was in Xestha vor sich geht.«

Ohne weiteren Kommentar verlässt Oma Vettel wütend die Küche.

J.J. bleibt zurück und versucht die Ereignisse zu sortieren. Broaf stellt ihr eine Limonade hin und setzt sich neben sie.

»Jetzt gleitet uns alles aus den Händen. Jezabel, wir müssen handeln! Es steht viel zu viel auf dem Spiel. Sobald deine Großmutter morgen abgereist ist, werden wir uns einen soliden Plan erstellen! Ich bitte dich inständig, solange auf dunkle Zauber zu verzichten.«

Der Diener drückt kurz ihre Hand und verlässt ebenfalls die Küche.

J.J. geht hinauf in ihr Zimmer und schmeißt sich aufs Bett. Lincoln kuschelt sich zu ihr und wimmert.

»Was ist denn passiert?«, fragt der Halfie leise.

Das Mädchen zuckt genervt mit den Schultern.

»Ich war am Strand und wollte Linus’ Stein ins Meer werfen, als plötzlich eine Monsterwelle aufbrach und Sander ausspuckte. Daraufhin ist schlagartig die Hölle ausgebrochen. Der Himmel über dem Strand wurde schwarz, Blitze kamen aus dem Wasser geschossen und dieser Dämon kam auf mich zu.

Großmutter und Broaf kamen, als die Wellen mich gerade verschlingen wollten. Da Rosinante nicht mehr auf sie hört, habe ich das übernommen und einen Sanddämon gerufen, der Sander vernichtet hat. Mitten am Tag, in der realen Welt. Problem gelöst, zwei Neue erschaffen! Die Einwohner haben die schwarze Wolkenwand gesehen. Jetzt haben wir richtige Probleme«, erzählt sie ihm gereizt.

Lincoln starrt das Mädchen entsetzt an.

»Ein Dämon hat sich in der realen Welt gezeigt? Ungerufen? Das kann ich nicht glauben«, flüstert der kleine Halbtagshund erschrocken.

J.J. dreht sich genervt weg und winkt ab.

»Ich weiß. Aber so war es! Großmutter glaubt mir auch nicht. Eigentlich hofft sie, dass ich Sander gerufen habe, damit sie einen Sündenbock haben. Ich habe ihn aber nicht gerufen! Er hat mir dort aufgelauert!

Ich weiß nicht mehr weiter. Ich stecke da viel zu tief drin. Darania wird mich niemals gehen lassen!«

Lincoln sieht sie erschrocken an, erspart sich aber einen Kommentar. Beunruhigt legt er sich neben sie und starrt nachdenklich in den Raum.

J.J. zieht sich die Bettdecke über den Kopf und schluchzt.

Es ist schon sehr spät in der Nacht, als sie hochschreckt. Der Sirenenton dröhnt durchs Haus, was ihr augenblicklich eine Gänsehaut einjagt.

Lincoln liegt neben ihr und schnarcht.

»Dass du immer schlafen kannst, wenn etwas Wichtiges passiert«, flüstert sie und hüpft aus dem Bett, da sie befürchtet, dass ihr Erlebnis am Strand nun ernsthafte Konsequenzen nach sich zieht. Warum sollte sonst, mitten in der Nacht die Sirene losgehen?

Auf Zehenspitzen schleicht J.J. in den Flur und lugt über das Treppengeländer. In der unteren Etage brennt Licht, also ist schon jemand auf. Als sie die aufgeregten Stimmen ihrer Großmutter und des Dieners hört, schleicht sie neugierig ein Stück nach vorn, um nachzusehen, was da unten vorgeht.

»Ein neuer Bewohner?«, denkt sie, als sie die geöffnete Kellertür bemerkt. Sie versteckt sich schnell hinter dem Geländer und horcht. Neben Oma Vettels Gezeter kann sie noch eine weitere Stimme hören, die ihr bekannt vorkommt. Sie weiß nur noch nicht, zu wem sie gehört.

»Es ist uns immer wieder eine große Freude, einen neuen Bewohner begrüßen zu dürfen. In den letzten Monaten scheinen die Halfies den Ausgang nicht so oft zu finden. Das hat uns schon große Sorge bereitet. Aber jetzt gehen wir zuerst in die Küche und unterhalten uns bei einer schönen Tasse Tee!«, hört J.J. ihre Großmutter sprechen.

Sie schleicht ein Stück nach vorn, kann aber nur noch sehen, wie Broaf um die Ecke verschwindet. Nun ist sie doch neugierig. Da J.J. sicher ist, dass sie die Stimme des Neuankömmlings kennt, möchte sie nun auch wissen, zu wem sie gehört. Auf Zehenspitzen huscht das Mädchen die Treppe hinunter und schielt in den Gang.

Die Küchentür ist geöffnet, sodass sie sehen kann, wie Broaf ein Glas Bier einschenkt.

Empört schüttelt sie den Kopf, da sie es nicht mag, wenn der Diener trinkt, als diese bekannte Stimme sich wieder meldet. Da fällt es ihr wie Schuppen von den Augen und sie erinnert sich, zu wem sie gehört.

»Vielen Dank für das Bier! Es tut mir leid, wenn ich euch Umstände bereite, aber von Tee bekomme ich immer Sodbrennen. Ja, ich kann es selbst kaum fassen, dass ich diese WC-Schüssel gefunden habe. Ich hatte mich längst damit abgefunden, den Rest meiner Tage auf der Deponie zu verbringen, und war verwundert, als dieses Objekt plötzlich neben mir auftauchte. Ich hatte mich gerade aus dem Tor geschlichen, um mir ein ruhiges Plätzchen zum Nachdenken zu suchen. Die Zeiten im dunklen Phad sind härter geworden. Die Neuankömmlinge auf der Deponie sind sehr verstört und erzählen schlimme Geschichten. Da braucht man ab und an Abstand, um durchzuatmen.

Wenn ich ehrlich sein soll, dachte ich bis dahin, dass die Geschichten um den geheimen Ausgang nur erfunden wurden. So wie die, dass man wieder nach Hause darf, wenn man die Spiele in der Arena gewinnt«, beginnt der Neuankömmling leise zu erzählen.

»Baby Jack!«, entfährt es J.J., als sie begreift, dass es sich um den Halfie handelt, den sie nach der Bingonacht auf der Deponie zurücklassen mussten. Erleichtert läuft sie in Richtung Küche, um den kleinen Mann zu begrüßen. Als sie allerdings hört, was er als Nächstes erzählt, hält sie abrupt inne.

»In Xestha gehen viele merkwürdige Dinge vor, seitdem die schwarze Prinzessin aufgetaucht ist. Anscheinend wurden seitdem nicht nur die Regeln auf der Deponie verschärft. Die Neuankömmlinge, und das sind nicht nur Halfies, erzählen Beängstigendes. Angeblich lässt der Hexenrat die Xesthaner beschatten. Einige behaupten sogar, dass ihre Familienzepter ohne jede Begründung beschlagnahmt wurden. Gedankensteine sollen gestohlen worden sein, um deren Besitzer zu erpressen. Man munkelt, dass jeder, der sich gegen die neuen Regeln auflehnt, sofort auf die Deponie verschleppt wird.

Manche Nacht hörten wir furchtbare Schreie. Einmal habe ich aus dem Fenster gesehen, weil ich ungewöhnliche Geräusche beim Wärterturm vernahm. Was ich sah, jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken.

Skulks tummelten sich auf dem Platz und Bulk, der Wärter, diskutierte mit einem Glugg. Dann holten sie einen von uns und …

Diese Schreie werde ich niemals vergessen.

Ob die anderen Geschichten stimmen, weiß ich nicht. Ich konnte das Gelände ja kaum noch verlassen, da das Tor meist verschlossen bleibt. In letzter Zeit haben zu viele Deponiebewohner versucht, durch den toten Wald zu fliehen. Ich hätte es wahrscheinlich auch irgendwann getan, wenn ich den Ausgang zu dieser geheimen Pension nicht gefunden hätte.

Bulk hat mir letzte Woche nämlich erzählt, dass sich der Hexenrat im Geheimen auf die Amtseinführung der schwarzen Prinzessin vorbereitet. Er hat gehört, dass sie sich schon seit einiger Zeit im Amtsgebäude befinden soll und die eigentliche Ursache für diese Abscheulichkeiten sei.«

J.J. reißt die Augen auf und tritt erschrocken zurück.

Oma Vettel schlägt mit der Hand auf den Tisch und schimpft erbost los.

»Solch eine verlogene Bande! Jezabel ist nicht in Xestha! Und sie hat schon gar nicht irgendwelche schäbigen Gesetze erlassen. Was geht dort nur vor?«, brüllt sie lauthals in die Küche.

J.J. ist wie versteinert. Das war es also, was Sander ihr zu sagen versuchte:

Während sie sich hier in der realen Welt versteckt, fallen in Xestha grausame Entscheidungen unter ihrem Namen. Geschockt dreht sie um und eilt hinauf in ihr Zimmer.

So kann sie auch nicht hören, was Baby Jack nun erzählt:

»Es tut mir leid. Ich wollte euch mit meinen Sorgen nicht verärgern. Es sind doch nur Gerüchte. Auf der Deponie hat man selten die Möglichkeit, den Wahrheitsgehalt jeder einzelnen Geschichte zu prüfen. Aber als mein Freund Diggler von der Existenz dieser geheimen Pension berichtete, deren Eingang eine WC-Schüssel sein soll, glaubte ich auch, dass es nur eine Geschichte sei, die mich aufmuntern soll. Bis sie vorhin neben mir auftauchte …«

Oma Vettel stockt der Atem, während Broaf den kleinen Mann mit weit aufgerissenen Augen anstarrt und gluckst.

»Diggler lebt?«, fragt die alte Dame ungläubig. Baby Jack bemerkt die angespannte Stimmung und sieht beschämt nach unten.

»Ja. Er hat mir erzählt, dass er hier gewohnt hat. Natürlich habe ich an seinen Geschichten gezweifelt. Erst als der Ausgang neben mir auftauchte, begriff ich, dass er die Wahrheit gesagt hat. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass er und Flick die WC-Schüssel eines Tages auch finden werden«, fährt er schniefend fort. »Ich wollte sie wirklich dazuholen! Die beiden sind aber noch sehr angeschlagen und ich hatte plötzlich große Angst, dass der Ausgang in dieser Zeit wieder verschwindet.

Es war meine Chance, wisst ihr. Ich dachte, wenn die Geschichte mit der WC-Schüssel wahr ist, dann müssen die schrecklichen Geschichten, die sie über den dunklen Phad erzählen, auch wahr sein. Also bin ich schnell hineingestiegen und habe die Spülung betätigt. Ich fühle mich schlecht, weil ich einfach ohne die beiden abgehauen bin. Diggler glaubt doch so fest an seine Rettung. Er und Flick …«, flüstert er traurig, ohne zu ahnen, was er gerade getan hat.

Oma Vettel und Broaf starren ihn kreidebleich an und stoßen gleichzeitig ein lautes »Allmächtiger« aus. Es dauert ein paar Minuten, bis die beiden diese Neuigkeit verdaut haben.

»Baby Jack, du kannst dir nicht vorstellen, welch außerordentlich gute Nachricht du uns überbracht hast! Diggler und Flick sind noch am Leben! Geht es ihnen gut?«, fragt die alte Dame hektisch nach.

»Es geht den beiden so gut, wie es einem auf der Deponie gehen kann. Diggler hat erzählt, dass sie von Skulks erwischt worden sind, als sie in die reale Welt zurückkehren wollten. Kurz vorm Tor hat ihn ein Skulkstachel getroffen, der ihn schwer verletzt hat. Dass sie ihn daraufhin auf die Deponie verschleppt haben, hat er nicht mitbekommen, weil er bewusstlos war. Als er erwachte und realisierte, wo er sich befindet, hat er viele Stunden durchgeschrien. Es war fürchterlich.

Inzwischen hat er sich recht gut erholt. Trotzdem ist er sehr traurig. Ständig redet er von euch und seinem besten Freund Lincoln. Diggler glaubt unerschütterlich daran, dass ihr ihn und Flick eines Tages retten werdet. Er ist ein feiner Kerl, hat jedoch ständig Ärger mit den Wärtern, weil er die Vorratskammern plündert. Aber das macht ihm nicht viel aus. Er kann ja nichts dafür, dass er sich nachts in diese verfressene Kreatur verwandelt!

Wisst ihr, als sie ihn auf die Deponie gebracht haben, stand es wirklich schlecht um ihn. Zwei Wochen lang haben wir um ihn gebangt. Aber Flick hat sich sehr gut um ihn gekümmert, obwohl es ihn selbst schwer erwischt hat. Am Anfang durfte niemand auch nur in die Nähe von Diggler. Erst als Flick bemerkte, dass es einige Deponiebewohner gibt, die seinem Freund helfen können, hat er uns zu ihm gelassen.

Inzwischen sind beide wieder fit. Nur Digglers linke Vorderpfote ist seitdem gelähmt und Flick hat es am Bein erwischt, sodass er humpelt. Aber er hadert nicht. Er hat uns an manchen Abenden die Angst genommen, indem er fröhliche Lieder gesungen und von seiner Zeit im Orient erzählt hat, als er noch ein Prinz gewesen war …

Ja, die beiden sind am Leben. Aber ich will ehrlich sein. Ich weiß nicht, wie lange das so bleibt.

Es gibt nur noch wenige Halfies, die sich freiwillig für die Spiele in der Arena melden. Letzte Woche wollte nicht ein einziger Deponiebewohner bei der Bingonacht mitmachen. Da haben sie uns erpresst. Hubert hat es dann erwischt.«

Oma Vettel greift entsetzt nach Broafs Hand. Fassungslos schluchzt die alte Dame los. Der Diener steht auf und schenkt ein Glas Bier ein. Er starrt einige Minuten verloren auf das Getränk und bringt es zu Baby Jack.

»Diese Vorgänge sind an Grausamkeit kaum zu überbieten. Ich kann dir allerdings bei meinem Dasein versichern, dass unsere Jezabel nichts damit zu tun hat! Sie ist oben in ihrem Zimmer und schläft«, erklärt der dem verunsicherten Neubewohner und streicht Oma Vettel beruhigend über die Hand.

Währenddessen sitzt J.J. empört an ihrem Schreibtisch. Den Kopf in die Hände gestützt, flucht sie leise vor sich hin:

»Das kann doch nicht wahr sein. Darania tyrannisiert ihr eigenes Volk und benutzt meinen Titel dafür. Diese Hexe ist wirklich das Letzte! Wahrscheinlich hat sie mir auch Sander hinterhergeschickt. Und ich bin wieder darauf reingefallen. So ein Mist! Sie wird mich niemals in Ruhe lassen.

Ich muss endlich handeln! Sonst gerät mein Leben vollkommen außer Kontrolle. Wie ich diese aufgepimpte alte Hexe hasse!«

Wütend schnappt sie sich ein Blatt Papier:

Liebe Großmutter, lieber Broaf.

Ich habe mit angehört, was Baby Jack über die Ereignisse im dunklen Phad erzählt hat. Ihr hattet also recht. In Xestha geht etwas Abscheuliches vor und der Hexenrat benutzt meinen Namen, um grausame, illegale Dinge zu tun.

Das tut mir unendlich leid. Aber ich werde das nicht auf mir sitzen lassen!

Überall herrscht Chaos, weil ich mich gegen meine Bestimmung wehre. Sehen wir es ein: Es ist zwecklos! Das Schicksal hat es doch längst entschieden. Ich habe schwarzes Blut, das ich nicht mehr kontrollieren kann. Wie wir am Strand gesehen haben, bin ich für euch und die reale Welt eine Gefahr.

Deshalb habe ich eine Entscheidung getroffen: Ich stelle mich den Tatsachen und gehe in den dunklen Phad.

Ich nehme Rosinante mit.

J.J.

PS: Bitte mach jetzt keinen Aufstand, Großmutter! Geh nach Rosaryon zurück und versuch, deine Probezeit unbeschadet herumzubekommen! Es soll nicht alles umsonst gewesen sein! Denk an Großvater Konrad.

Danke für alles. Ich habe euch sehr lieb!

PPS: Ich habe Sander wirklich nicht gerufen! Das musst du mir glauben!

Sie legt den Stift zur Seite und schluckt. Dann packt sie ein paar Sachen zusammen und wartet, bis Oma Vettel und Broaf in ihre Zimmer gegangen sind.

Nachdem sie Rosinante aus der Speisekammer geholt hat, legt sie den Brief auf den Küchentisch und verlässt leise das Haus. Auf Zehenspitzen schleicht sie die endlose Einfahrt entlang, bis sie das große Tor erreicht. Dort bleibt sie ein paar Minuten stehen und grübelt. Aber egal wie oft sie über das Geschehene nachdenkt, das Ergebnis bleibt dasselbe: Ihr Blut ist schwarz und eine Lösung für ihre Probleme kann sie in der realen Welt nicht finden.

Entschlossen schwingt sie sich auf Rosinante.

»Na gut, alte Freundin. Ich bin noch nie alleine mit dir geflogen. Deshalb musst du etwas nachsichtig mit mir sein. Wir müssen nach Xestha. Der Weg ist dir bekannt. Also los, Rosie!«

Ohne zu mucken, bewegt sich der Besen sacht in die Höhe. J.J. hat trotzdem große Mühe, die Balance zu halten. Es ist das erste Mal, dass sie allein auf Rosinante fliegt, weshalb sich der Start auch ziemlich wackelig gestaltet. Ihre Unsicherheit überträgt sich unbewusst auf Rosinante, die sich ebenfalls erst einmal an ihre neue Herrin gewöhnen muss, was anfänglich noch zu einigen ungemütlichen Schlenkern führt. Nach ein paar Hundert Metern haben sich die beiden jedoch an die neue Situation gewöhnt und fliegen entspannt über die schlafende Ortschaft.

Als sie über dem Nydia-Walkway hinwegdüsen, fühlt sich J.J. sogar so gut, dass sie Rosinante übermütig die Sporen gibt. Ehrfürchtig starrt sie auf das Tor nach Xestha, welches sich dieses Mal tatsächlich ohne Umschweife öffnet, als sie den Weiher überqueren.

Mit klopfendem Herzen fliegt sie in den dunklen Phad und zügelt erst kurz vor dem Trollwald die Geschwindigkeit. Stöhnend steigt sie von Rosinante, da die ungewohnte Haltung während des Fluges einen unschönen Wadenkrampf zur Folge hat.

Vorsichtig sieht sie sich um und ist erstaunt, dass sie dieses Mal kaum Probleme hat, sich an die ewige Dämmerung zu gewöhnen. Sie lehnt Rosinante an einen Baum und massiert ihre Unterschenkel.

»Ist nicht böse gemeint, Rosi, aber dieses Fliegen macht mich fertig. Es ist mir ein Rätsel, wie Großmutter das über Hunderte von Kilometern durchhält. Puh, schon besser. Wir sollten zusehen, dass wir von hier wegkommen. Ich habe nämlich keine Lust, auf einen Troll zu treffen.«

Entschlossen nimmt sie den Besen in die Hand und sieht sich nachdenklich um.

»Ich habe keine Ahnung, wohin ich gehen soll. Die einzige dunkle Hexe, die meines Erachtens keinen Groll gegen mich hegt, ist Hexe Vivellia. Aber die ist die beste Freundin von Großmutter, also bin ich mir nicht sicher, ob ich ihr trauen kann.

Ist es eigentlich mein Schicksal, das ich mich jedes Mal heimlich in dieses Zauberreich schleichen muss?

Was soll’s. Sie wollten, dass ich mich entscheide, und das habe ich getan!«, raunt sie Rosinante zu.

»Bring mich zum Zentrum. Ich denke, dort sollten wir uns als Erstes umsehen«, spricht sie leise und streicht dem Besen beruhigend über den Stiel. Seit der Begebenheit am Strand ist ihr aufgefallen, dass Rosinante ihre Befehle zwar ausführt, dabei jedoch leicht vibriert. So, als hätte der Besen Angst, dass das Mädchen wieder einen Dämon beschwören will.

Auch dieses Mal scheint der Plan dem Hexenbesen nicht geheuer zu sein. Bevor Rosinante langsam nach oben steigt, beginnt sie stark zu zittern. J.J. klopft ihr ermutigend auf den Stiel und verspricht, dass sie gut auf sie aufpassen werde.

Dann fliegen sie über den Trollwald hinweg, in Richtung Zentrum. Angst hat J.J. nicht. Im Gegenteil, je tiefer sie in den dunklen Phad hineinfliegen, desto wohler fühlt sie sich. Auf eine seltsame Art und Weise fühlt sie sich plötzlich frei.

Die kuriosen Abenteuer der J.J. Smith 02: Die schwarze Prinzessin

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