Читать книгу Der Spalt: Wie mich – 24, schlank, sportlich, Nichtraucherin – der Schlag traf. - Meike Mittmeyer-Riehl - Страница 11
Kapitel 4: Das Pochen im Ohr
Оглавление„Stellen Sie sich doch vor, lieber Herr Kollege,
man nähme uns beim Wort!
Dann müssten wir ja springen!
Brr, das Wasser ist so kalt! Aber keine Bange!
Jetzt ist es zu spät, es wird immer zu spät sein.
Zum Glück!“
Albert Camus – „Der Fall“ 7
Ab dem zweiten Tag auf der Stroke Unit durfte ich überhaupt nicht mehr aufstehen, auch nicht aufs Klo gehen. Ich weiß nicht, warum ich es am ersten Abend noch gedurft hatte und jetzt nicht mehr, aber es half ja nichts. Es gab noch nicht mal einen Fernseher im Zimmer, und mir war unfassbar langweilig. Dennis, meine Eltern, mein Bruder und Freunde kamen zwar oft vorbei, aber sie mussten schließlich auch arbeiten, und so war ich den Großteil des Tages doch allein.
Zum Glück bekam ich an Tag zwei eine neue, nette Zimmernachbarin. Die alte Frau im Koma wurde verlegt und stattdessen kam Maria (Name geändert). Anfangs dachte ich noch, sie würde mich total nerven. Sie ließ sich schon nur sehr widerwillig ins Zimmer bringen und ins Bett verfrachten (sie durfte allerdings auch mal aufstehen), und dann telefonierte sie die ganze Zeit. Aus den Gesprächen erfuhr ich, dass sie auf der Arbeit eine TIA (transitorische ischämische Attacke), also einen Mini-Schlaganfall, erlitten hatte. Ihr war der Telefonhörer aus der Hand gefallen und sie konnte sich nicht mehr an die Namen von Kunden erinnern.
Jetzt, im Krankenhaus, beschwerte sie sich lautstark bei ihren Gesprächspartnern, dass ihre Kollegen so überreagiert hatten und sie gleich in der Stroke Unit gelandet war. Mich machte ihr Gerede ziemlich wütend, denn ich fand, ich war deutlich schlechter dran als sie. Zumal sie schon Ende fünfzig war. Was sollte ich denn sagen, ans Bett gefesselt mit 24, mit einer noch viel schlimmeren Diagnose?! Vielleicht könnt ihr meine Gedanken ein wenig nachvollziehen, auch wenn sie im Grunde sehr unfair sind. Später kamen wir dann aber ins Gespräch und verstanden uns super. Maria hatte eine eigene kleine Reiseagentur, und da auch ich nichts mehr liebe als das Reisen, war unser Hauptgesprächsthema ganz klar. Sie gab mir Tipps für die Route in den USA, die wir planten. Zwischendrin erzählte ich ihr natürlich auch, was mir passiert war. Es tat gut.
Dass ich jetzt so eine nette neue Zimmergenossin gewonnen hatte, hatte allerdings auch eine Kehrseite: Denn leider schnarchte Maria nachts fürchterlich. Darum ließ ich mir nach der ersten gemeinsamen Nacht von einer Schwester Ohrenstöpsel bringen. Froh, in dieser Nacht endlich Ruhe finden zu können, steckte ich sie mir ins Ohr – und zog sie sofort erschrocken wieder heraus. Denn statt der ersehnten Ruhe hörte ich ein dröhnendes Pumpen. Irritiert horchte ich nach und konnte das Geräusch auch jetzt hören: leiser, aber ganz nah. Es war keines der Geräte neben meinem Bett, das so klang. Das Geräusch kam eindeutig aus mir selbst, aus meinem Kopf.
Mit zitternden Fingern steckte ich den Ohrenstöpsel wieder rein. Jetzt pochte es wieder deutlich lauter im Takt meines Pulses, hörte sich aber nicht einfach nur so an wie starkes Herzklopfen. Es klang blechern und dröhnend, genauso wie bei der Ultraschall-Untersuchung meiner Halsschlagader, die wenige Tage zuvor gemacht worden war.
Das Geräusch hatte mit meiner verletzten Ader zu tun, wie ich am nächsten Tag auf Nachfrage bei meinem Arzt erfuhr. Das Blut hatte sich andere Wege ins Gehirn gesucht, dadurch hatten sich auch die Fließgeräusche verändert. In der Fachsprache nennt sich das pulsatiler Tinnitus, also ein Ohrgeräusch, das an den Herzschlag gekoppelt ist: Es wird lauter und schneller, wenn das Herz schneller schlägt, und leiser und schwächer, sobald man zur Ruhe kommt. Nicht alle Patienten nach einer spontanen Dissektion haben dieses Symptom, es kommt nur in 16 bis 27 Prozent aller Fälle vor.8
Ich habe das Ohrgeräusch auf der rechten Seite bis heute, mal lauter, mal leiser. Inzwischen nehme ich es aber kaum noch wahr, selbst wenn ich Ohrenstöpsel trage. In jener Nacht im Krankenhaus allerdings war das Geräusch so fürchterlich und dröhnend laut, dass ich die Ohrenstöpsel doch lieber wegließ und stattdessen Marias Schnarchen ertrug.
Das Ohrgeräusch war zermürbend. Jeder, der schon mal einen normalen Tinnitus hatte, kann das wahrscheinlich nachvollziehen. Aber weil es eben nicht nur ein Piepsen war, sondern dieses blecherne, dröhnende Echo meines Herzschlages, wirkte es bedrohlich. So, als könne meine Ader jeden Moment weiter reißen oder sogar platzen. Ich begann, meinem Körper zu misstrauen – und zwar zutiefst. Weil er mich schon einmal so kläglich im Stich gelassen hatte und das jederzeit wieder tun könnte. Es fühlte sich an, als hätte ich eine tickende Zeitbombe im Hals.
Und es ging noch weiter bergab mit mir. An Tag drei auf der Stroke Unit war eine besondere Untersuchung vorgesehen: die Angiografie. Per Katheter, der in die Hauptschlagader in der Leiste eingeführt und bis in die Hirnarterien geschoben wird, sollte das Ausmaß der Dissektion sichtbar werden. Klingt ekliger als es ist, denn den Katheter selbst merkt man gar nicht. Das Kontrastmittel, das einem dabei über die Infusionsnadel gespritzt wird, ist da schon schlimmer: Je nach Position des Katethers in meinem Hals und Kopf wurde es dort erst warm, dann heiß, dann unerträglich, beinahe kochend. Mal brannte es in meinem linken Hals unterm Kinn, mal direkt überm rechten Auge. Aber selbst das war eigentlich halb so wild.
Viel schlimmer war für mich die Wartezeit vor der Untersuchung. Denn die jungen Pfleger und Assistenzärzte, die bei der Angiografie dabei waren (anscheinend kommt so etwas nicht alle Tage vor, denn ein ganzer Haufen Leute schaute dem Arzt bei seiner Arbeit über die Schulter), unterhielten sich, bevor es losging, lauthals über ganz alltägliche Dinge. „Und, was hast du am Wochenende vor?“, fragte einer. Irgendein anderer erzählte etwas von einer Party, oder vom Grillen im Park, oder weiß der Geier was. Ich glaube, es ging auch um irgendwelche Verabredungen.
Diese Leute, etwa in meinem Alter oder ein paar Jahre älter, sprachen ganz selbstverständlich von einer Welt, die für mich in diesem Augenblick so weit weg war wie eine entfernte Galaxie. Ins Kino gehen, ein Bier trinken, tanzen, all das, was für mich ja auch noch bis vor ein paar Tagen selbstverständlich gewesen war, klang auf einmal wie ein schöner, aber unerreichbarer Traum. Vielleicht würde ich all das nie wieder machen können, dachte ich, während ich auf dem OP-Tisch lag und mir der Arzt die Leiste betäubte, um den Schlauch in die Arterie stechen zu können. Vielleicht war alles vorbei.
Es war das erste Mal, dass ich tief in mir drin, irgendwo zwischen Herz und Magengegend, eine kalte, lähmende Leere aufkommen spürte. Wie ein schwarzes Loch, das all meine Pläne und Zukunftsaussichten, die vor ein paar Tagen noch so selbstverständlich wie der tägliche Sonnenaufgang vor mir gelegen hatten, aufsaugte.
Ich musste in diesem Moment komischerweise jäh an eine Szene zu Beginn meines Auslandssemesters 2008 in Chicago (USA) denken. Ich war gerade bei meiner amerikanischen Mitbewohnerin angekommen, die in einem achtstöckigen Haus in einem Vorort von Chicago lebte. Ich ging an diesem Morgen auf die Dachterrasse und mir lagen die stattlichen Hochhäuser der Großstadt in der Ferne zu Füßen, die vor einem strahlend blauen Himmel wie gemalt aussahen. Ich weiß noch, dass mich in diesem Augenblick ein Gefühl von Freiheit überkam, das ich noch niemals so intensiv gespürt hatte. Es war, als hätte ich mein Leben zurückgespult und würde ganz von vorne anfangen: An einem weit entfernten Ort, an dem ich niemanden kannte und wo mir, damals 21 Jahre jung, alle Türen offenstanden.
All diese Türen hatte mir meine plötzliche Erkrankung jedenfalls mit einem Schlag vor der Nase zugeknallt, wurde mir jetzt, in diesem kalten, kahlen OP-Saal bewusst. Plötzlich hatte ich – zum ersten Mal, seitdem das alles passiert war – richtig Angst. Und die hatte nichts mit dem Schlauch in meinen Gefäßen zu tun, den der Arzt mir gerade bis ins Hirn hochschob.
*
Nach der Angiografie bekam ich einen Druckverband an der Leiste und durfte mich nicht mehr bewegen. Aufstehen durfte ich ja schon vorher nicht, aber jetzt durfte ich mich für mehrere Tage nicht mal mehr zur Seite drehen. Der Druckverband war nötig, weil mein Blut durch das Heparin so dünn wie Wasser war und ja immerhin meine Hauptschlagader durchstochen worden war. Ein dicker blauer Fleck würde sich aber so oder so bilden, warnte man mich schon vor.
Als die Betäubung nachließ, schmerzte meine Leiste fürchterlich. Aber noch viel schlimmer als das war die Tatsache, dass ich mich nun überhaupt nicht mehr rühren durfte. Das Stillliegen war eine Qual. Nach ein paar Stunden tat mir derart der Rücken weh, dass ich wirklich nicht wusste, wie ich das überleben sollte.
Das klingt ziemlich übertrieben und theatralisch, ich weiß. Aber in dem Moment fühlte es sich genauso an. Ich spürte, wie Phase zwei, die Schockstarre, langsam zu wackeln begann; es war, als wollten jetzt endlich Gefühle wie Verzweiflung und Trauer die Oberhand gewinnen. Aber noch schafften sie es nicht, ich war immer noch zu stolz. Wenn ich jetzt emotional zusammenbreche, dachte ich mir, dann verliere ich das letzte Restchen Würde und Selbstachtung, das ich noch übrig habe.
Ich weinte zwar immer mal ein bisschen, aber eher aus Zorn über meine festgefahrene Lage und darüber, dass mir niemand hier klare Antworten geben wollte: Warum ist das passiert, wie ist es passiert, wird es wieder passieren, und wie lange wollt ihr mich hier eigentlich noch festhalten? Es war schier unerträglich, so gut wie gar nichts zu wissen; ausgerechnet ich, die allein schon von Berufswegen her keine Ausreden und schon gar kein „Wir wissen es nicht“ akzeptiert.
Noch verzweifelter machte meine Lage eine junge Ärztin, die die jüngsten Ergebnisse meiner (ich weiß schon gar nicht mehr wievielten) Blutabnahme interpretierte: Die Werte waren perfekt, anstandslos, von den Cholesterin- über die Zucker- bis hin zu Leber- und Nierenwerten. „Sie sind eine gesunde junge Frau“, sagte die Ärztin kopfschüttelnd mit Blick auf die Ergebnistabelle, als könne sie sich selbst keinen Reim darauf machen. Kerngesund, ach ja, dachte ich wütend. Und deshalb liege ich hier wie auf dem Sterbebett? Wenn ich gekonnt hätte, dann hätte ich mir all die Schläuche und Kabel vom Leib gerissen und wäre einfach aufgestanden und abgehauen. Aber das würde mit meiner heftig blutenden Leiste nicht funktionieren.
Ich konnte also nichts anders tun, als dazuliegen und mich meinem Elend zu ergeben. Jetzt – man könnte sagen, endlich – wurde ich nicht nur wie eine Todkranke behandelt, sondern fühlte mich auch so.
*
In der Nacht nach der Angiografie, in der ich kein Auge zutat, fasste ich alle möglichen wirren Gedanken. Langsam wurde mir bewusst, dass das alles hier auch sehr böse hätte enden können; und auch wenn diese Erkenntnis noch nicht vollständig bis in mein Bewusstsein vordrang, so veranlasste sie mich doch zu extrem beängstigenden Überlegungen darüber, was passiert wäre, wenn ich an jenem schönen ersten Frühlingstag tatsächlich gestorben wäre.
Es waren total absurde, teils banale Gedanken, die mir zuerst in den Sinn kamen. Ich fragte mich zum Beispiel, ob wohl einer meiner Kollegen bei der Zeitung einen Nachruf geschrieben hätte. Das ist eigentlich üblich, wenn ein Kollege aus der Redaktion stirbt. Aber ich wusste nicht, ob das auch auf Volontäre zutrifft, schließlich gehören die ja eigentlich nicht richtig zu irgendeiner Redaktion.
War überhaupt schon mal ein Volontär bei dieser Zeitung gestorben, als er noch Volontär war? Ich wusste es nicht, aber ich überlegte mir schon, welcher meiner Kollegen möglicherweise meinen Nachruf verfasst hätte. Wer kannte mich am besten, wer mochte mich am liebsten?
Was hätte Kollege X über mich erzählt? Blöde Standard-Floskeln? Oder hätte er sich bei meiner Familie Erkundigungen über mich eingeholt, um persönlicher werden zu können? Und hätte sich eigentlich der Pförtner, der mir jeden Morgen und Abend beim Rein- und Rausfahren so fröhlich zuwinkte, gefragt, wo ich abgeblieben war? Hätte er irgendwann mal an mich gedacht?
Ein anderer absurder Gedanke, über den ich mir den Kopf zerbrach, war der an meine eigene Beerdigung. Ernsthaft, ich überlegte mir, wie wohl meine Beerdigung ausgesehen hätte; wer gekommen wäre, ob die Zeitung einen Blumenkranz geschickt hätte, was der Pfarrer, der sich während meiner Konfirmanden-Zeit nie meinen Namen merken konnte, wohl über mich gesagt hätte, und so weiter...
Hinter all diesen wirren Fragen blieb ein Fragezeichen stehen, nur bei einer Sache war ich mir ganz sicher: Bei dem Lied, das man für mich gespielt hätte. Es gibt nur ein einziges Lied, das dafür in Frage kommt, überlegte ich: Und zwar „No one Knows“ von „Green Day“. Ich weiß nicht, wieso. Nicht, weil es vom Text so gut zu mir passt, denn das tut es eigentlich überhaupt nicht: Es geht um einen Typen, der absolut keine Lust darauf hat, erwachsen zu werden. Der seine Freunde altern sieht, sich selbst aber sagt: Das will ich nicht! Mein Spaß fängt doch gerade erst an.
Es ist eines meiner ewigen Lieblingslieder, und die Vorstellung, es laut und klar durch die stille Trauerhalle dröhnen zu hören, gab mir ein diffuses Gefühl der Zufriedenheit. Ich liebe dieses Lied immer noch, und doch kann ich es heute nicht mehr hören, ohne daran zu denken.
Die Musik von „Green Day“ gibt mir sowieso unglaublich viel. Sie hat in der Regel einen dieser beiden Effekte auf mich, wenn ich vollkommen am Boden zerstört bin: Entweder muntert sie mich unmittelbar auf, gibt mir die Kraft, aufzustehen und weiterzumachen, sogar noch stärker als zuvor. Oder die Musik bestärkt mich in meiner Melancholie, sodass ich noch mehr weine, so lange, bis keine Tränen mehr kommen. Auch das kann sehr befreiend sein.
In jener Nacht jedoch trat keiner dieser Effekte ein, und das will bei mir schon etwas heißen. Ich weinte zwar, aber es war kein befreiendes Weinen, sondern eher eines, bei dem die Qual mit jeder Träne schlimmer wird statt besser. Ich hatte das Gefühl, ich müsste sterben. Zum ersten Mal fasste ich in all der Verwirrung und all dem (körperlichen wie psychischen) Schmerz einen Gedanken, für den ich mich noch im selben Moment schämte. Aber ich dachte den Gedanken, ich konnte ihn nicht aufhalten. Ich dachte: Wenn so von jetzt an mein Leben aussehen wird, dann wäre es doch besser gewesen, an jenem ersten schönen Frühlingstag einfach zu sterben.