Читать книгу Der Spalt: Wie mich – 24, schlank, sportlich, Nichtraucherin – der Schlag traf. - Meike Mittmeyer-Riehl - Страница 8

Kapitel 1: Aus. Vorbei.

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Carpe diem

A battle cry

Aren’t we all too young to die?

Green Day – “Carpe Diem“ 2

Das sollte er also gewesen sein, der letzte Tag meines Lebens. Ich dachte diesen Gedanken ganz ruhig, beinahe gleichgültig, so wie man sich hinsetzt, um eine Einkaufsliste zu schreiben. Ich wusste nicht, was mir diese Gewissheit gab. Ich hatte keine starken Schmerzen, im Gegenteil: Ich fühlte mich überraschend leicht, fast schwerelos. So, als würde ich ein paar Zentimeter über mir selbst schweben. So, wie man sich im Traum manchmal fühlt, wenn man sich selbst beim Handeln zusieht. Meine Stimme klang, als würde jemand anders sprechen, ich hörte mich wie aus einem Lautsprecher, wie aus dem Radio.

Dabei war dieser 17. März 2012, der erste, schöne, sonnige Frühlingstag des Jahres, kein Tag zum Sterben. Tage zum Sterben, das sind doch diese grauen, verregneten, trüben Tage im November.

Ein wenig beunruhigte mich nur die Tatsache, dass ich zu Hause keinerlei Vorkehrungen für eine längere, schon gar nicht für eine endgültige, Abwesenheit getroffen hatte. Auf der Terrasse trockneten auf dem Wäscheständer Handtücher und Socken in der Frühlingssonne. Mein Zimmerbrunnen plätscherte noch, abends schaltete ich ihn eigentlich immer aus, damit der Motor nicht heiß lief. Im Kühlschrank stand noch eine angebrochene Milch, im Obstkorb lagen Äpfel und Bananen. Es waren absurde Überlegungen wie diese, die mich umtrieben, als ich merkte, dass meine Beine mich nun doch nicht mehr tragen würden. Ich versuchte noch, mich gegen den Drang, umzufallen, zu wehren, aber vergeblich. „Dennis? Mir geht es nicht gut“, sagte ich, und schon war er da, um mich aufzufangen. Ich fiel ihm direkt aus der Dusche entgegen.

Ich blieb bei vollem Bewusstsein, war ganz wach, ganz klar; von Panik oder Todesangst keine Spur. Dennoch wusste ich, dass es nicht mehr lange dauern konnte. Jetzt war es soweit, jetzt starb ich. Wenigstens tut es nicht weh, dachte ich noch, als ich Dennis ein „Hilf mir“ entgegenhauchte. „Ich rufe den Notarzt“, sagte er und ging raus; und ich lag da, immer noch bei vollstem Bewusstsein.

Wenn euch nachts schon mal so richtig ein Arm eingeschlafen ist, dann könnt ihr euch ungefähr vorstellen, wie sich zu diesem Zeitpunkt meine gesamte linke Körperhälfte angefühlt hat. Oder eben nicht angefühlt hat. Sie war taub, weg, so als hätte man mich gerade mit einem riesigen Filetiermesser in der Mitte durchgeschnitten. Ich richtete meinen Oberkörper auf, oder besser gesagt, machte Anstalten, mich aufzurichten, so wie man das mit einem halben Körper eben kann. Ich nahm mein linkes taubes Bein in die Hände und zwängte es in meine Jogginghose, die auf dem Boden lag. Man hat ja gar keine Vorstellung davon, wie schwer so ein Bein ist, wenn man es nicht bewegen kann. Ich starrte auf meinen linken Fuß und forderte ihn dazu auf, sich endlich zu rühren, aber das war unmöglich. Das Bein könnte auch irgendeinem Passanten auf der Straße gehören. Als ich die Hose anhatte, schaffte ich es, ich weiß nicht mehr wie, auch in mein T-Shirt. Es war ein nagelneues, quietschgelbes Tennis-Shirt, das im weiteren Verlauf meiner Geschichte noch eine Rolle spielen wird. Das war mir damals aber natürlich noch nicht klar. Mein einziger Gedanke dabei war: Der Rettungswagen muss jeden Moment da sein, und ich will schließlich nicht nackt daliegen, wenn sie kommen, um meinen Tod festzustellen.

Doch dann, ganz plötzlich, spürte ich in dem fremden Bein, das da taub in meinen Hosen steckte, ein Kribbeln. So, wie ein eingeschlafener Arm kribbelt, wenn man die Finger nur lange genug bewegt hat. Mein Bein kribbelte, mein Arm, meine linke Wange. Ich steckte wieder fest in meinem Körper drin, das traumartige Gefühl war verschwunden. Sofort sprang ich auf und blieb fest auf beiden Beinen stehen, hörte mein Herz laut und schnell pochen. Die Gewissheit, sterben zu müssen, war so schnell weg, wie sie gekommen war. Ich lebte.

Als Dennis wieder hereinkam, stand ich steif wie ein Baum im Bad. „Setz dich hin, um Himmelswillen“, fuhr er mich an. Ich setzte mich auf den geschlossenen Klodeckel, er fühlte mir den Puls. Ich weiß nicht mehr, was wir in diesem Moment sprachen, oder ob wir es überhaupt taten. Ich hatte auch kein Zeitgefühl. Ich weiß nur noch, dass wenig später die Rettungsassistenten da waren. Dennis schilderte ihnen dankenswerter Weise die Symptome, ich weiß nur noch, dass ich kopfschüttelnd sagte: „Ich weiß, das deutet alles auf einen Schlaganfall hin. Aber das kann doch nicht sein?!“

Aus Laien-Sicht betrachtet konnte das eigentlich wirklich nicht sein. Ein Schlaganfall, ein in der Regel durch ein Blutgerinnsel ausgelöster Infarkt im Gehirn, trifft doch vor allem Ältere. Dachte ich damals; und das denken die meisten Menschen wahrscheinlich immer noch. Rauchen, schlechte Ernährung, Diabetes, hoher Blutdruck, Bewegungsmangel, all das begünstigt einen Schlaganfall. Alles Risikofaktoren, die auf mich zu null Prozent zutrafen. Ich war sogar das genaue Gegenteil: 24 Jahre jung, sehr schlank und sportlich, dazu eine überzeugte, ich würde fast sagen militante, Nichtraucherin.

Auch die Rettungsassistenten schienen einen Moment darüber nachzudenken, als sie mich da sitzen sahen. Der eine von ihnen, ein kräftiger Kerl mit einem runden, freundlichen Gesicht, sagte aber dann: „Das passt mir hier alles nicht. Wir fahren ins Krankenhaus.“ Widerwillig stieg ich mit ihnen die Treppe runter und ins Auto ein, ich brauchte keine Hilfe. Die Lähmung war komplett verschwunden, so als wäre sie nie dagewesen. „Wo fahrt ihr sie hin?“, fragte Dennis. „Nach Darmstadt“, sagte der kräftige Rettungsassistent, „Stroke Unit.“ (Eine Stroke Unit ist eine Spezialstation für Schlaganfallpatienten)

*

In dem Moment, da die Tür des Rettungswagens zuschlug, war mein bisheriges Leben vorbei. Das wusste ich zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht. Manchmal will ich es heute noch nicht glauben. Nach diesem ersten schönen Frühlingstag im März 2012 sollte nichts mehr so sein, wie es war.

Davon ahnte ich nichts, als ich dort auf der Krankenliege im Rettungswagen lag, entgegen der Fahrtrichtung. Die Sirene hörte ich kaum, auch vom Blaulicht sah ich nichts. Es war ja noch hell. Ich fror, zitterte am ganzen Leib. Schließlich war ich noch völlig nass in meine spärlichen Klamotten gestiegen. Ich fuhr diese Strecke in die Stadt jeden Tag zur Arbeit, aber so schnell hatte ich sie noch nie bewältigt. Der kräftige Sanitäter saß neben mir und schaute mich aufmerksam an, ohne zu lächeln. Er schien jeden Moment bereit, schnell einzugreifen, sollte ich irgendeine eigenartige Reaktion zeigen. Aber was für eine Reaktion sollte ich schon zeigen? Es ging mir wieder gut und mir fehlte nichts. Irgendwie schöpfte ich Zuversicht aus seinem runden, freundlichen Gesicht.

Ich war mir sicher, dass all das nur ein schrecklicher Irrtum sein konnte; dass ich nur einen kleinen Kreislaufkollaps hatte, nichts Schlimmes. Vielleicht einen eingeklemmten Nerv, darum die Lähmung. Von so etwas hatte ich schon mal irgendwo gelesen. Ich war mir sicher, dass ich am Abend wieder nach Hause könnte, dass ich meine Wäsche hereinholen und den Zimmerbrunnen ausschalten könnte, wie geplant. Ja, so würde es ganz bestimmt kommen.

Nach einem schweren Schicksalsschlag wie dem Verlust eines geliebten Menschen oder auch einer schweren Erkrankung durchlebt man in der Regel verschiedene Phasen. Viele der heute üblichen Modelle der Krisen- oder Trauerbewältigung gehen, in abgewandelter Form, zurück auf die US-amerikanische Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross (1926-2004). Ihre ursprünglichen „fünf Phasen des Sterbens“ beschreiben die wesentlichen fünf Stadien, die ein Mensch durchläuft, wenn er weiß, dass er bald sterben muss. Ihre Erkenntnisse beruhen auf Interviews mit über 200 todkranken, sterbenden Patienten3. Nach Kübler-Ross setzen sich diese fünf Phasen wie folgt zusammen:

1 Das Nicht-wahrhaben-Wollen: Man streitet ab, will die Diagnose nicht wahrhaben, redet sich ein, dass alles nur ein großer Irrtum sein kann.

2 Zorn: Man wird wütend und neidisch auf alle, denen es vermeintlich besser geht und die weiterleben dürfen.

3 Das Verhandeln: Man versucht, mit sich selbst oder einer höheren Macht, vielleicht Gott, einen Pakt zu schließen: Wenn ich dies oder jenes mache, wird doch bestimmt wieder alles gut!

4 Die Depression: Wut und Zorn weichen jetzt dem Gefühl, dass alles aussichtlos ist.

5 Die Akzeptanz: Der Kampf ist vorbei, man akzeptiert die Situation und beginnt, auf das Gute zurückzublicken, das einem im Leben wiederfahren ist.

So oder zumindest so ähnlich lassen sich auch die Stadien beschreiben, die Menschen nach einem Schicksalsschlag durchleben. All das ist nicht in Stein gemeißelt und kann sich bei jedem etwas anders darstellen, manche Phasen gehen ineinander über, andere bleiben ganz aus, oder die Reihenfolge ist eine andere.

Auch für meine persönliche Aufarbeitung finde ich die Einteilung in Phasen im Nachhinein sehr wichtig, um mir selbst mein Verhalten und meine Gefühle von damals besser erklären zu können und um zu ergründen, weshalb mich dieser Einschlag derartig aus der Bahn geworfen hat, dass ich bis heute nicht damit zurechtkomme. Auch ich halte mich in meinem rein subjektiven Bericht nicht starr an die klassischen fünf Phasen, sondern habe meine eigenen definiert – und das natürlich auch erst jetzt, mit vier Jahren Abstand.

Nach so einem Schicksalsschlag ist das alte Leben vorbei, unweigerlich, daran lässt sich nicht rütteln; das neue Leben aber ist noch lange, lange nicht in Sicht. Die Phasen, die ich im Folgenden beschreibe, stehen für eine Art Mittelding, ein „Leben zwischen den Leben“, könnte man sagen. Wie eine Brücke zwischen zwei Ufern. Diese Brücke führt über tosende Flüsse, schwindelerregende Schluchten, durch unendliche Wüsten und durch wütende Gewitterstürme. Aber das werdet ihr im Laufe meines Berichts noch sehen.

Als ich im Rettungswagen lag und mir einredete, dass schon alles gut sein würde, wusste ich natürlich noch nicht, dass ich gerade in „meiner“ Phase eins angekommen war. Sie war die kürzeste von allen, sie dauerte nur wenige Stunden. Ich nenne sie: das Abstreiten.

Der Spalt: Wie mich – 24, schlank, sportlich, Nichtraucherin – der Schlag traf.

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