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ОглавлениеWarum Umerziehungsversuche nichts bringen
„Auf kaum etwas reagieren Menschen so empfindlich
wie auf die Einschränkung ihrer Freiheit.“
Christian-Rainer Weisbach, Kommunikationspsychologe
Eigentlich sollten wir es wissen: Der Versuch, andere nach unserem Willen zu formen, sie gar umzuerziehen, ist zum Scheitern verurteilt. Das kennt man doch aus der Partnerschaft: Am Anfang, wenn die Liebe den Blick verklärt, ist alles so wunderbar. Macken des Partners werden als interessante Besonderheiten gesehen oder gar nicht wahrgenommen. Doch je mehr der Alltag eintritt und die Sicht klarer wird, wächst oft auch der Wunsch, das eine oder andere am Partner zu ändern. Plötzlich fühlt man sich gestört von den Eigenarten, die am Anfang nicht weiter beachtet wurden. Nun beginnt der Versuch, den anderen umzukrempeln. Und schon steckt man im schönsten Streit. Weil der Partner oder die Partnerin gar nicht versteht, was plötzlich so falsch sein soll. Sie hingegen wissen genau, was sich ändern sollte. Sie haben da schon ganz konkrete Vorstellungen ...
Ist es nicht eigenartig, dass wir die störenden Eigenarten des oder der anderen deutlich benennen können und uns auch ganz klar ist, was dagegen zu tun wäre? Beim Blick auf uns selbst sind wir oft weniger kritisch. Die eigenen Verbesserungsmöglichkeiten werden leicht übersehen – wie bereits in der Bibel nachzulesen ist: Als Matthäus zwischen zwei Streithähne trat, zitierte er ein Wort, das er Jesus einmal hatte sagen hören:
„Hört auf, euch gegenseitig zu richten. Denn nach welchem Maßstab ihr richtet, werdet ihr auch gerichtet werden; und so wie ihr messt, werdet ihr auch gemessen werden. Warum schaust du denn auf den Splitter im Auge deines Bruders und siehst nicht den Balken in deinem Auge? Oder wie kannst du zu ihm sagen: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, und dabei hast du einen Balken in deinem eigenen Auge? Du Heuchler, zieh doch zuerst den Balken aus deinem Auge; danach sieh zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst.“7
Bei sich selbst anzufangen ist allemal erfolgversprechender als andere mit Druck oder Zwang dazu bringen zu wollen, nach den eigenen Vorstellungen sich zu verändern. Sie können Vorschläge, Angebote machen, durch ein positives Vorbild ein bestimmtes Verhalten vorleben, aber ob und wann er bzw. sie sich ändert, bestimmt Ihr Gegenüber immer noch selbst. Denn was Ihnen wichtig ist, muss für die andere Person noch lange nicht so bedeutend sein. Und selbst wenn es Ihnen „gelingen“ sollte, dass die Nervensäge klein beigibt, sich Ihren Vorstellungen widerwillig anpasst, damit Ruhe herrscht – was wäre dann gewonnen? Sie hätten wahrscheinlich das schale Gefühl, dass es nur eine Scheinveränderung ist und bei nächster Gelegenheit ein Rückfall in alte Verhaltensweisen zu erwarten ist. Beim Gegenüber droht zudem der Verlust der Selbstachtung. Das ist keine Basis für ein entspanntes Miteinander.
Wenn man Menschen bedrängt, sich zu ändern, kommt es häufig zu Widerstand. Die Angst, die eigene Handlungsfreiheit zu verlieren, ist groß. Gerade wenn der Fordernde sehr massiv vorgeht. Druck verursacht Gegendruck.
Grenzüberschreitung
Diejenigen, die einen Menschen kritisieren und zur Änderung auffordern, verstehen oft gar nicht, dass der oder die andere die gutgemeinten Ratschläge nicht befolgen will. „Ist doch nur zu deinem Besten...“ Sie merken gar nicht, dass sie dabei Grenzen überschreiten und den anderen verletzen.
Manche Menschen empfinden die Aufforderung, ihr Verhalten zu ändern, als unzulässige Einmischung. Dem Appell zu folgen könnte als Eingeständnis einer persönlichen Niederlage erlebt werden.8
Die häufigsten Reaktionen sind infolgedessen Aggression, Trotz (jetzt erst recht nicht) oder scheinbare Anpassung (nach außen hin wird zugestimmt, hintenrum oder heimlich das alte Verhalten weiter betrieben). All das dient dem Ziel, das Gesicht zu wahren, die persönliche Ehre zu retten. Geradezu allergisch reagieren denn auch viele Zeitgenossinnen und Zeitgenossen auf Wörter wie „müssen“, „sollen“, „nicht dürfen“. „Solche Formulierungen sind geeignet, im anderen Widerstand aufzubauen, um sich vor Angriffen auf die eigene Integrität zu schützen.“9 Die Bedeutung der kleinen Wörter ist nicht zu unterschätzen: Es macht einen Unterschied, ob Sie zu Ihrem Kollegen sagen: „Sie müssen die Papiere bis morgen um 15 Uhr bearbeitet haben.“ Oder ob Sie sagen: „Ich benötige bitte bis morgen um 15 Uhr die Unterlagen, damit ich sie mit in die Sitzung nehmen kann.“ Wenn man zu jemandem sagt: „Sie müssen jetzt ...“ Dann kommt mitunter die Antwort: „Müssen muss ich gar nicht.“ Muss- und Soll-Formulierungen lösen mitunter ungute Erinnerungen an die Kindheit aus, als Eltern oder Lehrer zu sagen pflegten, was man zu tun und zu lassen habe. Wollen Sie also Ihr Gegenüber nicht in einen Zustand führen, in dem er oder sie sich wie ein kleines Kind fühlt (und sich möglicherweise auch so verhält), dann vermeiden Sie diese Gehorsamswörter (mehr zum Thema Formulierungen).
Der Mensch ist ein Gewohnheitstier
Andere nach eigenem Gusto umkrempeln zu wollen, ist nicht nur vergebliche Liebesmüh’, sondern, gelinde gesagt, auch anmaßend. Schließlich ist man weder Therapeut/-in (und selbst die werden sich davor hüten) noch Erziehungsberechtigte/-r, noch Retter/-in der Nation. Wer gibt einem das Recht, über jemand anders bestimmen zu wollen? Stellen Sie sich vor, jemand in Ihrem Umfeld passt es nicht, wie Sie an bestimmte Aufgaben herangehen. Und obwohl Sie es seit 15 Jahren so machen, noch dazu mit guten Ergebnissen, sollen Sie plötzlich alles ändern. Würden Sie sich da nicht auch wehren? Und selbst wenn Sie einsehen, dass die Vorschläge gar nicht so schlecht sind, dass sie vielleicht durchaus zur Arbeitserleichterung beitragen können, selbst dann ist es mit der Veränderung so eine Sache, wie auch Charles F. Kettering wusste, ein amerikanischer Industrieller, der für Forschung und Entwicklung bei General Motors zuständig war. Seine Überzeugung: „Die Menschen sind sehr offen für neue Dinge – solange sie nur genau den alten gleichen.“
Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Eine Gewohnheit abzulegen braucht viel Energie, Entschlossenheit und Durchhaltewillen. Denken Sie nur einmal daran, wie viele Menschen sich entschließen, abzunehmen, ab sofort ein anderes Lebens mit gesunder Ernährung und ausreichend Bewegung beginnen wollen und dann nach einer gewissen Zeit all die guten Vorsätze über den Haufen werfen und zu den alten, ungesunden Gewohnheiten zurückkehren.
Alte Gewohnheiten abzulegen ist ein Prozess. Es gilt zu akzeptieren, dass „Veränderung Zeit braucht. (...) Jede Veränderung, die (...) wirklich gut ist, hat ihre Eigenenergie, die von innen weiterhilft, die jedoch oft von ,gutmeinenden Veränderungspushern‘ zerstreut und im Widerstand verschwendet wird.“10
Step by step gilt es vorzugehen - wie ein Kind, das Laufen lernt und sich Schritt für Schritt eine neue Welt erobert. „Gewohnheiten darf man nicht einfach zum Fenster hinauswerfen; man begleitet sie die Treppe hinunter – Stufe für Stufe“, hat Mark Twain es auf den Punkt gebracht.
Sich von alten Denkmustern und Verhaltensgewohnheiten zu verabschieden ist also eine große Herausforderung, bei der es einige Widerstände zu überwinden gilt. Verständlich, dass man sich wehrt, wenn andere einem schlaue Ratschläge „um die Ohren hauen“.
Heißt das nun alles in allem: Finger weg von Verbesserungsvorschlägen, alle Macken hinnehmen, Nervereien ertragen, den Ärger herunterschlucken? Nein, genau das heißt es nicht. Die Konsequenz lautet: Ich kann andere nicht umkrempeln, ich kann aber durch Veränderung meiner Einstellung und meines Verhaltens das Gegenüber einladen, das eigene Verhalten zu überdenken und sich – so er bzw. sie will – für ein neues Verhalten zu entscheiden. Es geht nicht darum, den Freiheitsspielraum zu beschränken, sondern - im Gegenteil - die Wahlmöglichkeiten zu erweitern (mehr dazu). Ich helfe dem oder der anderen, weitere Handlungsmöglichkeiten zu entdecken und in das eigene Repertoire aufzunehmen – wobei ich es immer meinem Gegenüber überlasse, für welches Verhalten er oder sie sich im jeweiligen Fall entscheidet.
Oder um es mit Max Frisch zu sagen: „Halte dem andern die Wahrheit hin wie einen Mantel, in den er hineinschlüpfen kann, und haue sie ihm nicht wie einen nassen Lappen um die Ohren.“
Checkliste – das Wichtigste auf einen Blick
Andere umerziehen zu wollen ist sinnlos. Erfolgversprechender ist es, sich selber zu ändern.
Wenn Sie Menschen bedrängen, sich zu ändern, kommt es häufig zu Widerstand.
Der oder die andere entscheidet selbst, ob und wann er bzw. sie sich ändern möchte.
Andere nach eigenem Gusto umkrempeln zu wollen ist auch anmaßend.
Die große Herausforderung besteht darin, sich von alten Denkmustern und Verhaltensgewohnheiten zu verabschieden.
Ich kann durch Veränderung meiner Einstellung und meines Verhaltens das Gegenüber einladen, sein Verhalten zu überdenken und sich für ein neues zu entscheiden.