Читать книгу Werwolfsgeheul - Melanie Ruschmeyer - Страница 6
Todestag
ОглавлениеDie Nacht war endlos lang und eintönig gewesen. Anfangs hatte ich Flora dabei zu gesehen, wie sie überglücklich die Welpen angeschaut und Shila gestreichelt hatte. Die Neulinge waren zusehends muntererer geworden. Zwar waren sie durch ihre Blindheit ziemlich eingeschränkt und konnten noch nicht wirklich spielen und ihre Umgebung erfassen, doch ständig musste ihre Mutter nach ihnen sehen, da sie sich trotzdem vom Korb zu entfernten versuchten. Wie kleine Würmchen robbten sie vorwärts und deuteten bereits jetzt auf ihre geballte Kraft hin.
Flora hatte mich überhaupt nicht mehr wahrgenommen. Die Faszination in ihren Augen und ihre glückliche Ausstrahlung hatten ihre gesamte Anspannung von zuvor verdrängt.
Jedoch war es irgendwann an der Zeit gewesen für sie ins Bett zu gehen, schließlich war sie ihrer Schulpflicht verschrieben und stets bemüht diese einzuhalten.
Ich, für meinen Teil, war wieder einmal die treue Seele gewesen. Als ich in unser gemeinsames Zimmer getreten war und in das pure Chaos blickte, wurde ich wieder weich. Beflügelt von den Ereignissen, versuchte ich mich erneut an meiner Malertätigkeit. Dieses Mal hatte ich auch mehr Glück damit. Die Gefühle waren geglättet und der Kopf frei. Auch wenn ich diese Arbeit nun eher widerwillig tat, freut ich mich auf Alexanders Gesichtsausdruck. Fehler um Fehler wurde ausgeglichen und ich tänzelte auf der Plastikplane zwischen den tückischen Farbklecksen herum. Ungewöhnlich schnell ging es mir von der Hand und ich konnte es nicht glauben, als ich die Wände in ihrer grünen Pracht sah. Was man doch nicht alles vollbringen konnte, wenn der Verstand nicht durch böse Gedanken getrübt wurde!
Nun stand ich auf dem Balkon und wartete auf ihn. Innerlich schwor ich mir, wenn er auch nur den Hauch von Negativem an meinem Kunstwerk auszusetzen hätte, würde ich ihn eigenhändig auseinander nehmen!
Der salzige Hauch des Meeres berührte meine nackte Haut, die in ein weißes Kleid gehüllt war. Meine Hände ruhten auf dem Balkonsims. Ich hatte sie in seidige Stoffhandschuhe gehüllt und betrachtete die helltürkisen Blumenverzierungen darauf. Der Silvesterball an dem ich sie zu dem wunderschönen, türkisen Kleid getragen hatte, war schon lange her. Alexander, das wusste ich, war noch immer auf der Suche nach einem sehr guten Schneider. Dieser sollte mir ein neues Abendkleid nähen; eines, was das Andere noch übertraf. Dennoch glaubte ich nicht, das irgendjemand diesen Schatz ersetzten oder gar übertreffen konnte. Zu unser beider Leidwesen hatten wir uns gezwungen gesehen, es während der Flucht hierher zurückzulassen.
Meine Fingerspitzen, die durch einen seidigen Stoff geschützt waren, zogen den diamantenbesetzten Ring an meiner Silberkette nach und ich musste unwiderruflich lächeln.
Und als hätte meine Geste seine Aufmerksamkeit erweckt, vernahm ich ihn. Den Klang seiner umwerfenden Lippen, die auf einer Mundharmonika spielten und die frohe Botschaft seiner Rückkehr einläuteten. Die Möwen brachen ihren Flug abrupt ab und schwenkten in die entgegengesetzte Richtung. Einstimmig krähten sie im Rhythmus der mir so bekannten Melodie. Schnell bemerkte ich, wie ich in das Lied mit ein stimmte. Mein Rumpf surrte, als ich zu summen begann.
Ich suchte den Strand ab und fand einen kleinen Punkt im Westen. Immer größer formte sich eine Silhouette und wenn ich mich genau anstrengte, konnte ich ihn bereits erkennen.
Die warmen Sonnenstrahlen schienen ihn zu begrüßen und griffen nach seiner Umgebung. Wie eine magische Hülle kündigten sie seine Ankunft an und zauberten glitzerne Diamanten auf das Meer, die sich auf der hellen Haut zu spiegeln begannen.
Vom Wind erfasst flatterte sein offenes, weißes Hemd und entblößte den perfekten, muskulösen Oberkörper. Er saugte die Wärme in sich auf und genoss jede Sekunde.
Die Jeanshose hatte er hochgekrempelt, damit er mit seinen blanken Füßen durch das Wasser waten konnte. Das Wellenspiel erfasste seine Knöchel und tauchte sie ein.
Mittlerweile war er dem Haus so nahe, dass ich seine emotional, geschlossenen Augen und das vom Wind zerzauste, dunkelbraune Haar erkennen konnte.
Etliche Vögel waren seinem Klang gefolgt und hüpften über den Sand. Wie kleine Zuschauer legten sie verständlich die Köpfe schief und piepsten ihm zu. Es war wie ein Orchester ohne großen Aufwand, nur mit einer kleinen Mundharmonika und dem Gesang von Waldleben.
Alex blieb vor dem Balkon stehen und brach sein Lied plötzlich ab, jedoch ohne das Instrument von seinen wundervollen Lippen zu nehmen. Die Tierwelt, die er damit immer in Begeisterung für sich vereinnahmte, verschwand. Tier um Tier. Manche Möwen krähten verärgert. Sie verlangten eine Zugabe und flatterten wild um ihn herum. Doch er regte sich nicht. Wartend verharrte er wie eine Fels im Sand, bis auch das letzte Tier aufgab. Seine Lieder waren für sie wie eine Droge. Sie zogen sie an und brachten eine Freude in ihr Herz, die sie nur schwer loslassen konnten.
Dann öffnete er seine roten Katzenaugen und blickte zu mir auf. Langsam nahm er die Mundharmonika aus seinem Gesicht und lächelte sein mir so bekanntes, schiefes Lächeln.
Es waren lange Minuten in denen sich unsere Blicke innig verhakten. Keiner wollte die stille Konversation unterbrechen und das Knistern der emporsteigenden Gefühle vernichten. Wir liebten diese Momente des Wiedersehens. Sie schmeckten so süß wie Honig, verklebten den Mund und riefen nach Mehr! Uns war beiden klar, dass man der süßen Versuchung nicht lange widerstehen konnte.
››Oh, Julia!‹‹, rief er und breitete seine Arme weit aus. Ich kicherte über diese Aussage, stimmte mit ein: ››Oh, Romeo!‹‹
Mit einem Atemzug hatte er sein Instrument in der Hosentasche verstaut und sprang zu mir herauf. Anmutig hielt er sich am steinernen Balkon fest und beugte sich zu mir. Sein angenehmer Atem erfasste meine Wangen und seine Stirn drückte sich sanft an meine. Liebevoll hauchte er mir ein paar Worte zu: ››Hast du mich vermisst?‹‹
Ich kam nicht umher eine Braue hochzuziehen. ››Meine Faust hat dich sehr vermisst.‹‹
Alex lachte. ››Ach stimmt, ich kann ja was erleben, wenn ich wieder nach Hause komme.‹‹ Sein schiefes Grinsen konnte ihn jetzt auch nicht mehr helfen. Mir war nur zu gut bewusst, dass er jedes Wort verstanden hatte und er wusste genauso wie ich, das es der puren Absicht gegolten hatte.
››Wäre es dir lieber gewesen meinem Werwolfrute in die Farbe zu tunken?‹‹
Nachdenklich verzog ich meinen Mund. ››Verführerische Vorstellung!‹‹, gab ich zu und er lachte wieder.
Er legte ein Knie auf den Geländersims und drückte sich weiter an mich. Eine Hand umfasste meinen Nacken und seine gierigen Lippen berührten die meinen. Es war nur eine so kurze Zeitspanne gewesen, in der ich ohne ihn verharrt hatte. Eine Vollmonddauer, die uns beide getrennte hatte. Trotzdem erlag ich jedes Mal aufs Neue dem Glauben, dass mir erst dieser Kuss den wahren Schmerz offenbarte. Wie ein gestrafftes Gummiband, welches sich ruckartig in meine Richtung zurückzog, traf es mich ins Herz. Es kam mir fast so vor, als wenn mein Verstand mich daran erinnerte wie hart es ohne ihn gewesen war. Fast so, als würden die Gefühle rückwirkend ausbrechen und in Zeitlupe, wie die letzten Sekunden eines Lebewesens, durch mich hindurch strömen. Bei seiner Abwesenheit fehlte ein Teil, ein so wichtiger Teil! Stetig war mir dies bewusst, doch danach, wenn sich das wichtige Puzzleteil wieder in das Gefüge der Vollkommenheit einbrachte, war es seltsam. Es kam einer Sucht gleich, die ich liebte und hasste.
Leicht fuhren meine Fingerspitzen über seine nackte Brust. Wie so oft machte ich mir Gedanken darüber, wie es sich wohl anfühlen musste, wenn sein Körper wegen der Verwandlung anfing zu beben und zu explodieren. Wenn seine Hülle eine Veränderung vollzog, die in so direktem Gegensatz zu einem Vampir stand, dass es noch immer etwas Unfassbarem glich.
Einmal hatte ich es bereits gesehen, wie seine makellose Haut dem struppigen Fell Platz gemacht und sein eigentliches Ich verdrängt hatte. Nie wieder wollte ich dieses Wesen in ihm sehen, so wollte Alex es jedenfalls. Er hatte damit nicht ganz Unrecht. Mir war bewusst, dass er eine Gefahr zu dieser Zeit des Mondstandes bedeutete und ich verband so gar nichts mit seinem anderen Ich. Aber irgendwie hatte es auch etwas Reizvolles. Die natürliche Macht des Ungewissen und vielleicht auch ein bisschen der Spieltrieb, den es in mir erweckte, kitzelten immer wieder in mir. Allerdings wurden diese Gedanken stets vom einem lauten Knurren und Brummen in meiner Brust verdrängt. Mein zweites Ich fand diese Vorstellung bei weitem nicht so interessant, wie ich es tat. Mittlerweile war ich sogar der Ansicht, dass sie Alexanders Anziehungskraft auf mich zu hassen begann. Sie schien ihn überhaupt nicht als Vampir zu sehen, eher als den Feind im Schafspelz verkleidet. Oder etwa wie das trojanische Pferd, dass die Nacht abwartete, um seine Luken zu öffnen und der Heimtücke, wofür es erbaut worden war, freien Lauf zu lassen.
Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, dass er sich auf den Sims gesetzt und meinen Körper an sich heran gezogen hatte. Sein Atem wanderte zusammen mit seinen zarten Lippen an meinem Hals entlang und ich spürte mein Herz extrem schnell schlagen. Noch immer war es mir ein Rätsel, was es in meine leeren Venen pumpte, doch glaubte ich, dass es eine Art Energie beinhaltete, die meinen ganzen Körper erfasste und ihn auf die Situation einstimmte.
Irgendwie wollte die Stimmung nicht so recht in mir auflodern. Das heiße Feuer in mir kämpfte gegen die Erinnerung aus Wut und Frust an. Stets aufs Neue gewann es die Oberhand, aber nur für kurze Augenblicke. Mein Gemüt hatte sich nach ihm verzehrt, kam aber dennoch nicht über alles hinweg.
Mit wenigen Worten, die in meinem Gedächtnis fest verankert waren, brach ich die Stimmung: ››Du sollst dich übrigens bei Li melden.‹‹
Abrupt brach er ab und hielt seltsam inne. Es war nur eine Sekunde seiner Körperanspannung, die ihn verriet und mich umso aufmerksamer werden ließ. Ich blinzelte kurz zu ihm herüber, doch sein Gesicht blieb mir verwehrt, da er sich zu sehr über meine Schulter gelehnt hatte.
››Alles klar, dann tue ich das mal lieber gleich. Du kennst ihn und seine Geduld ja.‹‹
Er drehte den Kopf zu mir und legte das übliche Pokergesicht auf. Obgleich er mir damit wohl sagen wollte, dass hier alles in Ordnung war, sagten mir meine empfindlichen Nackenhaare etwas ganz anderes. Es war so gar nicht seine Art abrupt unsere Zweisamkeit zu beenden. Meistens schob er alles andere auf, wo ich dann meist diejenige war, die ihn an die Zeit erinnerte. Nun allerdings schien etwas ohne mich gespielt zu werden und das gefiel mir ganz und gar nicht. Gute Miene zum unbekannten Spiel, so konnte man meinen Ausdruck wohl bezeichnen. Ich gab Alex keinen Anschein, als würde es mich interessieren. Doch ich nickte kurz zum Zimmer herüber.
››Bevor du wieder mit Abwesenheit glänzen willst, schau dir bitte wenigsten an, was ich alles in der Zeit deiner Abwesenheit geschafft habe‹‹, sagte ich gelassen und grinste ihn wie ein Honigkuchenpferd an.
Anerkennend sah er sich im Raum um. Die Hände in den Taschen der Jeans verstaut, wollte er sie wohl vor mir verbergen, denn ich fühlte genau seine immense Unruhe. Etwas in mir begann sich zu räkeln und gierte nach Anerkennung und Klarheit. Ich wollte ein liebes Wort aus seinem Munde hören und trotzdem wurde diese Gier zur Nebensächlichkeit.
Er kannte mich viel länger, als ich ihn. Alex hatte seit meinem zwölften Lebensjahr über mich gewacht; mal mehr, mal weniger. Wahrscheinlich konnte er meine Reaktionen viel genauer vorhersagen als ich und somit drängte sich mir eine messerscharfe Drohung auf. Es war so offensichtlich, dass er etwas vor mir verheimlichte, das es schon weh tat. Was konnte so schlimm sein, das ich es nicht erfahren durfte? Warum wurde immer ich im Dunkeln gelassen?
Wie unzählige Blätter im Wind wurde ich aufgewirbelt und rang nach Fassung. Auf keinen Fall durfte er bemerken, das ich etwas erahnte.
Lässig lehnte ich mich an den Türrahmen und hob eine Braue an. ››Sag ja nichts falsches!‹‹, knurrte ich verführerisch und zwang all den brodelnden Zweifel zur Ruhe. ››Da morgen schon die Möbel kommen, musste es ja gemacht werden. Zu zweit hätte sich das natürlich etwas einfacher gestaltet.‹‹
Der verspottende Unterton war so vergewaltigend, das es mir schauderte. Eigentlich hatte ich den Streit begraben wollen und jetzt überfuhr mich erneut ein LKW aus Frust. Doch dieses Mal wegen etwas ganz anderem.
Genervt seufzte er und schaute mich spöttisch an. ››Wie lange soll ich mir das noch anhören? Ich muss ja wissen, wie lange ich auf Durchzug schalten muss.‹‹
››Hm, lass mich überlegen‹‹, setzte ich nachdenklich an und nach einer Pause grinste ich, ››die Ewigkeit ist so lang.‹‹
Da er mir das wirklich sichtlich abkaufte, schüttelte ich resigniert den Kopf und hätte wohl vermutlich auch gerne auf Durchzug geschaltet. ››Das war ein Scherz.‹‹
Mit einer flüssigen Körperbewegung stand er vor mir und streichelte über meine Wange. ››Du hast das super gemacht, wirklich. Ich werde dann mal eben schnell zu Li gehen, bin bald wieder da.‹‹
Ein hastiger Kuss auf die Stirn und er machte sich auf zum Flur. Tief fielen meine Lider über die erstarrten Augen, die sich an ihm festklebten. Meine Lippen wurden schmal, als seine Worte wieder durch meinen Kopf hallten. Er hatte sich so schnell von meinem Kunstwerk verabschiedet, das er es gar nicht wirklich wahrgenommen haben konnte. Ohne es zu wollen grub sich meine Stimmung weiter in die Tiefe. Die Muskeln spannten sich an und schrien nach Auslastung. Aber ich wollte jetzt nicht durch die Wälder hetzen oder gar einen Schwimmmarathon veranstalten; nichts lag mir ferner.
Alexander war nicht sonderlich leise. Er war wohl der Meinung sich in Sicherheit zu wiegen. Es war jedoch nur ein kleiner Trost zu wissen, dass ich mir hier und da wenigstens ein bisschen schauspielerisches Talent abringen konnte.
Ich zählte seine Schritte, die sich weiter von mir entfernten. Noch immer vernebelte seine kraftvolle Aura den Raum. Sie schien mich an meinem Vorhaben zu hindern, denn als ich durch sie hindurch trat, legte sie sich auf meine Haut wie ein Fangnetz; vergebens. Ich wollte mich nicht beirren lassen und lauschte seinen nackten Füßen, die gerade die erste Treppenstufe in das untere Stockwerk nahmen.
Mein Vertrauen zu Alexander war unerschütterlich und so durfte er stets tun und lassen was er wollte. Wenn er also mit jemanden etwas wichtiges zu besprechen hatte, war ich die Letzte, die ihn dabei belauschte. Heute kam ich allerdings nicht umher eine Ausnahme zu machen.
Leise und anmutig schlich ich ihm nach. Die Neugier war einfach zu groß. Wie ein Lauffeuer ergriff es jede Zelle meines Körpers und trieb sie an. Alex´ sehr sensible Auffassungsgabe musste ich geschickt ausweichen. Leichtfüßig wählte ich meine Schritte genau aus und hoffte, dass mich niemand bemerken würde. Viel zu peinlich wäre die Vorstellung, wenn mich einer dabei ertappte, wie ich hinter meinem Mann hinterher schlich. Es war eine Sache anmutig über den Boden zu gleiten, aber eine ganz andere auf Zehnspitzen und in geduckter, verräterischer Haltung den Flur entlang zu schleichen. Da würde mir keine Ausrede der Welt helfen können.
An der Treppe machte ich einen kurzen Stopp und konzentrierte mich erneut.
Zum Glück kam aus Marcs Zimmer wieder die alltägliche Terrormusik und das laute Dröhnen von einem Maschinengewähr. Er erfasste die untere Eben wie ein Erdbeben und erstickte fast jeden anderen Ton im Keim. Einfach Musik in meinen Ohren! Bis vor kurzem hätte ich noch geflucht, doch jetzt kam es mir einfach nur gelegen!
Hastig zischte ich die Stufen herunter und eilte zur nächsten Treppe. Mein Opfer durchschritt gerade nichtsahnend das Wohnzimmer und ich grinste breit. Zu irgendwas musste seine damalige Ausbildung ja gut gewesen sein. War es nicht immer so, dass der Schüler irgendwann seinen Meister übertraf?
Ein dumpfes Geräusch deutete darauf hin, dass Alexander die Treppe zum Keller mit einem Zug herunter gesprungen war und es kam mir einmal mehr so vor, als wenn er es richtig eilig gehabt hatte. Zwar war noch Zeit geblieben die Tür zu schließen, aber trotzdem verankerte sich dieser Gedanke so fest in mir, wie nichts Gutes. Ich musste Acht geben, dass er mich nicht vergiftete.
Wie ein Blitz schnellte ich die Treppe herunter, stoppte vor der Tür und lauschte dem Geschehen. Sehr leise und wie durch eine dicke Wand aus Watte, drangen ihre Stimmen an meine Ohren.
››Da bist du ja endlich wieder. Alles platt gemacht im Wald?‹‹, fragte Li ihn mit lachendem Ton und schien seinen Ledersessel leicht auf dem Boden entlang zu rollen.
››Was hast du herausgefunden?‹‹, überging Alex seine Anspielung forsch. Seine Anspannung musste den Raum derartig ausfüllen, dass nichts mehr im Inneren Platz fand. Sie drückte sich förmlich durch die Türritze hindurch und überschwemmte mich wie eine überdimensionale Welle.
››Es ist genau das passiert, was du vorher gesehen hast.‹‹
››Verdammt! Ich hab es dir doch gesagt! … Wie schlimm ist es?‹‹ Seine Stimme war gehetzt und empört. Langsam bestätigte sich mein Verdacht, dass es sich hier um etwas extrem wichtiges handeln musste.
››Er ist auf dem schnellsten Weg zurück nach Italien, so viel steht fest. Außerdem habe ich herausgefunden, dass es verdammt viele Unruhen in den Grenzgebieten gibt. Gerüchte sprechen sogar davon, dass die Waffenruhe offiziell erloschen sei.‹‹
Ein dicker Kloß schob sich schmerzhaft in meinen Hals und ich bürgte mir in diesem Augenblick die gesamte Verantwortung auf. Darum ging es also. Alex machte sich Sorgen um unseren Vertragsbruch und den Aufruhr, den wir im Werwolfsterritorium veranstaltet hatten. Damals hatten wir keine Möglichkeit gesehen anders aus der Sache herauszukommen, doch brachen nun die Vorwürfe aus mir heraus wie ein schlechtes Feuerwerk. Vermutlich handelte es sich bei den Unruhen um etliche Tote. Anders konnte ich mir Alexanders Verschweigen nicht erklären.
Von dem Gedanken zerfressen formten sich Bilder in meinem Kopf, die mich erdrückten. Schützend legte ich eine Hand auf meine Lippen. Ich durfte mich nicht verraten, aber ich spürte, dass ein quälender Laut versuchte sich einen Weg aus meiner Kehle zu bahnen. Leise schluckte ich ihn herunter. Ich glaubte fast an meinem Speichel zu ersticken, denn der Kloß ließ kein Schlucken zu. Was genau waren das für Unruhen? Und wollte ich es wirklich wissen? Unruhig biss ich mir auf die Unterlippe.
Fast so, als hätte ich meine Frage auf ihn übertragen, hakte Alexander nach: ››In wie weit äußern sich die Unruhen?‹‹
Li antwortete nicht sofort und ließ einige Sekunden vergehen. Dies war nur ein Beweis dafür, dass ich es wirklich nicht wissen wollte. Er macht sonst nicht gerade einen Hehl darum, was in der Welt so alles grausames passierte. Li hatte selbst als Samurai so viel Blut, Tod und Verrat gesehen, dass er einfach abgehärtet war. Manche Gefühle waren ihm völlig fremd geworden, was er selbst sehr beteuerte, aber nicht ändern konnte oder wollte. In gewisser Hinsicht brachte es auch seine Vorteile mit sich.
››Es gibt direkt an den Grenzen viele blutige Ausseinandersetzungen. Wölfe überschreiten sie und suchen Streit. In ihren Augen seien es die Vampire, die sich nach einem neuen Krieg sehnen würden. Die Menschen versuchen es in den Nachrichten eher als religiösen Kleinkrieg abzustempeln. Doch langsam machen kleine Journalisten nette Artikel daraus.‹‹
››Ich verstehe. Aber auch die Nachrichten bohren weiter, das solltest du nicht vergessen! Die Journalisten sind wie Aasgeier. Wenn sie auch nur einen kleinen Bissen erhascht haben, suchen sie weiter und weiter. … Und was unternehmen sie dagegen?‹‹ Alex sprach das Wort sie so seltsam befremdlich aus und vielleicht war es genau diese Art, die mir prompt zu verstehen gab, wen er damit meinte: die Maguire!
››Hm, du meinst, weil man glauben könnte unser geheime Existenz sei nicht mehr gewahrt? … Genau genommen ist das alles noch unklar. Ich weiß nicht in wie weit sie sich einmischen wollen und wie weit ihre Arme bereits reichen. Allerdings hoffe ich, dass es kein Blutbad geben wird. Du weißt selber, wie das ist wenn die beiden Seiten aufeinander prallen. Wir sind hier Gott sei Dank etwas abseits. Die Wölfe müssen über den großen Teich zu uns herüber, sie werden also erst den Weg des geringsten Widerstandes gehen.‹‹
Alex begann zu gurgeln und schien nicht ganz seiner Meinung zu sein. ››Nicht unbedingt. Auch sie sind nicht auf den Kopf gefallen, sie werden sicher schon herausbekommen haben, dass sich die eigentlichen Vertragsbrüchigen hier befinden, beziehungsweise in den USA. Ich gehe jede Wette ein, dass dein werter Privatjet wohl niemanden entgangen ist.‹‹
››Mach dir nicht so viele Sorgen. Ich hab versucht alle Spuren, die zu uns führen könnten, zu verwischen. Ich bin gründlich, das weißt du!‹‹, legte Li energisch nach. Jeder im Haus wusste um seine guten Fähigkeiten und er selbst untermalte sie auch gerne, das war ebenfalls bekannt. Kurz darauf glaubte ich zu hören, wie er seine Hand freundschaftlich auf Alexanders Schulter legte. Auch wenn er noch längst nicht so aufgebracht war wie Alex, war Li ebenfalls leicht beunruhigt, dass konnte ich bis hierher spüren. Er wollte es nicht zeigen, aber seine Gefühle brachten eine regelrechte Woge der Unsicherheit mit sich, die sich mit der Anspannung von Alexander mischte. Jedes Wort, was ich hörte, bereitete mir Schmerzen.
Lautlos versuchte ich zu seufzen. So sehr hatte ich gehofft, die Vergangenheit hinter mir lassen zu können. Nicht einen Gedanken hatte ich daran verschwendet, dass ein erneuter Krieg ausbrechen könnte. Erst recht nicht ein Krieg wegen mir! Wie naiv ich doch war! Verschloss die Augen vor dem Offensichtlichen!
Erfolgreich hatte ich diesen Weg verdrängt, den ich hinter mir gelassen hatte. Verstaut in den letzten Winkeln meines Unterbewusstseins sollte er nie wieder ans Tageslicht gelangen. Nun brodelte es gewaltig in meiner Brust und ich legte die freie Hand darauf, da die andere noch immer meinen zitternden Mund umschloss. Alex hatte es verheimlicht, weil er mich schützen wollte. Sicherlich hatte er gewusst, dass mich diese Gegebenheiten aufwühlen würden und jetzt hatte ich all seine heimliche Arbeit zu Nichte gemacht. Dennoch kümmerte mich dies wenig. Schließlich sollte es keine Geheimnisse zwischen uns geben und auch dies hier wäre sicherlich leichter zu verdauen gewesen, wenn er es mir selber gesagt hätte; wenn seine beruhigende Stimme sich selbst meiner angenommen hätte.
Der bittere Geschmack von Schuld und Frust breitete sich in meinem Mund aus. Er schien allgegenwärtig zu sein und belagerte jede Zelle meines Körpers. Traurigkeit umfing mich und zog die Mundwinkel weit nach unten, auch meine Arme erschlafften und baumelten verlassen an den Seiten herunter.
Ich glaubte genug gehört zu haben; glaubte nicht mehr verkraften zu können. Auf dem Absatz machte ich kehrt und wandte mich von der Kellertür ab.
››Und was ist mit Carlos?‹‹, fragte Alexander urplötzlich und ich erstarrte in der Bewegung zu einer Eisskulptur. Gegen die Vernunft meine Tarnung aufrecht zu erhalten und einfach zugehen, blieb ich stehen. Gewaltsam riss ich meine Augen auf und lauschte weiter. Ich unterdrückte jeden hastigen Atem, brachte jede Kraft auf um nicht einen verräterischen Laut zu machen. Denn was dieser Name in mir hervor rief war alles andere als gut. Er war der Teufel in Person. Ein lebloses aber dennoch gefährliches Stückchen Hölle, welches auf diesem Planeten wandelte und dem ich nicht nur einmal zum Opfer gefallen war!
››Wie gesagt, er war nach unserem Kampf zurück nach Italien gegangen. Vermutlich um Bericht zu erstatten. Anschließend wurde er das nächste Mal an der Grenze gesichtet. Ich bin mir auch nichts sicher, ob er nach seinem missglückten Auftrag nun als Wache dort postiert worden ist, oder es um etwas anderes geht.‹‹
Alex dachte nach, das fühlte ich bis zu meiner verharrenden Position. Seine aufgebrachte Aura strömte auf mich ein, wie die unbändigen Wellen des Meeres vor unserer Haustür. Ganz im Gegensatz zu eben waren sie ungestüm und ungleichmäßig. Er konnte sich nicht entscheiden welchem Gefühl er sich mehr hingeben sollte.
Innerlich betete ich, obwohl ich nicht an Gott glaubte, dass er meine Empfindungen nicht auch so zu spüren bekam, wie ich die seinen. Aber ich sah mich im Vorteil, denn Alex war viel zu beschäftigt, als das er sich auf mich konzentrierten würde und noch immer hielt ich daran fest, dass er der Meinung war, das ich mich in unserem Zimmer befand.
››Bitte behalte sie weiterhin im Auge. Das gefällt mir einfach nicht. Ich kenne die Maguire wohl besser, als viele andere hier und doch weiß ich nicht, wie sie bei einem Vertragsbruch von unserer Seite reagieren. Vielleicht versuchen sie die Gegebenheiten auszunutzen, wie Carlos es bei unserer Flucht auch getan hat. Wir müssen einfach auf alles vorbereitet sein!‹‹ Immer wieder zuckte ich widerwillige bei seinem Namen zusammen. Mein Magen verkrampfte sich und ich glaubte die Galle bereits in meinem Hals zu spüren, als ich abermals Lis Stimme vernahm. Ruhig und bedacht redete er auf Alex ein: ››Sicherlich, aber wie lange soll das noch gehen? Wie lange willst du Sarah etwas vormachen? Wenn wirklich etwas passieren sollte, willst du ihr Glück so einfach über den Haufen hauen? Berichte ihr doch einfach über deine Sorge, dann ist sie diesbezüglich auch vorbereitet.‹‹
››Auf keinen Fall!‹‹, entgegnete er energisch und übermäßig laut. ››Sie hat genug durchgemacht. Ich will sie nicht noch mehr belasten. Jetzt, wo sie hier ist, ist sie glücklich. Jeden Tag sehe ich sie mehr strahlen. Versteh doch, ich will ihr das nicht alles nehmen. Vielleicht passiert gar nichts und ich hätte sie umsonst in Sorge gebracht. Sie würde sich viel zu sehr den Schmerz aufbürgen, bei allem was dort vorfällt und auch du kannst nicht wissen, wie es in den Grenzgebieten weitergeht. Bitte, versprich mir, dass du ihr nichts davon sagst!‹‹
››Ja, versprochen‹‹, gab Li seufzend zurück und ich machte mich schnellstens auf zu verschwinden. Wie ein kleiner Luftzug pfiff ich durch den Raum, öffnete lautlos die Verandatür und huschte in Celests Garten, der am Haus angrenzte. Ich brauchte Platz; viel Platz, um den Worten aus dem Keller zu entfliehen. Sie griffen nach mir wie schemenhafte Geister. Als ich dem Torbogen mit seinen weißen Rosen näherte und mich eigentlich der Zuflucht glaubte zu nähern, erschien mir auch das reine Weiß wie vorwurfsvolle Fangarme.
In den etlichen Blumenranken, Büschen und verwinkelten Pfaden hoffte ich Ruhe vor meinen brodelnden Gedanken zu finden. Die Brust hob und senkte sich gewaltsam und schmerzhaft. Mein Kopf kämpfte gegen die drohende Ohnmacht an, die energisch versuchte mich in die Dunkelheit zu ziehen. Schritt für Schritt rannte ich den kleinen, schmalen Weg entlang. In diesem Augenblick verstand ich Celest wirklich gut. Für sie war ihr Garten eine Zuflucht vor ihren Gefühlen und eine Ablenkung davon, was sie für seelische Schmerzen in sich trug. Hier konnte man sich verstecken, wenn einen keiner finden sollte. Hier konnte man sich der Zeit ergeben. Sie hatte diesem Garten Leben eingehaucht; ihm ein Stückchen ihrer Seele vermacht. Irgendwie glich er trotz seinem Hang zur Perfektion einem natürlichen Urwald.
Der Lauf kam mir endlos vor und obwohl sich selten eine Erschöpfung in meine Glieder schlich, schien sie mich dieses Mal sehr schnell einzuholen. Meine Beine wurden schwerer und schwerer und ich begann zu taumeln. Doch egal wie weh es tat, ich musste weiter. Ich zwang mich energisch dazu; biss die Zähne zusammen.
Nur wenige Meter vor mir erhob sich eine große, alte Eiche. Ihre majestätische Aura gaukelte mir vor wie schön es doch wäre, wenn ich hier im Schatten des Baumes endlich zur Ruh käme. Alles in mir kennzeichnete diesen inneren Wunsch mit pochenden Schmerzen in den Füßen und als hätte ich überhaupt nichts dagegen tun können, war ich schon längst zum Stehen gekommen.
Ich lehnte mich gegen den breiten Stamm, ließ mich heruntersacken und kauerte mich zusammen. Der Atem verlief keuchend und schwerfällig. Blanke Verzweiflung, Trauer und Sorge legten sich auf mein Gesicht. Gefühle, die sich gerade brutal in meinen Verstand einzubrennen schienen und mich zerquetschen wollten. Sie packten mein erkaltetes Herz und drückte es zusammen wie eine bittere Zitrone. Verängstigt krallten sich die Hände in das Gesicht.
Alles war so sinnlos in meinen Augen. Ich hatte Frieden und Glück gesucht, doch nun tat sich wieder einmal ein großer Abgrund vor mir auf. Die Sorge fraß sich regelrecht in jede Gehirnzelle und brandmarkte wenige Worte hinein.
Krieg
, den es vielleicht unvermeidlich geben würde und unter dem so viele meinetwegen leiden würden.
Die
Maguire
, die ich gehofft hatte einfach zu vergessen. Viel zu real zogen sich die Erinnerungen von Tod und blanker Massenabschlachtung in mich hinein, wenn ich an sie denken musste. Sie waren ein Schandfleck in der Vergangenheit.
Und dann war da noch ein anderes Wort. Ein Wort, bei dem ich nicht geglaubt hatte es so schnell wieder zu hören. Ein Name hinter dem sich purer Wahnsinn und Gewalt die Hand reichten.
Carlos!
Dieser selbstsüchtige Vampir, dem ich innerlich seinen Tod geschworen hatte! Er hatte das Unglaubliche möglich gemacht, nämlich das ich meine Finger bei ihm schmutzig machen wollte!
Meine zusammengekniffenen Augen taten sich zu Schlitzen auf. Ich konnte Alexander nicht böse sein, denn auf irgendeine Weise war seine Entscheidung richtig. Er wusste genau, dass ich meine Rache um jeden Preis wollte und sie vertrieb etliche andere belastende Gedanken. Zugegeben, ich hatte ihn vergessen. Die Zeit hier hatte mich geprägt und so glaubte ich meinen Schwur in Vergessenheit gewusst zu haben. Jetzt jedoch war er intensiver als jemals zuvor. Weitaus stärker als ein Orkan, der über das Land fegte! Nein! Eher wie eine alte, nicht heilende Wunde, die sich beißend entzündet hatte.
Das Hämmern meines Herzen kam nicht zum erliegen. Es schlug im Einklang mit etwas. Etwas, was gerne zwischen ihren Taten schlief. Doch nun folgte sie voller Inbrunst dem Ruf des Krieges; mein hassgeliebtes zweites Ich. Ja, es schien auch Zeiten zu geben, in denen wir uns einig waren. Nicht umsonst verbanden uns etliche Monate in denen er uns beide gleichermaßen geplagt hatte.
Doch was war mit dem vielleicht bevorstehenden Krieg? In wieweit waren die Unruhen in den Grenzgebieten zu deuten?
Wir müssen mehr erfahren!
Ihre knurrende Stimme zauberte ein leichtes Grinsen auf meine Lippen. Einen kurzen Moment verebbte der Kampf in mir, denn sie wusste gar nicht wie Recht sie damit hatte. Ich durfte keine voreiligen Schlüsse ziehen und musste dringend Ruhe bewahren. Meinen unbändigen Rachedurst würde ich zur Seite stellen müssen. Es hatte keinen Sinn in eine Schlacht zu ziehen, wenn die Fronten unklar und undurchsichtig waren. Schließlich konnte ich nicht wissen, wo genau er sich befand und was ich damit auslösen würde, wenn ich mich zu ihm begab. Ich hatte Verantwortung. Nicht nur für mich, auch für meine Freunde und meine Familie, ich durfte sie nicht gefährden. Nicht schon wieder! Ich hatte einmal versagt und dieser Fehler würde mir nicht wieder unterlaufen!
››Stimmt etwas nicht mit dir?‹‹, fragte plötzlich eine sanfte und liebevolle Stimme.
Erschrocken zog ich meine Hände aus dem Gesicht und blickte auf.
Celest beugte sich besorgt zu mir herunter und legte beruhigend ihre Hand auf meine Schulter. Ihre hellen, braunen Haare fielen gewellt auf meine Schulter, da sie seitlich neben mir kniete. Die dünnen Spitzen kitzelten, da sie vom Wind hin und her getragen wurden.
››Was ist denn los?‹‹, hakte sie erneut nach. Der dunkle Verband verbarg ihre leeren Augenhöhlen, doch ich spürte die Sorgen darin. Sie übertrug sie in leichten Schwingungen durch ihre Berührung. Vielleicht war es sogar gewollt, denn mein Körper entspannte sich reflexartig. Was eben noch einen ekligen Geschmack von Rache in meinem Mund hinterlassen und meine Gedanken vergiftet hatte, war wie weggeblasen. Das Einzige, welches ich noch spürte, war ihre zerbrechliche Anmut.
Schnell schüttelte ich meine unverkennbare Verwirrung ab und lächelte sie an. Ihre Gabe durfte meinen Entschluss nicht offenbaren, das wäre ziemlich verhängnisvoll. Celest hatte ihr Augenlicht verloren und dadurch eine andere Art des Sehens entdeckt. Bei einer Berührung saugte sie Bilder und Emotionen in sich auf wie ein Schwamm. ››Gar nichts.‹‹
Celest legte den Kopf schief und ihre Augenbrauen versanken tief unter der Augenbinde. ››Das sah mir aber nicht wirklich nach Nichts aus, Liebes.‹‹
››Ich hab Kopfschmerzen!‹‹, versuchte ich mich herauszureden und untermalte meine Aussage mit der Reibung an der Stirn.
Celest hob wieder eine Braue an. ››Hm. Ich hab noch nie gehört, dass ein Vampir Kopfschmerzen bekommen kann.‹‹
Panik brach in mir aus. Die Ausflucht war total absurd gewesen und ungewollt presste ich krampfhaft die Lippen aufeinander. Eine verräterische Geste die ich schnellstens versuchte wie ein Feuer zu ersticken, doch ihr war sie sicherlich nicht verborgen geblieben. Trotz ihrer Blindheit war ihre Wahrnehmungskraft einfach unbeschreiblich exakt.
››Ich weiß nicht genau, was los ist, aber du weißt hoffentlich, dass du mit allen Problemen zu mir kommen kannst.‹‹
Hastig nickte ich und ging davon aus, dass ihre Scharfsinnigkeit meinen Reflex auch in diesem Fall verarbeiten würde. Im Gegensatz zu einem blinden Menschen brauchte sie keinen Stock oder einen Blindenhund, ihre Schallwellen waren so empfindlich, das sie ihre Umgebung bis ins kleinste Detail wahrnehmen konnte.
››Dann ist ja gut. Ich will dich nicht drängen oder schon gar nicht nach deiner Verstimmung bohren. Jedoch bitte ich dich, lüge mich nicht an‹‹, gab sie mit einem sanften Lächeln von sich.
››Tut mir leid, das war dumm von mir.‹‹ Meine Stimme war leicht angehaucht von Scham und auch meine Augen kamen nicht umher verschämt auf den Boden zu schauen.
An dem Stamm des Baumes zog ich mich hoch und auch sie richtete sich galant neben mir auf.
››Es ist aber gut, dass ich dich hier gefunden habe‹‹, sie wandte sich von mir ab und trat auf den Pfad. Ein kurzer Blick über ihre Schulter verriet mir, dass ich ihr folgen sollte.
Celest ging langsam und verträumt und dennoch schien sie jede noch so kleine Pflanze mit ihren Schallwellen abzutasten. Immer wieder blinzelte ich zu ihr herüber, denn sie sagte kein Wort. Ihre zerbrechliche Aura umschloss sich von unangenehmer Stille. Sie schien mich gesucht zu haben und ich begann mich zu fragten warum. Ob sie vielleicht auch Bescheid wusste und mit mir darüber reden wollte? Sehr unwahrscheinlich, aber vielleicht doch!?
Als wenn sie meine drängende Frage bereits gelesen hatte, seufzte sie und ihre Lippen öffneten sich. ››Hat er es dir schon gesagt?‹‹
Meine Augen weiteten sich. Die Art wie besorgt sie reagierte, stach mir mitten in die Brust. Sollte es wirklich so einfach sein? Könnte sich wirklich jemand Alexanders Autorität widersetzten und mich auf genau dieses Thema ansprechen? Celest war in diesem Hause die Oberhand, ganz klar, aber sie respektierte stets die Meinungen der Anderen. Gekonnt versuchte ich mich aus der Schlinge zu ziehen und beobachtete jede Regung ihres Körpers genau. ››Äh, was meinst du?‹‹
Sie senkte traurig den Kopf. ››Ich verstehe.‹‹
Stellte sie mich gerade auf die Probe? Hatte ihre Berührung vielleicht doch meine Empfindungen aufgeschnappt und wollte sie mich nun zur Rede stellen? Es machte mir Angst. Ich wollte nicht, dass sie über mein Lauschen von eben Bescheid wusste. Die Vorstellung war einfach zu peinlich und sicherlich viel zu enttäuschend für Celest selbst.
››Was ist denn los? Du bist ja plötzlich ganz aufgebracht?‹‹
Gleichmäßig versuchte ich wieder ein und aus zu atmen. Mein Gemütszustand verbesserte sich jedoch nicht und auch mein Herz schlug gewaltig hart gegen meine Brust. Energisch biss ich mir auf die Unterlippe und hoffte alles mit einem kurzen Schmerz zu betäuben, aber auch dies misslang mit kläglich.
Da lachte Celest und ich schaute erschrocken zu ihr auf.
››Tut mir leid, ich spanne dich hier auf die Folter‹‹, zog sie die falsche Schlussfolgerung und ich entspannte mich prompt. Meine eben noch so versteiften Gliedmaße erschlafften und hinterließen einen leichten Druck, der mich an meine Situation erinnerte. Ich kam mir vor wie in Ebbe und Flug gefangen; meine Gefühle warfen mich hin und her.
››Ich denke, du solltest wissen was heute für ein Tag ist.‹‹
Mir viel ein Stein vom Herzen, denn es schien rein gar nichts mit dem zu tun zu haben, was ich eben noch in Erfahrung gebracht hatte. So durcheinander wie ich mich fühlte, verdrehten sich die Augen. Doch dann bemerkte ich ihren fragwürdigen Ausdruck um die Mundwinkel herum. Auch wenn es nicht das war, was mich beschäftigte, schien es dennoch nichts Schönes zu sein.
››Heute, vor so langer Zeit‹‹, setzte sie an und machte eine Pause, in der sie die Zähne zusammen biss und abrupt stehen blieb, ››da wurde Alexander geboren.‹‹
››WAS?‹‹, kreischte ich hysterisch auf. ››Er hat heute Geburtstag!? Ich dachte, er wüsste es nicht mehr. Wieso hat mir das keiner gesagt?‹‹
››Weil es somit auch der Todestag seiner Mutter ist.‹‹
Das hatte ich vergessen und es traf mich wie ein herber Schlag ins Gesicht. Alexanders Mutter war bei seiner Geburt gestorben. Die Kraft eines Halbwesens hatte sie zerrissen und erbarmungslos getötet. Mein Mund blieb offen stehen und wurde der Worte müde.
››Ich wollte, dass du das weißt, denn ich vermute, dass er heute zu ihrem Grab gehen wird. Heute wird es wohl das erste Mal seit Jahrzehnten sein, in denen er nicht alleine geht. Ich vermute, er möchte dich dabei haben.‹‹
Zitternd suchte ich nach Worten und meine Stimme begann zu beben: ››Oh, … davon hatte er wirklich nichts gesagt.‹‹
››Hab keine Angst, er ist standhaft. Es ist schon zu lange her, jedoch wirst du sicher eine völlig neue Seite von ihm kennen lernen.‹‹
››Und es ist nie einer mit ihm mitgegangen?‹‹, fragte ich und schluckte.
Celest schüttelte langsam und bedacht den Kopf. ››Er wollte stets alleine sein. Alex ist stark und er möchte nicht, dass irgendjemand seine weiche Seite kennt. Keiner außer dir natürlich.‹‹
Ich rang mir ein kurzes Lächeln ab. Auf der einen Seite sollte es mich doch erfreuen, denn er zog mich allen anderen vor. Doch die andere Seite war von Sorge gebrandmarkt. Ich fühlte mich nicht in der Lage einen klaren Kopf zu bewahren.
Innerlich sprach ich tausend Verwünschungen aus. Warum gerade heute? Warum musste ich gerade heute von meiner Neugier überwältigt werden und diesen Tag noch anderweitig beflecken?
Celest deutete meine Sorge natürlich falsch und streichelte mir über den Arm. Irgendwie zerbrach gerade tief in meinem Unterbewusstsein ein großer Spiegel. Seine winzigen Splitter schossen umher wie Geschosse und deuteten auf sieben Jahre Pech und Unglück hin, denn genauso fühlte ich mich auch. Elend, weil ich gelauscht hatte. Elend, weil ich doch meinen Rachegelüsten erlag und Alex so oft gesagt hatte, ich sollte stärker also die bloße Dummheit sein. Und Elend, weil ich nun begriff, dass gerade er weitaus andere Dinge im Kopf haben musste, als mich von irgendwelchen Fakten fern zu halten. Trotzdem tat er es, weil er nicht nur mich damit schützen wollte. Er musste so unendlich viel Kraft aufbringen. Gerade heute am Tag des Todes seiner Mutter, brauchte er mich mehr als sonst. Da war ich mir sicher!
Alexander hasste sich dafür, sie auf dem Gewissen zu haben. Er sprach so gut wie nie von ihr, aber wenn er mir einen kurzen Einblick in seine Vergangenheit gewährte, waren die Worte aus tiefster Liebe und Zuneigung gesprochen. Sein Schmerz war tief und würde vermutlich niemals heilen. Kein Heilungsprozess auf der ganzen Welt mochte das vollbringen, denn er war gewaltsam um all die Jahre mit seinen Eltern betrogen worden.
Ich musste stark sein; für ihn! Dem Instinkt folge leistend riss ich das Kinn nach oben und straffte mich. Egal wie sehr mich die eben gesprochenen Worte und Taten aufgewühlt hatten, für heute musste ich dieses Kapitel des Buches schließen.
Manchmal dachte ich die Irrwege des Gartens führten nie zu einem Ausgang. Viele Ecken und Winkel sahen sich ähnlich und der verwirrende Duft der Pflanzen war allgegenwärtig. Sich hier an Gerüchen zu orientieren war unmöglich. Genau genommen bereitete mir dieser Ort ein bisschen Angst. Das Leben hier schien anders zu verlaufen. Die Pflanzen waren lebendig. Ich glaubte sogar, dass die Wege sich stets veränderten. Für Celest allerdings war der Pfad eindringlich. Sie folgte ihm wie einem Faden, ohne bei einer Gabelung fangend in die Richtungen zu blicken.
Zielstrebig trat sie aus dem Bogen heraus und führte mich zurück zum Haus, wo Alexander bereits auf der Veranda den gesamten Umkreis nach mir abgesuchte. Als er mich bemerkte, atmete er erleichtert aus und lehnte sich an den Pfosten des Verandadaches.
››Sie war bei mir‹‹, beantwortete Celest seine unausgesprochene Frage und er schaute hektisch zu mir.
››Flora hat dir eine SMS geschrieben. Sie kommt heute mit Marie vorbei‹‹, gab er mit einem leichten Unterton von sich. Celest und ich nickten fast gleichzeitig. Es kam nicht oft vor, dass Flora sie mit nach Hause brachte. Sie wusste unser Geheimnis gut zu wahren. Wenn sich die beiden Freundinnen trafen, dann meinst bei Marie, jedoch konnte dies kein Dauerzustand sein. In diesen Fällen gab sie schnellstmöglich Bescheid. Für uns alle kam diese Mitteilung einem Befehl gleich. Es galt die roten Augen zu verdecken und etwas Flüssigkeit zu uns zu nehmen.
Im Haus hatte Alexander bereits mehrere große Gläser prall gefüllt und sie auf dem Wohnzimmertisch positioniert. Josy saß auf dem langen Sofa und schüttete die rote Flüssigkeit hastig hinunter.
››Immer diese Eile!‹‹, maulte sie in einem kurzen Atemzug. Bei Lis Anblick, direkt neben ihr, zuckte ich ein wenig zusammen und seufzte. Nein! Keine Erinnerung mehr an das Thema von eben! Schnell schnappte ich mir ein Glas und setzte zum Trinken an, um auch die Bilder zu ertränken.
Elest kam die Treppe herunter gestürmt. In eine Latzhose gepresst, stand sie im extremen Gegenteil zu ihrer Schwester Celest. Die Eine dünn, zerbrechlich und anmutig, die Andere breit gebaut, stämmig und etwas plump. Aber trotzdem war sie nicht dick, sie schien lediglich den überflüssigen Speck ihrer Schwester vererbt bekommen zu haben. Die ungleichen Schwestern des Hauses, immer wieder ein unglaublicher Anblick.
Elest zog einen Schweif von Farbgeruch hinter sich her, wo mir wieder unser Zimmer in den Sinn kam. Ihre blaue Latzhose war mit etlichen Farbklecksen besudelt und jedem war klar, dass sie wieder einmal an einem Kunstwerk arbeitet. Sie war hochbegabt was künstlerische Malerei anging. Vermutlich hatte sie prompt bemerkt, was los war, als ihre Schwester es erfahren hatte. Sagte man der einen Schwester etwas, wusste es die Andere im selben Moment. Schwestern nach Außen so ungleich und doch eins! In den wenigen Wochen, die ich nun schon hier verbringen durfte, war ihre Verbindung noch immer ein Rätsel und vermutlich würde es dies auch stets bleiben. Es war so unwirklich, dass beide das Selbe fühlten und sogar sehen, hören und riechen konnten.
Auf der anderen Seite, was war schon in einer Vampirfamilie normal?
Schließlich gesellte sich auch noch Grayson zu uns. In einem Achselshirt blitzte seine farbige Haut unter dem weißen, leichenblassen Vampirschleier hindurch.
››Was ist mit Marc?‹‹, fragte er beiläufig, als er sich in der Runde trinkender Vampir umschaute. Gedankenverloren, als war ihm die Antwort nur zu gut bekannt, strich er sich durch das lange, schwarze Haar und nahm sich ein Glas.
››Er meint, dass er sich einschließen wird.‹‹ Alex zuckte mit den Schultern und Grayson fiel dazu nur ein bissig ausgesprochenes Wort ein: ››Suchti!‹‹
Nickend stimmten alle mit ein und erlagen dann einem gemeinsamen Konzert des Lachen. Dies wurde jedoch abrupt von drohendem Knurren abgelöst, als die Decke über uns zu vibrieren begann. Marc hatte seine glänzende Abwesenheit nun mit lautem Getöse unterstrichen. Es war einfach nicht zum Aushalten! Ich konnte nur hoffen, dass er nicht wirklich durstig war, denn seine dünne Tür würde ihn wohl niemals zähmen können.
››Irgendwann schmeiße ich ihn hochkannt raus‹‹, grummelte Gray.
››Ich glaube das bringt nichts, der findet auch eine andere Möglichkeit um uns zu nerven‹‹, stimmte Li mit ein und lehnte sich zurück. Genussvoll schwenkte er sein Glas und schien sich bei der Betrachtung des Blutes seinen Gedanken hinzugeben. Erneut fluchte ich innerlich. Ich glaubte die selben Bilder wie er zu sehen, die sich in seinem Glas reflexartig zu materialisieren begannen. Blaue und rote Lichter, die aufeinander prallten und mit dem blutroten Inhalt eins wurden.
Meine Hand umklammerte das Glas fester und ich rang mit ruhigen Atem nach Beherrschung es nicht zu zersplittern. Der letzte Schluck sollte die Wut überschwemmen und ersticken.
Kurz darauf ließen wir unsere blutbesudelten Gläser verschwinden. Jeder huschte auf sein Zimmer und setzte sich seine Sonnenbrille auf. Josy tat es Marc gleich und schloss ihr Zimmer ab. Sie redete auf Alestor und Shila ein, dass sie leise sein sollten, um gegenüber dem Besuch unglückliche Fragen zu vermeiden. Bei den Welpen machte sie sich überhaupt keine Sorgen. Diese fiepten nur leise und würde kein Aufsehen erregen. Die anderen Vampirwölfe rannten aus dem Haus und vergnügten sich im angrenzenden Wald. Sie würden auf die Jagd gehen und ihren tierischen Durst stillen.
Sonnenbrillen im Frühjahr und gerade keine Sonne in Sicht. Sie wurde von einer erst kürzlich entstandenen, dünnen Wolkendecke verdrängt und nur schemenhaft schaffte sie es hindurch zu brechen. Irgendwie traf Marie allzeit die Tage, an denen es ziemlich paradox war sich vor schädlichen Strahlen zu schützen. Marie war es gewohnt. Von Flora hatte ich bereits erfahren, dass sie mehrere Male nachgefragt hatte, warum wir solche Brillenfanatiker waren. Sie hatte versucht Marie davon zu überzeugen, dass wir der Mode unterworfen waren.
Alexander und ich schauten aus dem Fenster und beobachteten die Straße. Wir befanden uns auf dem großen Flur im unteren Bereich. Dieser wurde von einer langen Garderobe gesäumt. Sorgfältig hingen die unterschiedlichsten Jacken an ihren Haken und wenn man die Personen dieses Hauses einigermaßen gut kannte, konnte man jede ihrem Besitzer zuordnen.
Der Herr konnte nicht still halten. Er bewegte sich unruhig auf und ab und machte mich verdammt nervös. Seine sonst so lautlosen Schritte waren nicht verschwunden. Die Sohlen quietschten und es war ihm sichtlich egal.
Während ich auf den Besuch wartete, setzte er immer wieder an etwas zu sagen. Alexander blieb stehen, öffnete seine Lippen und hob andeutend seine Hand. Nur wenige Sekunden darauf seufzte er und lies die Hand fallen. Das Spiel begann von neuem. Ohne den Blick von der Straße abzuwenden, verdrehte ich die Augen, damit er es nicht sah. Seit ich ihn kennengelernt hatte, war im Hinblick des Vampirdaseins nur wenig Zeit verstrichen. Trotzdem kannte ich ihn besser, als viele Andere. Es war so offensichtlich wie eine ohrenbetäubende Sirene, dass ihm etwas auf dem Herzen lag und er wieder einmal nicht über seinen Schatten springen konnte.
Um ehrlich zu sein, anfangs hatte es mir Vergnügen bereitet ihn wie ein Fisch am Haken zappeln zu lassen. Auch wenn ich es nicht wollte, verdaute mein Magen das Gespräch von vorhin immer noch nicht. Aber jetzt wurde sein Trampeln langsam lästig.
››Ich weiß es bereits, du brauchst dir nicht einen abquälen‹‹, sagte ich ruhig und besänftigend. Langsam drehte ich mich zu ihm herum und lächelte.
Alex stand stocksteif wenige Meter von mir entfernt und musterte mich fragend. Sein Kopf war auf die Seite gerutscht und er schien nicht wirklich zu wissen, worauf ich hinaus wollte. Ehe er nachfragen konnte, war ich mit einer geschickten Bewegung bei ihm und legte meine Finger auf seine Lippen. ››Celest hat es mir gesagt. Sei ihr nicht böse, sie wollte mich nur darauf vorbereiten, damit ich nicht allzu bestürzt bin.‹‹
››Dann wirst du mich nachher begleiten?‹‹, nuschelte er zwischen meinen Fingern hindurch.
Ich nickte zaghaft. ››Ich bin mir deiner Trauer bewusst und sicher ist der Weg zu ihrem Grab jedes Jahr aufs neue eine Herausforderung für dich und dieses Mal sollst du nicht alleine gehen.‹‹
Er grinste mich fad an und ich küsste meine Finger, die noch immer auf seinen Lippen ruhten. Es kam einer kleinen Folter gleich, den Kuss in meiner Nähe und doch noch zu weit entfernt zu wissen. Sehr langsam glitten meine Finger herunter und zogen seine Unterlippe sachte mit.
Mir war klar, warum er sich so gegen die Aussprache dieser Worte sträubte. Alexander hatte Angst. Er konnte nicht wissen, wie ich darauf reagieren würde. Wusste nicht, wie er selbst auf mich wirkte. Es war Neuland für ihn. Etwas, was er sich wünschte, aber so auch wusste, dass er einen weiteren Vorhang vor mir verlor.
Nun erschlafften seine angespannten Muskeln und er schlang seine Arme um meine Taille. Er war heilfroh und übertrug all seine Zufriedenheit in diese Berührung.
››Ich wusste nicht wie du darauf reagieren würdest. Nach allem was dir widerfahren ist, konnte ich nicht wissen, ob du mich zu
meiner
Mutter begleiten würdest.‹‹
Mit seiner Nase zog er meine Wangenknochen nach.
››Es ist okay.‹‹ Es sollte leidenschaftlich klingen, doch meine Stimme versagte dabei fast. Seine Mutter hatte ein Grab in der Nähe, welches man besuchen konnte. Meine Mutter jedoch...
Dann hörte ich einen Wagen. Die letzten Meter rollte er langsam aus und es quietschte, als die Handbremse angezogen wurde.
››Sie sind da‹‹, merkte ich an, als er meine rechte Wange küsste. Jetzt nachdem etwas ausgesprochen worden war, womit er ein enormes Problem gehabt hatte, schien er die Ankunft zu verfluchen. Der verschobene Mundwinkel war unverkennbar. Die Zweisamkeit fand abrupt ihr Ende. Mir machte es rein gar nichts aus, mir war nicht so recht nach Liebeleien, denn das heutige Magengeschwür wühlte mich auf.
Ich zupfte meine blonden Haare und meine Sonnenbrille zu Recht, die Alexander durch seine zärtliche Nähe leicht verschoben hatte. Tänzelnd suchte ich mir den Weg über den Flur und öffnete einladend die Eingangstür.
Flora warf gerade die Tür ihres silbernen Audi A3s zu, als Marie uns schon freudig begrüßte. ››Hallo Sarah, hallo Alex!‹‹
Der Duft von menschlichem Blut erfüllte die Luft. Das Hämmern ihrer beiden Herzen war Musik in meinen Ohren und ich spürte den klebrigen Speichelfluss. Ich fühlte mich wie ein Fels in der Brandung, während jeder Herzschlag wie eine Flutwelle über mich hereinbrach. Auch wenn ich getrunken hatte, würde ich die Reflexe wohl nie abstellen können. Ich war, was ich war.
Flora rief bei mir so etwas nicht hervor, sie kannte ich zu gut und hatte sie in mein Herz geschlossen. Marie mochte ich auch sehr, aber war sie noch immer sterblich und in gewisse Weise meine Beute. Eine Beute, die ich nicht so sehr liebte wie Flora.
Marie war ein Mädchen mit schulterlangem, braunem Haar. Sie war etwas dicklicher, aber mit ihren siebzehn Jahren schon ziemlich groß. Doch heute war irgendetwas anders, als sonst. Verzweifelt begann ich in ihrem Mondgesicht zu suchen, was mich stutzig machte und prompt meine Aufmerksamkeit zu erlangen schien.
››Hey, brauchst du keine Brille mehr, Marie?‹‹ Alex hatte es mal wieder haarscharf erkannt. Die Brille, die sonst ihr Gesicht leicht entstellte, weil sie viel zu dick war, saß nicht mehr auf ihrer Nase.
››Ich habe mir Kontaktlinsen besorgt, sieht erstens viel besser aus und ich kann wesentlich besser gucken‹‹, sagte sie überglücklich. ››Erst habe ich mir überlegt, ob ich mir nicht farbige besorgen soll, aber eigentlich ziemlich albern, oder?‹‹
››Also ich finde deine Augenfarbe total toll. Ich hätte gerne so ein giftgrün wie du‹‹, sagte Flora.
Das ist doch die Idee!
Die Stimme zischte wie eine aufgescheuchte Schlange durch mein Unterbewusstsein. Als zustimmende Reaktion nickte ich und zuckte prompt im selben Augenblick zusammen. War es aufgefallen? Auch wenn ich keine Selbstgespräche führte, war es dennoch recht auffällig gewesen.
Wir hatten die gleiche Eingebung in diesen Moment und schon bereits zum zweiten Mal waren wir einer Meinung gewesen. Das war nun wirklich extrem selten! Farbige Kontaktlinsen als Ersatz von lästigen Sonnenbrillen. Vielleicht könnten sie meine katzenhaften Vampiraugen überdecken. Das wäre ein riesiger Schritt, wenn ich Carlos jagen würde und mich unerkannt in der Öffentlichkeit zeigen musste.
Für eine längere Zeitdauer war ich abwesend. Ich bemerkte nicht einmal wie ich zu einer Säule erstarrte und ins Leere guckte. Erst als Alex mich anstupste, um sich zu vergewissern, ob noch Leben in mir war, wachte ich auf.
››Äh, sorry‹‹, zitterte meine Stimme und Flora lachte über meine auftretende Scham.
››Ich mach uns erst einmal was zu essen, wir haben einen Bärenhunger!‹‹ Sie flutschten beide zwischen uns hindurch und mein Kopf folgte ihnen ruckartig wie ein Roboter. Aus irgendeinem Grund waren die Reflexe noch verkalkt und schwerfällig.
››Was war das denn?‹‹, fuhr Alex mich böse an und ich zuckte unwissend mit den Schultern.
››Ein Wunder, dass Marie deine funkelnden Augen nicht bemerkt hat!‹‹
››Ups.‹‹ Ich biss die Zähne zusammen. Mein überschwänglicher Gedanke musste eine leichte Erregung in meinen Augenhöhlen aufflammen lassen haben, die ich nicht einmal bemerkt hatte. Aber diese Begierde war auch einfach zu klar und süß gewesen, als dass ich ihr hätte entkommen können.
Am späten Nachmittag befand ich mich in Lis Zimmer. Wie so oft herrschte das Chaos in diesen Räumen. Kabel und Drähte lagen auf dem Boden herum. Sie waren zu unzähligen Knoten verworren und machten es einem nicht gerade leicht einen Fuß vor den anderen zu setzen. Mehrere hohe Server standen an einer Wand und waren mit gläsernen Schränken umhüllt. Da Li sie oftmals hoher Auslastung aussetzte, lief das Kühlsystem stets auf Hochtouren. Das permanente Zischen kam schon einer Vergewaltigung der Ohren gleich. Eigentlich glaubte man wenigsten hier vor den Geräuschen von Marcs PC sicher zu sein und dann das! Wie hielt Li das nur aus?
Selbst der Staub machte es sich in diesen vier Wänden sehr bequem. Wie Schnee bettete er seine Umgebung. Lediglich die Tastatur und die vielen Bildschirme vor mir blieben verschont. Unser Computerspezialist war nicht gerade ein Saubermann, aber ein gutes Sichtfeld durfte natürlich nicht fehlen. Allerdings war es schon recht fragwürdig warum er den riesengroßen Monitor, der fast die komplette Wand vor mir vereinnahmte, staubfrei halten konnte und den Rest nicht. Hier war mal wieder ein Frühjahrsputz angesagt!
Unter dem Monster von Monitor waren kleinere in die Wand eingelassen. Da ich nicht wusste wie die anderen Bildschirme zu bedienen waren und ich auch nicht scharf auf eine Großaufnahme meiner Tätigkeit war, begnügte ich mich mit einem der kleineren Modelle. Voller Hast getrieben, tippte ich auf der Tastatur herum und durchbrach damit das Zischen zu meiner Seite.
Ich hatte das Internet nach Kontaktlinsen durchforstet. Die Auswahl war unbeschreiblich groß und somit fiel die Wahl sehr schwer. Bei einem Händler, der sich nur auf farbliche Linsen spezialisierte, war ich schließlich fündig geworden. Bei der Betrachtung der unterschiedlichen Farben und Formen überlegte ich genau welche Augenfarbe am häufigsten auftrat. Ich entschied mich für ein dunkles Schokoladenbraun. In wenigen Tagen würden sie mit der Post eintreffen und ich freute mich schon riesig sie auszuprobieren. Überschwänglich rieb ich meine Handflächen aneinander und zeugte von unbändiger Ungeduld; und vielleicht auch ein bisschen von Wahnsinn.
Am liebsten wäre ich in dieser Sekunde einem Winterschlaf verfallen und erst wieder erwacht, wenn der Postbote vor der Tür klingelte. Aber heute lag noch etwas anderes an und würde all meine Kraft verschlingen.
Etwas vermischte sich mit dem Geräusch des Kühlsystems. Es waren leise, behutsame Schritte, die mein empfindliches Ohr empfing. Sie untermalten meine Gedanken und gaben ihnen einen Sinn.
Schnell schloss ich das Internetfenster und drehte den Ledersessel langsam und geschmeidig zu ihm herum.
Die Hände auf dem Schoß gefaltet und die Beine lässig übereinander geschlagen schaute ich ihm dabei zu, wie er die letzten Stufen nahm.
››Kann es los gehen?‹‹, fragte er mich und steckte die Hände in die Hosentaschen.
››Sicher.‹‹
Ohne ein Wort führte er mich zum Waldrand. Ein tiefer Atemzug füllte seine Lungen und schien ihm die Energie zu verleiben, die letzten Meter zu nehmen.
Plötzlich rannte er los und die Farbe seiner Kleidung hatte ein gewaltiges Problem ihm zu folgen. Für den Bruchteil einer Sekunde verharrten sie in der Luft und vermischten sich nur langsam mit der Umgebung. Hastig tat ich es ihm gleich und hatte Mühe ihn noch einzuholen.
Die Stille um uns herum wurde nur durchbrochen von dem Knacken des Unterholzes. Es wurde getreten und aufgewirbelt. Tiere des Waldes lauschten der Gefahr, die sie in uns sahen. Hier und da schreckten sie auf und entschieden sich zur Flucht.
Mir war nicht klar, was mich erwartete. Ein Grabstein? Eine versteckte Höhle?
Egal, was es auch war, mir drängte sich die Frage auf, ob auch meine Mutter begraben worden war. Wie mein Verschwinden gewertet wurde und ob die Polizei womöglich noch versucht hatte hinter das Geheimnis zu kommen?
In den letzten Wochen hätte ich die Zeit gehabt mich dieser Fragen zu entledigen. Mit Lis Hilfe wäre es sicherlich kein Problem gewesen, aber ich hatte Angst. Angst auf Gefühle zu stoßen, die in einen derben Zusammenbruch enden würden. Tief verschloss ich das Brodeln in mir und doch war mir eines gewiss: Wenn ich mir sicher war, dass ich den Mut aufbringen konnte, ohne Sorge in die Vergangenheit zu blicken, würde ich dieses tun! Das war ich meiner Zeit als Mensch und all meiner Verwandten, Freunden und Bekannten schuldig!
Immer tiefer fegten wir wie zwei Blitze in den Wald hinein. Die Blätter wurden von unserer Luftzirkulation empor gehoben und tanzten in einem langsamen Rhythmus.
Ich verlor mein Zeitgefühl, als wir zum hundertsten Mal die Richtung wechselten. Langsam lag die Vermutung nahe, dass sich Alexander verlaufen hatte, als sich plötzlich ein riesengroßer, majestätischer Baum vor uns erhob.
Alex bremste prompt ab und der aufgewirbelte Staub drückte sich durch die Wucht weit in den Vordergrund. Tief atmete er durch und tastete den Riesen mit seinen Augen ab.
Der dicke Stamm, der etliche Meter breit war, war überwuchert von unzähligen Blumenranken. Sie hüllten ihn in einem bunten Blütenkleid ein und verliehen im eine Schönheit von ungeahnter Größe. Durch das dichte Blätterdach des Waldes drangen nur vereinzelt kleine Sonnenstrahlen. Wie Lampenkegel fielen sie auf die Blütenpracht. Der angestrahlte Staub tanzte wie kleine Diamanten in der Luft. Ein Moment aus purer Magie!
Die großen Wurzeln stachen aus dem Boden hervor und gruben sich hier und da wieder in den Untergrund ein. Es kam einen so vor, als würden sie den gesamten Umkreis beherrschen. Denn auch meterweit entfernt konnte man noch etliche Erhebungen sehen, die sie auslösten.
››Wow, das ist wunderschön‹‹, merkte ich an und näherte mich respektvoll dem Pflanzengeflecht. Nun verstand ich warum er keine Blumen mitgenommen hatte. In dieser Pracht würden sie wie ein Nichts erscheinen. Die Atmosphäre schien jeden Ton zu verschlingen und einer Frau zu gedenken, die ich nie kennengelernt hatte; die wir beide nie kennengelernt hatten!
Um den Baumgiganten handelte es sich wohl um einen uralten Mammutbaum, denn seine Krone zu erfassen, war unmöglich. Reflexartig ging meine Hand an die Stirn und ich blinzelte in die Höhe. Der dicke Stamm wurde von den Baumkronen seiner Nachbarn umringt und ließ kein Ansehen seines Hauptes zu.
Für mich gab es keinen Zweifel: hier hatte Celest ihren grünen Daumen im Spiel! Oder war es gar die Magie eines Menschen, der zu einem Vampir geworden und einen Werwolf in sich getragen hatte? War es gar die Liebe zu ihrem Sohn gewesen, die ein solches Grab hatte entstehen lassen? Egal, was es auch gewesen sei, dieser magische Riese sollte sein Geheimnis behalten!
››Hier war ihr Lieblingsplatz‹‹, sagte eine traurige Stimme hinter mir und durchbrach das Schweigen. Wie ein Sack hörte ich etwas auf das Unterholz fallen.
Auf einer gigantischen Wurzel nahm ich Platz und begutachtete einen gebrochenen Mann. Auf die Knie gesackt schaute er in die Leere. Wie, als wüsste er genau wo sie schlafen würde, guckte er einen imaginären Punkt zwischen den erhobenen Wurzeln und dem Stammansatz an. Seine Hände strichen zaghaft über das Moos, welches sich hier unaufhaltsam über der Erde ausgebreitet hatte.
Ich wollte ihm seine Zeit lassen. Trotzdem war es schwer nicht abwesend zu wirken, denn ich ließ ihn irgendwie mit seinem Schmerz allein.
Sein Gesicht war anfangs ausdruckslos. Er erlag seinen Gedanken.
Als sich dann jedoch blanke und panische Trauer in seine Miene schlich, lenkte ich ein.
››Willst du dich nicht zu mir setzen?‹‹ Demonstrativ tätschelte ich die breite Wurzel und es dauerte nicht lange, da befand er sich auch schon neben mir.
››Das Leben pulsiert hier, hatte sie immer gesagt. ... Jedenfalls hat mir Celest dies erzählt.‹‹
››Das kann ich nachvollziehen, es ist unglaublich. So etwas habe ich noch nie gesehen.‹‹
Er beugte sich über mich und rieb eine Stelle auf der Rinde, die nicht von Ranken verdenkt wurde. Über seinen Arm hinweg warf er einen Blick zu mir herüber. Sein Mund stand zitternd offen und ich streichelte beruhigend seine Wange.
››Man hat sie hier begraben?‹‹, fragte ich in einem Flüsterton.
Er nickte.
››Eigentlich eine sehr emotionale Idee, sicher blüht es nur wegen ihr so schön hier‹‹, versuchte ich ihn aufzubauen.
Doch er seufzte und zog seine Hand wieder zurück. Vielleicht kam es ihm einer Verpflichtung gleich, was ich hier tat, doch dem war nicht so. Ich wollte für ihn da sein, so wie er immer für mich da war. Aber diesen Glauben wollte ich ihm nicht aufdrängen. Vielleicht irrte ich mich auch und würde die Stimmung vergiften.
››Es ist schlimm für mich hier zu sein, auch wenn es gleichzeitig so schön ist‹‹, lenkte er mit fast unhörbarer Stimme ein. Fixierend starrte er auf den Boden und schluckte tief.
››Ich komme nur einmal im Jahr hierher, obwohl sie es viel öfter verdient hätte. Ich ertrag es nicht diesen Ort zu sehen. Es ist ungerecht ein Leben für ein anderes zu nehmen. Und es ist grausam all der Jahre, die ich hätte mit ihr verbringen können, beraubt worden zu sein. So sehr wünsche ich mir sie kennen gelernt zu haben.‹‹
Seine Augen waren so schmerzverzerrt, dass ich befürchtete er würde weinen. Es war wie bei mir, vor nicht all zu langer Zeit. Die Tränen waren versiegt und könnten nie mehr ihrer Tätigkeit, den überflüssigen Druck abzubauen, nachgehen.
››Leben kommt, Leben geht. Leider ist das so. Gestern noch sind die kleinen Welpen von Shila und Alestor geboren worden und nun sitzen wir hier …‹‹ Mittendrin brach ich ab, als ich ihn zusammenzucken sah.
Die Stimmung änderte sich schlagartig wie ein plötzlich entstehender Orkan.
Empört blies er seine Wangen auf und entlud die Wut mit einem Schlag auf der Wurzel. Protestierend bebte und vibrierte sie. Ein paar Blätter kündigten den Protest des Mammutbaumes an und vielen auf das Moos.
››Das ist mir klar!‹‹, schnaubte er von der Seite her wie ein kampfbereiter Stier. ››Aber ich hab sie getötet! Wegen mir musste sie sterben! Du kannst dir nicht ansatzweise vorstellen wie es ist, wenn einen diese Schuld plagt.‹‹ Zornig funkelten mich seine Augen an. Zwei glühende Lavasteine aus wutentbrannter Trauer.
››Du hast doch Amadeus für den Tod deiner Eltern verantwortlich gemacht, so dachte ich jedenfalls. Warum siehst du es nun anders?‹‹
Alex benetzte seine Lippen bevor er weiter sprach: ››Weil ich versucht hab meine eigene Schuld zu erdrücken. Er hatte meinen Vater getötet, aber meine Mutter …‹‹
››… hat er auch auf dem Gewissen, denn er wollte sie töten. Es hat nur nicht ganz geklappt!‹‹
Ein lautes Knurren gurgelte durch seine Kehle und ich wusste, er wollte es nicht hören. Er wollte nicht zugeben, dass ich Recht hatte. Es war einfach ungerechtfertigt, wie er sich für eine Tat verantwortlich sah, die eine völlig andere Person in die Wege geleitet hatte.
››Sie hat dich geliebt, Alex!‹‹
››Und ich liebe sie noch heute, obwohl ich sie nie gekannt habe und das ist der springende Punkt. Es plagt mich, verstehst du das nicht?‹‹ Zitternde Hände suchten nach Halt und ich nahm sie in meine; umklammerte sie und wünschte mir sehnlichst, dass ich sie wärmen könnte. Sehr lange schaute ich ihm in seine schmerzverzerrten Augen und versuchte seine Unruhe damit zu bändigen.
››Du bist nicht daran schuld. Sie wollte dich bekommen, sie hatte dich geliebt und du warst ihr wichtig. Wenn du Hass und Wut auf jemanden lenken solltest, dann auf Amadeus. Er hat ihre Verwandlung in die Wege geleitet und dein Halbdasein gegründet. Aber … wäre alles nicht so gekommen, wären wir uns nie begegnet. Stell dir doch mal vor, du wärst ein reinrassiger Werwolf und würdest gegen mich kämpfen!‹‹
Sein Atem wurde flach und er wandte den Blick wieder ab. ››Dann wären wir uns wohl auch nie nahe gekommen. Dann hätte jeder andere Pfade eingeschlagen.‹‹
Sanft umarmte ich ihn so gut ich es mit meinen kurzen Armen konnte. Alexander schmiegte sich an und drückte mich sanft an den Stamm neben mir. Mit einer Hand streichelte ich durch sein Haar und summte eine Melodie. Seine Melodie. Das Lied, was einst sein Vater seiner geliebten Mutter vorgespielt hatte. Das erste Mal, ich konnte mich noch genaustens daran erinnern, hatte ich es in Italien gehört. Damals hatten wir auf einen der vielen Felsen an der Klippe gesessen und dem Sonnenaufgang zugesehen. So unwissend war ich gewesen, dass ich nicht verstanden hatte, was Alexander damals mit seiner Ewigkeit gemeint hatte. Einer Ewigkeit, die schon vor seiner Geburt Bestand gehabt hatte.
Ich fühlte wie er sich langsam entspannte. So weit ich es sehen konnte waren seine Augen geschlossen, er genoss das melodische Summen meiner Stimme.
››Es war die richtige Entscheidung gewesen‹‹, sagte er auf einmal und blickte wieder zu mir auf. Er stupste seine Nase gegen meine und grinste sein schiefes Lächeln.
››Fast immer bin ich hier Jahr für Jahr zerbrochen, hab mir Stunde um Stunde Schuldgefühle gemacht und mich gefragt, wie sie wohl gewesen war. Immer wenn ich mich dann wieder von diesem Ort abgewandt hatte, war in meinem Hinterkopf ständig der Gedanken, dass ich bald wiederkommen würde und alles noch einmal von vorne durchlebe. Oft habe ich zu mir gesagt, dass ich mir das nicht antun sollte. Aber sie hat es verdient, dass ich wenigstens einmal im Jahr zu ihr komme und ihrer intensiv gedenke.‹‹
Ich knipste eine Blüte von der Ranke ab, die neben mir auf der Rinde einen Platz vereinnahmte und hielt sie ihm vor seine fragenden Augen.
››Sie sollte wie diese Blüte für dich sein. Sie sollte in deinem Herzen erblühen. Dich erfüllen mit ihrer Schönheit und nicht in Trauer versetzten. Aus genau diesem Grund hat sie vielleicht diesen Ort als ihren Lieblingsplatz erwählt. Sie wusste, dass sie es nicht schaffen würde, aber sicher genau deshalb wollte sie ihrem Sohn einen Ort schaffen, an dem er nicht einer Sorge verfällt, sondern sich erfreuen kann.‹‹
Meine Stimme war so rein und sanft wie selten. Sie hatte ein Mitgefühl übermittelt, wo Alexander ein intensiver Schauer über den Rücken gelaufen war. Das hatte ich ganz genau gespürt und war glücklich darüber. Vielleicht hatte ich ihm wirklich helfen können. Nur selten vielen mir die richten Worte zur richten Zeit ein.
Plötzlich lachte er und richtete sich auf. ››Du sagst das so, als würdest du sie kennen.‹‹
Er sog seine Mundharmonika aus seiner Jackentasche und schmunzelte bei ihrer genauen Betrachtung. ››Eigentlich hab ich schon immer gewusst, dass sie es nie gewollt hätte, dass ich traurig bin. Allerdings war ich es immer, wenn ich hier her kam. Ich wollte alleine sein, damit niemand sieht wie ich jedes Mal, Jahr für Jahr, zerbreche.‹‹
Er drehte sich zu mir um und beugte sich vor, um meine Stirn zu küssen. Seine starke, freie Hand strich durch mein Haar und er sagte: ››Ich danke dir.‹‹
Mehr brauchte er nicht von sich zu geben. Er dankte mir für die wenigen Minuten in denen ich mich wie eine Schutzmauer um ihn aufgebaut hatte. Das Gefühl gebraucht zu werden und ihn damit bewegt zu haben, erschütterte meinen Körper und meine Nackenhaare kräuselten sich vor Freude. Doch nun schob sich wieder die Frage von vorhin in den Vordergrund, die ich eigentlich verschlossen dachte und trübte meine eben noch euphorische Stimmung.
››Würdest du mich auch zum Grab meiner Mutter begleiten?‹‹, fragte ich ihn leise und zuckte fast unmerklich zusammen. Um meine halbwegs glückliche Miene nicht zu verziehen, biss ich die Zähne zusammen. Ich wollte diesen Augenblick, der Alex nun um einiges leichter viel, nicht zerstören.
Mitfühlend, so wie ich es eben getan haben musste, schaute er mich an und begann erneut liebevoll zu lächeln. Ehe er antworten konnte, setzte ich von neuem an: ››Ich weiß ja nicht einmal, ob man sie überhaupt begraben hat. Meine einzige Oma, die noch lebte, war sehr schwach und in einem Altenheim untergebracht. Ich weiß nicht einmal, was mit ihr ist. Ich war so mit mir selbst beschäftigt gewesen, dass ich sie gar nicht besucht hatte.‹‹ Die Erkenntnis tat so weh meine liebe Oma vergessen zu haben. Wie es ihr wohl ging? Ob sie noch lebte?
Unwillig wandte ich mich von seinem Lächeln ab, denn es schmerzte. Ich wusste, er meinte es nicht so. Er war froh dieses heutige Ereignis so gut hinter sich gebracht zu haben, aber mir viel es stetig schwerer ihn anzusehen. Ein gewaltiger Kloß formte sich in meinem Hals und nahm mir den Atem. Es war sein Tag und ich war seine Stütze, die langsam, aber unwiderruflich, zu schwanken begann.
Zwei große, starke Hände umfassten mein Gesicht und führten es ohne jegliche Gewalt zurück zu ihm. Er zog mich nah an sich heran und hauchte mir fast unmerklich ein paar Sätze auf die blasse Haut meines Porzellangesichtes: ››Glaubst du wirklich, dass ich nach deiner Anteilnahme nicht auch mit dir diesen Schritt gehen würde?‹‹, er wartete einige Sekunden bis ich kurz mit dem Kopf geschüttelt hatte und fuhr fort, ››Ich bin davon überzeugt, dass auch deiner Mutter ein Grab gesetzt wurde. Wir haben uns nie die Mühe gemacht Nachforschungen anzustellen, weil du es nicht gewünscht hast. Ich kann dich verstehen, denn du musst erst einmal der ganzen Vergangenheit Herr werden und wenn es soweit ist, werde ich Li darum bitten. Er wird es herausfinden und dann fliegen wir gemeinsam zu deiner früheren Heimat. Ich verspreche es dir.‹‹ Seine zarten Lippen drückte sich auf meine Stirn und ich wollte mich über seine Aussage freuen, doch es viel mir sehr schwer. Widerwillig hämmerte ein anderer Gedanke gegen meine Brust, denn Li hatte momentan bereits eine Aufgabe. Eine, wobei ich nicht wissen sollte, dass es sie gab.
Alexander lehnte sich an meine Brust und drückte mich sanft, aber bestimmend gegen die Blumenranken. Die Rinde des Baumes begann leise zu knirschen und zu kratzen. Dann setzte er das Instrument an seine Lippen und spielte das wunderschöne Lied für seine Mutter. Ich empfand es als den besten Ausklang den dieses Gespräch und das Hier und Jetzt haben konnte. Langsam schloss ich die Augen und nahm jede Note in mich auf und glaubte bereits die ersten Tiere zu vernehmen, die in seine Melodie mit einstimmten.