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II. Die Erwählung Adolf Hitlers

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Während seiner Haftzeit hatte Hitler genügend Zeit, über seine politischen Ideen nachzudenken. Er begann mit der Abfassung seiner umfangreichen Programmschrift Mein Kampf. Des Weiteren erwog er die Lehren, die er aus dem gescheiterten Putsch zog: 1. Es wurde ihm ein für allemal bewusst, dass die Machtergreifung nur mit Hilfe der Streitkräfte erfolgen kann. 2. An die Stelle des Gedankens an einen Putsch als Mittel der Machteroberung strebte er nun für die Zukunft eine Legalitätstaktik an. 3. Hitler erkannte, dass es nicht genug sei, nur als „Trommler“ zu agieren. In Landsberg ahnte er, dass er selbst zum „Führer“ bestimmt war.71 Bestärkt von dem Glauben an seine „Sendung“ und wissend, dass er spätestens seit dem Hochverratsprozess kein Unbekannter mehr war, erfolgte seine Rückkehr auf die politische Bühne des Landes.

Hitlers dringlichstes Anliegen war die Aufhebung des Verbots der NSDAP. Dies wurde am 17. Februar 1925 durchgesetzt. Der Völkische Beobachter, das publizistische Organ der NSDAP, wurde auch wieder zugelassen.

Die Trennung von den Völkischen stand spätestens am 17. Januar 1925 fest, nachdem während eines Treffens der Nationalsozialistischen Freiheitsbewegung Großdeutschlands einige Mitglieder der Deutschvölkischen Freiheitspartei Hitler stark kritisiert hatten. Eine grundlegende Einigung innerhalb der völkischen Bewegung schien unmöglich. Während die einen in Hitler ihren „Führer“ erblickten, fiel bei den anderen die Wahl auf Ludendorff. Zwar feierte Goebbels Hitler in der Völkischen Freiheit als den „Führer“,72 in seinem Tagebuch bezeichnet er ihn aber trotz aller Sympathiebekundungen noch nicht als solchen. Aus den im Januar und Februar 1925 erfolgten Tagebucheintragungen wird ersichtlich, wie sehr Goebbels die Trennung von den Völkischen begrüßte. Er vertraute diesbezüglich ganz auf Hitlers Urteil, wobei er auch leichte Kritik anklingen ließ: „Hitler wartet zu lange mit seiner Erklärung. Die Anhänger werden apathisch.“73 Goebbels, bei dem der Sozialismus den Kern seiner Weltanschauung bildete, hoffte, dass Hitler aus einer vorwiegend parlamentarischen, bürgerlichen, sozialen Partei eine antiparlamentarische, sozialistische, revolutionäre Bewegung machen würde.74

Währenddessen hatte sich Hitler bereits von Ludendorff distanziert. Die in Landsberg erworbene Erkenntnis, dass er der ausschließliche Exponent der „Idee“ des Nationalsozialismus und der einzige Führer der völkischen Bewegung sei, ließ es nicht zu, Ludendorff als Galionsfigur der völkischen Bewegung neben sich zu akzeptieren. Am 12. Februar 1925 löste Ludendorff die Reichsführerschaft der Nationalsozialistischen Freiheitsbewegung Großdeutschlands auf. Kurz danach kündigte Hitler die Neugründung der NSDAP an.75 Die Trennung von den Völkischen war somit vollzogen. Goebbels konnte zufrieden sein.

Nachdem zunächst das Verbot aufgehoben wurde, erfolgte am 26. Februar 1925 die Neugründung der NSDAP. Anders als ihre Vorgängerin blieb die neu gegründete Partei nicht nur auf Bayern beschränkt.76 Hitler beanspruchte die alleinige Führung und setzte diesen Anspruch auch durch. Es gelang ihm während einer Veranstaltung am 27. Februar im Münchner Bürgerbräukeller, die Einheit der Bewegung herzustellen, indem sich die wichtigsten, bis dahin zerstrittenen Männer der Bewegung öffentlich die Hand reichten und – zumindest dem Anschein nach - aussöhnten.77 Somit kam bereits zu diesem Zeitpunkt ein Merkmal zum Vorschein, das in den folgenden Jahren immer deutlicher werden sollte: Hitler war die einzige und unverzichtbare Integrationskraft innerhalb der Bewegung.78

Die Neuorganisation der NSDAP in Nordwestdeutschland übertrug Hitler den ihm ergebenen Gregor Strasser, dessen Auffassungen von einem deutschen Sozialismus den Ansichten von Goebbels ähnelten. Tatsächlich sollte sein Weg zu Hitler über Strasser führen. Bereits vor dem Jahreswechsel 1924/25 war Goebbels an Karl Kaufmann herangetreten, einen Vertrauten Strassers, und hatte versucht, ihm seine Dienste anzutragen. Es war voraussehbar, dass er aufgrund seiner Distanz zu den Völkischen seinen Posten als Schriftleiter der Völkischen Freiheit verlieren würde. Die Kündigung ereilte ihn am 20. Januar 1925.79

Die Neuorganisation der NSDAP in Norddeutschland wurde am 22. Februar in Hamm in Angriff genommen. Goebbels, der eine Betätigungsmöglichkeit in Aussicht hatte,80 war der Partei beigetreten. Im März wurde er auf Vorschlag Kaufmanns bei einem Treffen führender Nationalsozialisten in Harburg zum Gauvorstandsmitglied Rheinland-Nord ernannt.81 Die Geschäftsstelle befand sich in Elberfeld. Während seiner Tätigkeit in der „Elberfelder Gauleitung“,82 die die nächsten eineinhalb Jahre in Anspruch nehmen sollte, profilierte sich Goebbels als Redner. Die Auftritte, in denen er sein Redetalent unter Beweis stellte, häuften sich.83 Er widmete sich auch verstärkt der Organisation der Propaganda, wobei ihm Hitler als Vorbild diente.84 Immer wieder äußerte er sich enthusiastisch über diesen: „Wir wählen Ludendorff zum Reichspräsidenten. Hitler ist schon ein ganzer Kerl! (…) Hitler schreibt zur Wahl Ludendorffs einen Aufruf. Glänzend. Der Mann hat schon Schwung!“85 Am 28. Februar 1925 war Friedrich Ebert, der erste Reichspräsident der Weimarer Republik, gestorben. Hitler bestand darauf, Ludendorff als Kandidaten der Nationalsozialisten zu nominieren und es gelang ihm schließlich, ihn trotz aller Differenzen dazu zu überreden. Seine Annahme, dass Ludendorff keinerlei Chancen habe, stellte sich als richtig heraus, denn bei der Wahl am 29. März konnte er lediglich 1,1 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Ludendorffs Ansehen wurde damit großer Schaden zugefügt. Von dieser Niederlage sollte er sich nie erholen. Hitlers großer Rivale um die Führung der völkischen Rechten stellte von nun an keine Gefahr mehr dar.86 In seinen Tagebuchaufzeichnungen zeigte sich Goebbels über den Wahlausgang zufrieden.87

Während er sich mit den im April erstmals erschienenen und von ihm verfassten „Informationsbriefen“ des Gaues Rheinland-Nord beschäftigte, setzte er sich mit der zentralen Frage auseinander, ob in der Partei der Nationalismus oder Sozialismus Priorität haben sollte. In der Elberfelder Geschäftsstelle entbrannte darüber ein Streit. Goebbels und Kaufmann sahen den Sozialismus an erster Stelle. Axel Ripke, der Gauleiter, räumte dagegen dem Nationalismus den Vorrang ein.88 Frustriert hielt Goebbels in seinem Tagebuch fest: „Gestern ernste Auseinandersetzung mit Ripke. Er will mich demütigen um Geld, das ich nicht bekomme. Und dann haßt er meinen Radikalismus wie die Pest. Er ist doch nur ein verkappter Bürgerlicher. Mit diesen Bremsern macht man keine Revolution. Und das Schlimmste: er kann sich auf Hitler berufen.“89 In der gleichen Eintragung schwächte er jedoch wenige Zeilen weiter seinen Unmut über Hitler ab. Sich selbst einredend, notierte er: „Adolf Hitler, ich kann nicht an Dir verzweifeln!“90 Lieber legte er sich zurecht, dass Ripke über Hitler die Unwahrheit sage.91

Obwohl Goebbels nun für die NSDAP im Gau Rheinland-Nord politisch aktiv war, hatte sich seine finanzielle Situation noch keinesfalls gebessert. Die materielle Not machte ihm zu schaffen. Die Aufwandsentschädigung, die er erhielt, war sehr gering und er musste sich daher immer wieder Geld borgen. Von sich selbst und der eigenen politischen Arbeit stark eingenommen, schrieb er: „Das deutsche Volk kann kaum noch auf eine Rettung hoffen. Es beschmutzt und begeifert seine ihm vom Schicksal geschenkten Führer – oder es läßt sie verhungern.“92 Interessant ist, dass er hier tatsächlich von mehreren „Führern“ spricht und sich selbst zu diesen zählt.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Goebbels Hitler noch immer nicht persönlich kennengelernt. So stellte er Überlegungen darüber an, wie Hitler den Nationalsozialismus nun genau definiere: „Was wollen wir? Nur den Versailler Vertrag brechen oder darüber hinaus den Sozialismus in die Wege leiten? (…) Ist der Nationalsozialismus eine deutsche Angelegenheit oder ein Weltproblem? Für mich geht er weit über Deutschland hinaus. Was denkt Hitler?“93 Die eigene Linksposition auf diesen übertragend, notierte er voller Zuversicht: „Hitler ist auf dem Weg zum Klassenkampf.“94

Ein paar Tage später schien er die Position Hitlers jedoch nicht mehr richtig einordnen zu können und zerbrach sich darüber den Kopf: „Wird er Nationalist oder Sozialist? Hat Ripke recht oder ich? Davon hängt meine zukünftige Hoffnung ab.“95

Anfang Juli 1925 erfuhr Goebbels, dass am 12. Juli in Weimar die Gauführer Nord- und Nordwestdeutschlands zu einer Tagung zusammenkommen würden. Er, Ripke und Kaufmann sollten an dem Treffen teilnehmen. Voller Spannung blickte Goebbels auf die bevorstehende Zusammenkunft, denn auch Hitler hatte sich angekündigt: „Ich freue mich auf Hitler und Weimar. (…) Was wird Sonntag Hitler sagen? Wie wird er auf mich wirken? Hoffnung oder Verzweiflung? Ist er nicht das, was ich von ihm glaube, dann fahr wohl, Glaube an die Zukunft!“96 Somit hatte Goebbels alle seine Hoffnungen auf Hitler gesetzt. Es deutete sich an, dass er anhand dieser ersten Begegnung seine endgültige Entscheidung treffen wollte, ob Hitler nun tatsächlich der „Führer“ sei, als den ihn viele seiner Anhänger bereits feierten. Noch zögerte Goebbels. Die Sucht nach einem „großen Mann“ war bei ihm aber bereits so groß, dass bei der Nichterfüllung seiner Erwartungen ein völliger Zusammenbruch drohte.

Tatsächlich verlief die Tagung ganz nach Goebbels` Wünschen. Er war begeistert von Hitler, der ihm alle Zweifel nehmen konnte. Zum ersten Mal bezeichnete er ihn im Tagebuch als den „Führer“. Er hatte den „großen Mann“, nach dem er sich schon lange sehnte, gefunden und verfiel gänzlich seinem Charisma. Hitlers Rede – er schien die bereits vorhandenen Spannungen zwischen der Partei in Norddeutschland und der bayerischen Zentrale etwas entschärfen zu wollen - bestätigte Goebbels` sozialistische und revolutionäre Ansichten. Goebbels triumphierte über Ripke. Ausführlich schilderte er die erste Begegnung in seinem Tagebuch:

„Heilrufe. Da ist er. (…) Und dann fängt Hitler an zu reden. Welch eine Stimme. Welche Gesten, welche Leidenschaft. Ganz wie ich ihn wollte. Ich kann mich kaum halten. Mir steht das Herz still. Ich warte auf jedes Wort. Und jedes Wort gibt mir Recht. Ripke ist tot, geschlagen. So viel hatte ich nicht erwartet. Organisation! Kein Ideal. Aber leider notwendig. In ihr wird die Weltanschauung zum Glauben. Kampf! In die Organisation gehören alle mit gleichem Ziele. Der Weg wird dann schon gefunden. Kommunismus und Bürgertum! Die Idee der Masse. Worin hat die Gewerkschaft recht und worin unrecht. Scharf gegen Bourgeoisie und Kapitalismus. Freiheit! Berserker der Freiheit! Was ist die Freiheitspartei? Sie und wir. Das Führerprinzip. Theorie und Praxis! Führer und Professor. Unsere Aussichten. Geben Sie mir Vertrauen. Andere können und wissen mehr. Aber es ist keiner da, der der Idee so treu und so leidenschaftlich dient wie ich. Und dabei laufen ihm die hellen Tränen die Backen herunter. Ich weiß nicht, wohin mit Lust und Leid. Alle stehen auf und rufen, jubeln, klatschen, winken, schreien. Ich stehe draußen am Fenster und weine wie ein kleines Kind. (…) Hitler geht. Ein Händedruck. Kommen Sie bald wieder. (…) Abends mit Ripke, der von einer internen Führerbesprechung mit Hitler kommt. Er ist erschlagen. Wir haben gesiegt, mein Lieber. Auf der ganzen Linie gesiegt. Die Jugend, der Fanatismus, das Opfer, die Glut, die Revolution hat gesiegt. (…) Ich bin ein anderer. Jetzt weiß ich, daß der, der führt zum Führer geboren ist. Für den Mann bin ich alles zu opfern bereit. Die Geschichte gibt den Völkern in den größten Notzeiten die größten Männer.“97

Der Tagebucheintrag verdeutlicht insbesondere auch Hitlers Selbstinszenierung, mit deren Hilfe es ihm gelang, die Menschen für sich zu gewinnen. Sich selbst zelebrierte er als den „Führer“ und den einzig wahren Verfechter der „Idee“ des Nationalsozialismus. Hitlers Präsenz überwältigte Goebbels. Das erste Zusammentreffen glich einem Erweckungserlebnis. Das Leben hatte wieder einen Sinn. Er glaubte, seine „Führersehnsucht“ stillend, dass Hitler die vorherrschende Not beheben würde.

Als Goebbels wenige Tage später erfuhr, dass Ripke am 12. Juli bei Hitler schlecht über ihn gesprochen hatte,98 entschloss er sich zurückzuschlagen und beschuldigte ihn der Veruntreuung von Parteigeldern. Ripke musste schließlich zurücktreten und Goebbels führte vorübergehend zusammen mit Kaufmann den Gau kommissarisch.99

Nachdem sich die Euphorie über die Begegnung mit Hitler gelegt hatte, schlug Goebbels auch etwas nachdenklichere Töne an. Er schien noch viele Fragen zu haben:

„Der Nationalsozialismus ist noch zu ungeklärt. Das kam mir jetzt grauenhaft zu Bewußtsein: geht Hitler einmal von uns, dann sind wir allemal erledigt. Das ist ein Beweis dafür, wie wenig [r]ichtig bei uns noch Idee und Form sind. Hitler ist die Idee und die Idee ist Hitler. Darüber hilft kein Reden hinweg. Was wollen wir: ein neues Reich, eine neue Weltanschauung. Aber wie? Wie sehr tasten wir noch im Dunkeln. Wir werden schwer zu kämpfen haben.“100

Um sich selbst einige Fragen beantworten zu können, begann Goebbels den ersten Band von Hitlers Programmschrift Mein Kampf zu lesen, der im Juli 1925 erschienen war. Er war „erschüttert von diesem politischen Bekenntnis“.101 Ende August notierte er: „Wundervoll Hitlers Buch. Soviel an politischem Instinkt. Ich bin ganz begeistert davon.“102

Am 20. August 1925 kam Gregor Strasser nach Elberfeld. Er wollte sich mit seinen beiden Anhängern Kaufmann und Goebbels beraten. Strasser hatte den Plan gefasst, alle Kräfte der NSDAP im nordwestdeutschen Raum organisatorisch zusammenzufassen. Diese sollten ein Gegengewicht zu der Münchner NSDAP bilden. Insbesondere wollte man der „Diktatur“ des Propagandaleiters Hermann Esser in der Parteileitung entgegenwirken. Man einigte sich darauf, die Nationalsozialistische Briefe ins Leben zu rufen, ein Blatt, das als „Kampfmittel gegen die verkalteten Bonzen in München“ fungieren sollte. Strasser wollte das Blatt herausgeben, während Goebbels den Schriftleiterposten übernahm. Goebbels äußerte sich ganz zuversichtlich, dass man sich bei Hitler schon durchsetzen werde. Er sah ihn „von falschen Leuten umgeben“ und in Esser „sein Verhängnis“.103 Die Kritik an München schloss Hitler keinesfalls mit ein. Gab es bei diesem etwas zu bemängeln, so führte es Goebbels auf den schlechten Einfluss von seiner Umgebung zurück.

Tatsächlich offenbarten sich starke Spannungen zwischen der Münchner Zentrale und der Partei in Norddeutschland. Zwar erkannte der Norden, wie unverzichtbar Hitler für die Bewegung war und stellte seine „Führerschaft“ keinesfalls in Frage, aber es machte sich Unmut breit, da er der Partei in Norddeutschland zu wenig Aufmerksamkeit schenkte. Es existierten Meinungsverschiedenheiten über die Beteiligung an Wahlen. Die Norddeutschen lehnten Politik mit parlamentarischen Mitteln ab, da man nicht wollte, dass die „Bewegung“ zu einer bloßen „Partei“ wie die anderen werde. Auch wurden im Hinblick auf die nationalsozialistische „Idee“ unterschiedliche politische Akzente und Schwerpunkte gesetzt. Einige der norddeutschen Führer vertraten – wie Strasser und Goebbels – einen stärker „sozialistischen“ Ansatz.104 Man gab dem Sozialismus gegenüber dem Nationalismus eindeutig den Vorrang. Am 10. September schlossen sich in Hagen – wie von Strasser initiiert - die nord- und westdeutschen Gaue zur „Arbeitsgemeinschaft Nord-West“ als Gegengewicht zu München zusammen. Goebbels übernahm hierbei den Posten des Geschäftsführers.105

In diesem Zusammenhang wurde es ihm immer wichtiger, Hitler auf seiner Seite zu wissen. In seinem Tagebuch sprach er sich selbst Mut zu, indem er sich einredete: „Hitler steht zwischen beiden Meinungen. Aber er ist im Begriff ganz zu uns herüberzukommen. Denn er ist jung und versteht das Opfern.“106

Einen Monat später musste er allerdings, nachdem er am 27. September zum Geschäftsführer des Gaues Rheinland-Nord gewählt worden war, mit schlechten Nachrichten zurechtkommen:

„Brief von Straßer. Hitler traut mir nicht. Er hat über mich geschimpft. Wie weh mir das tut. Wenn er am 25.X. in Hamm mir Vorwürfe macht, dann gehe ich. Ich kann das nicht auch noch ertragen. Alles opfern, und dann noch Vorwürfe von Hitler selbst. In München sind Lumpen am Werke: Dummköpfe, die keinen Kopf neben sich dulden. Weil sie im Verhältnis zu ihm allzuleicht als Dummköpfe erkannt würden. Deshalb der Kampf gegen Straßer und mich. (…) Könnte man einmal auf zwei Stunden mit Hitler allein sein. Dann müßte sich alles klären.“107

Goebbels machte es sich einfach, indem er Hitlers Unmut dem schlechten Einfluss seiner Umgebung anlastete, denn dann musste er sich nicht eingestehen, dass sie tatsächlich zum Teil unterschiedliche politische Vorstellungen hatten.

Anders als Hitler differenzierte Goebbels zwischen Bolschewismus und Kommunismus. Den ersteren bezeichnete er als eine nationale Sache, lediglich den letzteren verurteilte er als jüdisch-international und lehnte ihn daher ab. Auch sah er in der künftigen Außenpolitik des Reiches – im Gegensatz zu Hitler - Russland als Verbündeten. Besonders im Zusammenhang mit den Verhandlungen in Locarno, die am 5. Oktober 1925 begonnen hatten, fürchteten die Elberfelder eine „Kampffront“ des Westens gegen Russland und sprachen sich dagegen aus.108

In seinem Tagebuch äußerte sich Goebbels immer wieder zuversichtlich, dass sich alle Missverständnisse klären würden, sobald er Hitler nur persönlich zu Gesicht bekäme. Die vorhandenen Differenzen vollkommen verdrängend, schrieb er, nachdem er Hitlers Mein Kampf zu Ende gelesen hatte: „Wer ist dieser Mann? Halb Plebejer, halb Gott! Tatsächlich der Christus, oder nur der Johannes?“109 Hierbei kommt die religiöse Dimension seiner Führersehnsucht gut zum Ausdruck. Er konnte sich nicht entscheiden, ob Hitler als politischer Führer nun mit einem christlichen Propheten oder mit Christus selbst zu vergleichen ist. Sagte er den Erlöser voraus oder brachte er sogar dem Volk die Rettung?110 Tatsächlich tendierte er bereits zu diesem Zeitpunkt immer mehr zum Letzteren.

Im Rahmen seiner Tätigkeit als Geschäftsführer der „Arbeitsgemeinschaft Nord-West“ beschäftigte Goebbels die Umgestaltung des Parteiprogramms. In letzter Konsequenz hofften er und Strasser das Parteiprogramm von 1920 ersetzen zu können, das sie für unzulänglich und reformbedürftig hielten.111 Goebbels nahm sich vor, Hitler wegen des Parteiprogramms zur Rede zu stellen: „Wir müssen an Hitler herankommen. (…) Das Programm, die geistigen und wirtschaftlichen Grundlagen, alles das ist noch so ungeklärt; - bei mir nicht, umso mehr bei den anderen. Damit macht man keine Revolution.“112

Anders als zunächst erhofft, begegnete Goebbels Hitler erst wieder am 4. November 1925 in Braunschweig. Obwohl es auch hier nicht zu einer Klärung der programmatischen Streitfragen kam, zeigte sich Goebbels von seinem „Führer“ gänzlich hingerissen:

„Wir fahren mit dem Auto zu Hitler. Er ist gerade beim Essen. Schon springt er auf, da steht er vor uns. Drückt mir die Hand. Wie ein alter Freund. Und diese großen, blauen Augen. Wie Sterne. Er freut sich, mich zu sehen. Ich bin ganz beglückt. (…) Dann spricht er hier noch eine halbe Stunde. Mit Witz, Ironie, Humor, Sarkasmus, mit Ernst, mit Glut, mit Leidenschaft. Alles hat dieser Mann, um König zu sein. Der geborene Volkstribun. Der kommende Diktator.“113

Hitler erkannte ziemlich schnell, dass Goebbels nicht nur als ideologischer Kopf des Strasser-Flügels über außergewöhnlich intellektuellen Fähigkeiten verfügte und ein brillanter Propagandist war, sondern dass er darüber hinaus ihn wie kein anderer verehrte und so wahrnahm, wie er gesehen werden wollte: als den Gesandten einer höheren Macht. Dabei lechzte Goebbels nach Liebe und Anerkennung und so nahm Hitler sich seiner an, indem er ihm seine Aufmerksamkeit schenkte und ihm schmeichelte,114 ihn geradezu verführte. Goebbels schien die Gegenwart seines „Führers“ zu berauschen. Schnell vergaß er, dass über die gegensätzliche Programmatik keinerlei Aussprache stattgefunden hatte und politische Fragen allgemein noch nicht besprochen wurden. Er fürchtete kaum etwas mehr als eine Zerstörung seiner seelischen Bindung an Hitler. Nach ihrer dritten Begegnung in Plauen am 22. November 1925 hielt Goebbels fest:

„Ich komme an. Hitler ist da. Meine Freude ist groß. Er begrüßt mich wie einen alten Freund. Und umhegt mich. Wie lieb ich ihn! So ein Kerl! Und er erzählt den ganzen Abend. Ich kann nicht genug hören. Eine kleine Versammlung. Ich muß auf seinen Wunsch zuerst sprechen. Und dann redet er. Wie klein ich bin! Er gibt mir sein Bild. Mit einem Gruß ans Rheinland. Heil Hitler! (…) Ich möchte Hitler als Freund haben. Sein Bild steht auf meinem Tisch. Ich könnte es nicht ertragen, an diesem Mann verzweifeln zu müssen.“115

Zum Weihnachtsfest schickte ihm Hitler ein in Leder gebundenes Exemplar von Mein Kampf mit Widmung für die „vorbildliche Art Ihres Kampfes“. Goebbels war hingerissen.116 Liest man die Tagebucheintragungen, so macht es den Eindruck, als hätte er sich in Hitler geradezu verliebt.117 Die nachgewiesene Führersehnsucht und die in diesem Zusammenhang erfolgte Erwählung Hitlers zeigen auf, dass Goebbels keinesfalls als Opportunist ein Anhänger Hitlers wurde.118



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