Читать книгу Die Probanden - Michael Bardon - Страница 10
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ОглавлениеNachdem sich alle durch ein ausgiebiges Frühstück gestärkt haben, rücken die Zeiger der Uhr der Mittagszeit entgegen. Selbst Kirsten ist, nach ihren Maßstäben gemessen, recht früh aufgestanden und wartet ungeduldig auf die bevorstehende Abfahrt. Über dem Hölzle-Hof schwebt eine friedvolle Euphorie. Es ist eine Art Pioniergeist, den man sonst nur bei Forschern findet, die zu einer abenteuerlichen Expedition aufbrechen.
In stiller Eintracht stehen die Männer vor dem Schuppen, in denen die drei Snowmobile, ihre drei Snowmobile, untergebracht sind. Das Spielzeug für das Kind im Manne hat laut dem Hölzle-Bauern einen luftgekühlten Zweitaktmotor, der beinahe 70 PS leistet. Zwei Personen finden auf den schwarzen Ungetümen ihren Platz und ein wenig Gepäck kann man auch noch mit dazu packen. Ihre restlichen Habseligkeiten will Josef Hölzle mit seinem privaten Skidoo, einem roten Monster von Yamaha mit satten 150 PS, wie er ihnen voller Stolz erzählt hat, zur Hütte hinaufbringen. Er hat vor, einen Zugschlitten an seiner Yamaha zu befestigen und will sie die gut zehn Kilometer lange Strecke bis zu ihrer Almhütte begleiten. Von da an sind sie auf sich alleine gestellt und können nur noch über ein digitales Funkgerät mit der Außenwelt in Verbindung treten. Klasse!
»Himmel, wo bleibt Josef denn? Er wollte doch nur noch die Schlüssel von den Skidoos holen«, murrt Ralf, während er voller Ungeduld zum Haus hinüber lugt.
»Er kommt sicher gleich«, meint Simon und schlürft vernehmlich an seinem Kaffeebecher. »Ich bin gar nicht so scharf darauf, mit den Dingern zu fahren. Ein gescheites Mountainbike wäre mir ehrlich gesagt lieber.«
»Echt jetzt? Quatsch, du verarscht mich doch, oder? Natürlich verarscht du mich. Das kannst du doch nicht wirklich ernst meinen?« sagt Ralf und lacht unsicher. »Doch! Ist mein voller Ernst. Alles, was Motoren hat, ist mir suspekt. Ich trete lieber selbst in die Pedale. Da weiß ich wenigstens, woran ich bin.«
Steffen lehnt mit dem Rücken an der hölzernen Schuppenwand und verfolgt amüsiert die Unterhaltung seiner beiden Kumpels.
»Vielleicht hat Josef ja noch irgendwo einen alten Holzschlitten«, lacht Ralf. »Mit dem könntest du uns dann ja hinterherrodeln.«
»Schon klar«, erwiderte Simon und schlürft ein weiteres Mal an seinem Kaffeebecher. Er ist es gewohnt, dass man auf seine Kosten Späße macht, sobald er seine Meinung zu motorisierten Fahrzeugen kundtut.
Irgendwo schlägt eine Tür laut zu. Ein überraschter Ausruf, leise, undeutlich. Erneut das Zuschlagen einer Tür, dann das protestierende Muhen einer gereizten Kuh. Für zwei, drei Atemzüge herrsch wieder Stille, dann folgt ein leiser Aufschrei. Steffens Blick wandert über den Hof, streicht suchend über das Haupthaus und die Stallungen hinweg. Ein Schatten, schnell, flüchtig, wahrscheinlich ein Mann, verschwindet gerade in der alten Scheune, in der sie auch ihre Autos untergestellt haben. Unbewusst hält er die Luft an und bemerkt erstaunt, dass es ihm seine beiden Freunde gleichtun. Ihr Gespräch ist verstummt, ihre Münder fest aufeinandergepresst. Ihre Blicke kreuzen sich. Steffen kann die Fragezeichen in Ralf und Simons Augen ganz deutlich sehen.
»Was ist hier los?«, knurrt Ralf, während er sich einmal um die eigene Achse dreht. »Ihr habt es auch bemerkt, oder?«, sagt Steffen. »Auf einmal wirkt alles so … so … so anders«, brummt er noch leise hinterher. Unsicher mustert er seine Freunde.
»Ja, verflucht. Ich komme mir auf einmal vor, als würde ich auf einem verdammten Friedhof stehen. Zuerst das Gepolter und jetzt diese Stille. Ist irgendwie komisch«, sagt Simon mit nachdenklichem Gesicht.
»Wo sind eigentlich unsere Frauen abgeblieben?«
»Keine Ahnung, Ralf. Vor ’ner Minute standen sie noch neben dem Schneemann«, brummt Steffen, während er sich erneut suchend umschaut. Ein lauter Schrei, schrill, hysterisch, verzweifelt, gellt in diesen Augenblick zu ihnen herüber. Steffen spürt, wie sich seine Nackenhaare aufstellen. Er spürt, wie sich das beklemmende Gefühl der Angst schlagartig in seinen Eingeweiden einnistet. Ein weiteres Stakkato von Schreien. Kurz, abgehackt, in wilder, panischer Hast ausgestoßen.
»Gott, scheiße! Das ist Luisa«, keucht Ralf erschrocken und sprintet aus dem Stand heraus los.
Steffen steht da wie betäubt. Er weiß im Moment nicht, ob ihn die verdammte Kälte oder der Schreck schockgefroren hat. Eine Hand reißt an seiner winddichten Jacke. Simons Hand.
»Los, Steffen, komm …«
Mechanisch setzt er sich in Bewegung, stolpert seinen beiden Freunden einfach hinterher. Wirre Gedankenspiele geistern durch seinen Kopf, während Unmengen von Adrenalin in seine blutleeren Arterien einschießen. Das Adrenalin befeuert ihn, treibt ihn vorwärts und drängt seine aufflammende Angst in sein Unterbewusstsein zurück.
Himmel, Kirsten!, denkt er, während er plötzlich so schnell läuft, wie er kann. Doch der Schnee ist sein Feind, behindert ihn, macht ihn langsamer als gewohnt. Er rennt am Haupthaus vorbei, rennt am zweistöckigen Taubenschlag vorbei, der mit seinen drei gemauerten Türmchen wie eine kleine Burg aussieht.
Zwanzig Meter vor ihm jagt Ralf bereits am Kuhstall entlang. Gefolgt von Simon, der ihm dicht auf den Fersen ist.
Weiter … weiter … lass jetzt nicht nach …
Er schlittert, er rutscht, er kämpft mit dem Gleichgewicht. Seine Schuhe finden im niedergetrampelten Schnee einfach keinen sicheren Halt.
Noch immer gellen Luisas Schreie über den Hof; sie vermischen sich mit dem aufgeregten Geblöke einiger Schafe. Seine Beinmuskeln brennen, doch er hastete weiter an der Front des ausgedehnten Kuhstalls entlang. Sein Atem fliegt, seine kalten Füße trommeln im Gleichtakt seiner Beine auf den Boden. Das Atmen fällt ihm schwer. Die eisige Luft lässt seine aufgeblähten Lungenflügel schmerzhaft brennen. Fünfzehn Meter vor ihm rutscht Simon auf einer kleinen vereisten Fläche aus. Erschrocken schreit Simon auf, geht wild mit den Armen rudernd zu Boden. Entsetzen flackert in seinen Augen. Erstaunen, Unglaube und Wut. Es folgt ein lautes Knacken, wie das Bersten eines hölzernen Besenstiels. Dann brüllt Simon schmerzerfüllt auf. »Alles … okay bei dir?«, keucht Steffen, als er wenige Sekunden später an dem Gestürzten vorbeihetzt. Keine Antwort. Nur Simons schmerzerfülltes Gesicht, das zu ihm aufblickt.
Schneller … schneller … du musst zu Kirsten, denkt Steffen, während er versucht, letzte Kraftreserven zu mobilisieren. Wirre Bilder tanzen vor seinen Augen. Er hat Angst um Kirsten, hat Angst um seine Freunde, hat Angst vor dem, was ihn erwartet.
Wild schnaufend spurtet er an einem grob verputzten Gebäude entlang. Die Schreie werden nun lauter, deutlicher, intensiver. Die Luft schmeckt auf einmal bitter; sie stinkt nach Salmiak, ranzigem Stroh und Scheiße.
Schweinestall!, denkt er und biegt in einen schmalen Durchgang ein. Schattige Dunkelheit, kein Sonnenlicht. Der Boden unter seinen Füßen ist plötzlich frei von Schnee. Gefrorener Lehm, knüppelhart und uneben.
Am Ende des schmalen Durchgangs herrscht gleißende Helligkeit. Er sieht ein paar schemenhafte Gestalten, hört aufgeregte Stimmen und das hysterische Gekreische von Luisa. Seine Schritte werden langsamer; er zögert und stoppt seinen Vorwärtsdrang schließlich ganz. Hinter ihm ein Keuchen. Sein Kumpel Simon hetzt auf ihn zu. Er hat sich wieder aufgerappelt und ist ihm in den schmalen Durchgang gefolgt. »Was ist …?«, presst Simon hervor; er ist genauso außer Atem wie Steffen. Beide starren in die Helligkeit, während sich ihre Pupillen langsam auf Stecknadelgröße zusammenziehen. Erste Bilder pulsieren vor Steffens Augen; sie bahnen sich ihren Weg über den Sehnerv bis ins Zentrum seines Großhirns.
Strahlend blauer Himmel. Seine Frau, Kirsten, die schützend die Arme um ihren Leib schlingt. Ralf, der wie angewurzelt auf den Boden starrt. Jenny, etwas abseits stehend. Kühl und distanziert durch ihre schwarze Brille blickend. Und Luisa, die mit schreckgeweiteten Augen schrille Schreie ausstößt.
Unsicher wagt er ein paar Schritte. Hinter ihm drängt nun auch Simon aus dem schmalen Durchgang heraus. Sein Gesicht ist noch immer schmerzverzerrt. Schweißtropfen glitzern auf seiner Stirn, sein Haaransatz glänzt feucht, seine rote Mütze ist seitlich etwas vom Kopf gerutscht.
Steffen tritt zwei weitere Schritte vor. Sein Sichtfeld erweitert sich. Endlich kann auch er sehen, was seine Freunde so aus der Fassung bringt. Während sein Magen schlagartig zu rebellieren beginnt, brüllt sein Geist erschrocken auf. Er kann nicht glauben, kann einfach nicht begreifen, was er vor sich auf dem Boden sieht. Drei Meter von ihm entfernt liegt eine Frau. Sie ist tot, da gibt es keinen Zweifel. Ihre Kehle wurde aufgeschlitzt, ihr blutbesudelter Körper liegt nackt und starr in einer Schneewehe.
Die Tote sieht aus wie Vroni, Hölzle-Bauer Josefs freundliche Tochter, die ihnen noch heute Morgen gut gelaunt das Frühstück serviert hat. Steffens Gedanken überschlagen sich, während er neben sich, Simons erschrockenes Aufkeuchen hört.
Ein Albtraum, denkt er. Das ist bestimmt alles nur ein blöder Albtraum. Du liegst noch immer in deinem Bett und schläfst deinen beschissenen Vollrausch aus. Verfluchter Schnaps! Du träumst diesen Mist nur, wach auf, verdammt, wach doch endlich auf …