Читать книгу Die Probanden - Michael Bardon - Страница 6
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ОглавлениеDie kleine Pass-Straße schlängelt sich dicht am Felsmassiv entlang. Erste Schneeflocken tanzen in der Luft, aufgeregt, verspielt, dem Wind auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Steffen schaltet einen Gang zurück und lässt die Kupplung seines blauen Land Rover Evoque TD4 sanft kommen. Kurz scheint es, als übertrügen die Reifen die Kraft des Dieselmotors nicht auf die Straße, dann finden sie wieder sicheren Halt und schieben den modernen Geländewagen den steilen Anstieg hinauf.
»Himmel, das war knapp! Mir ist fast das Herz stehen geblieben. Ich dachte schon, wir rutschen auf den Abhang zu«, schnauft seine Frau Kirsten, während sie sich mit beiden Händen an ihren Sitz klammert.
»Entspann dich, Schatz. Wir haben Allradantrieb. Der wird mit so was spielend fertig. Bin schon gespannt, wie sich das Auto im tiefen Schnee fährt. Der Reifenhändler meinte jedenfalls, wir könnten mit unserem Landi direkt auf der Skipiste herumfahren«, antwortet Steffen, während er das Gaspedal gefühlvoll etwas weiter durchtritt.
»Ralf hält mit seinem Subaru aber auch gut mit. Hätte nie gedacht, dass es die alte Kiste überhaupt den Berg hinauf schafft.«
Steffens Blick wandert zum Innenspiegel. Sein Freund und Arbeitskollege Simon Kramer kauert auf der Rücksitzbank und späht angestrengt durch die abgedunkelte Heckscheibe hinaus. Hinter ihnen kämpft sich der metallicgrüne Subaru von Ralf und Luisa mit knapp fünfzig Metern Abstand über die verschneite Straße.
»Ralfs Subaru ist auch ein Allradler. Der schafft das ebenso spielend wie wir. Entspannt euch, Leute! Nur weil wir einmal ein bisschen gerutscht sind, müsst ihr euch nicht gleich ins Hemd machen«, lacht Steffen aufgekratzt.
»Hey, ich bin entspannt. Ist ja schließlich deine Karre, die zu Schrott geht«, grient Simon und blickt belustigt zum Innenspiegel hinauf. Für einen kurzen Moment treffen sich ihre Blicke, dann muss sich Steffen wieder auf die schmale Pass-Straße konzentrieren.
»Sagt mal, wie ist diese Jenny denn so?«, fragt Simon, während er sich neugierig nach vorne beugt. »Ich meine, ihr kennt sie doch schon länger, oder? Plaudert doch mal ein bisschen aus dem Nähkästchen!«
»Warum bist du denn nicht gleich bei Ralf und Luisa im Auto mitgefahren? Da hättest du alle Zeit der Welt gehabt, Jenny besser kennenzulernen«, grinst Steffen. Erneut wandert sein Blick zum Innenspiegel, dann zu seiner Frau.
»Sie ist eine gute Freundin von Ralf und Luisa«, sagt Kirsten, während sie weiterhin sorgenvoll auf die verschneite Straße starrt. »Soviel ich weiß, hat sie sich vor ’nem guten halben Jahr von ihrem langjährigen Freund getrennt. Danach ist sie wohl nach Frankfurt gezogen.«
»Stimmt! Wir haben sie selbst erst vor knapp drei Monaten kennengelernt«, pflichtet Steffen ihr bei. »Scheint aber ’ne ganz Nette zu sein. Gut aussehen tut sie jedenfalls.«
»Aha! Seit wann stehst du denn auf Blondinen? Das ist ja ganz was Neues …«
»Ich stehe nicht auf Blondinen, Schatz. Ich sage nur, dass sie gut aussieht. Das ist ein himmelweiter Unterschied«, verteidigt sich Steffen sofort.
»Blödmannsgehilfe …«
»Selber Blödmannsgehilfin!«
»Könnt ihr zwei Kindsköpfe mal beim Thema bleiben? Was wisst ihr denn noch über diese Jenny?«
»Sie hat mal erzählt, dass sie Hunde mag. Außerdem geht sie gerne tanzen. Am liebsten lateinamerikanisch. Ach ja, Kino, lange Spaziergänge und gutes Essen mag sie auch.«
»Wie? Mehr wisst ihr nicht? Ich dachte, ihr würdet sie besser kennen?«, sagt Simon. Enttäuschung schwingt in seiner Stimme mit. »Was macht sie denn beruflich?«
Steffen furcht grübelnd seine Stirn und fährt sich mit der Hand durch das dichte, braune Haar. »So genau wissen wir das gar nicht«, sagt er nachdenklich und blickt dabei zu Kirsten.
Kirsten zuckt zur Antwort nur mit den Schultern, schüttelte ihr langes, lockiges Haar; sie schaut zuerst ihn, dann Simon an. »Keine Ahnung, was sie macht. Ist das denn wichtig, für dich?«
»Ja … nein … ach, ich weiß auch nicht«, druckst Simon herum. »Der Beruf sagt halt einiges über einen Menschen aus.«
»Gott, bist du spießig …«
»Luisa und Ralf haben einmal erwähnt, sie sei Therapeutin und arbeite mit stark traumatisierten Menschen. Genau weiß ich es aber nicht. Frag sie doch am besten selbst, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt«, meint Steffen. Er schaut erneut in den Innenspiegel und zwinkert verschwörerisch mit dem rechten Auge.
»Also ist sie ’ne Psychologin oder was?«
»Keine Ahnung«, brummt Steffen geistesabwesend. Er ist abgelenkt. Das Wetter hat sich in den letzten Minuten dramatisch verschlechtert. Dicke Schneeflocken tanzen durch die Luft. Sie erobern die schmale Straße, die Autoscheiben und den felsigen Untergrund. »Ist das auch der richtige Weg? Bist du dir sicher, dass wir uns nicht verfahren haben?«, fragt Kirsten und blickt sorgenvoll aus dem Seitenfenster.
»Laut unserem Navi sind wir goldrichtig. In sechshundert Metern müsste eine Abzweigung kommen. Da geht’s dann rauf zum Hölzle-Hof.«
»Noch weiter rauf?«, fragt Kirsten entsetzt. »Also ich weiß ja nicht, wie ihr das seht, aber mir ist bei dem vielen Schnee echt mulmig zumute. Ich komme mir vor, als wären wir nicht mehr auf der Erde, sondern würden auf einem fremden Planeten herumirren. Wie verschroben muss eigentlich jemand sein, um hier oben das ganze Jahr über zu leben? Schnee, Schnee, nix als Schnee …«
»Ist Ralf eigentlich noch hinter uns?«, fragt Steffen, ohne auf die Bedenken seiner Frau weiter einzugehen. »Ich kann ihn im Rückspiegel nicht mehr sehen. Gott, der Schnee wird ja immer dichter. Was für ein Sauwetter.«
»Warte, ich schau«, brummt Simon und späht erneut aus der Heckscheibe.
»Hoffentlich hat er sich nicht irgendwo festgefahren. Das würde jetzt gerade noch fehlen«, schnauft Steffen besorgt.
»Nee, ich kann ihn auch nicht … warte, jetzt sehe ich ihn. Ist ein gutes Stück zurückgefallen, kämpft sich aber tapfer weiter nach oben mit seiner Karre«, berichtet Simon im Stile eines Moderators aus dem Fond ihres Wagens.
»Steffen, ich hab echt Schiss. Wollen wir nicht lieber umdrehen? Kannst du bei dem Sauwetter überhaupt noch sehen, wo die Straße entlang führt?«
»Ja, gerade noch so. Ich verstehe das nicht. Ich habe doch gestern noch mit dem Hölzle telefoniert, und er hat mir versichert, dass für heute Mittag keine nennenswerten Schneefälle gemeldet sind«, beschwert sich Steffen, während er sich verstohlen die schweißnassen Hände an seiner Jeans abwischt. »Wenigstens weißt du jetzt, wie sich dein neues Auto im Schnee verhält«, flachst Simon lachend. »So viel kristallines Wasser fällt in Frankfurt das gesamte Jahr über nicht. Ist das fett! Echt große Klasse.«
»Letztes Jahr haben sie den Flughafen doch auch zwei Tage wegen starken Schneefalls geschlossen. Kannst du dich daran noch erinnern, Simon?«
»Klar, ist doch während meiner Schicht passiert. War aber Kinderkacke gegen das Wetter hier. So’n Schneefall bei uns in Frankfurt und die Oberbürgermeisterin würde den Notstand ausrufen.«
»Mach langsam, Steffen. Ich glaube, da vorne ist was.«
Aus dem dichten Weiß blinkt ihnen ein orangefarbenes Licht entgegen. Erschrocken tritt Steffen auf die Bremse und weiß im selben Moment, dass er einen Fehler begangen hat. Jetzt zeig, was du kannst. Du hast alles im Griff …, denkt er, während er versucht, den ausbrechenden Rover wieder unter Kontrolle zu bringen.
Das Antiblockiersystem pulsiert unangenehm unter seiner dicken Schuhsohle. Schlitternd kommt das Fahrzeug zum Stehen. Etwas schrammt mit einem für Steffen bösen Geräusch über den Lack der Beifahrerseite. Einen Sekundenbruchteil später rutscht der Rover ein paar Meter quer die Straße hinunter. Ein blechernes Krachen geistert durch den Innenraum, gefolgt vom Splittern von Glas. »Himmel, mein Herz«, stöhnt Kirsten mit aschfahlem Gesicht.
»Nein … verdammt, das darf doch nicht wahr sein!«, flucht Steffen und stößt die Tür auf.
Eisige Luft strömt in den Innenraum, der sogleich die ersten Schneeflocken folgen. Groß, pappig, nass. Eine kleine Armee von Invasoren, die ihren Rover nun auch von innen in Beschlag nehmen wollen.
»Herrje, was für ne Schei… Schlamassel«, schimpft Steffen, während er sich aus dem Wagen schwingt. Durch das dichte Schneegestöber dringt das tiefe Brummen eines untertourigen Motors. Ein dünnes Scheinwerferpaar zittert durch die weiße, fast schon steril wirkende Landschaft. Bremsen quietschen, eine Tür wird geöffnet und wieder mit einem dumpfen Ploppen geschlossen.
Steffen hört dies alles mehr, als dass er es sieht. Seine Augen tränen von der Kälte und durch das dichte Schneetreiben erscheint ihm alles irreal, fast so, als hätte ihn jemand in eine Schneekugel gesperrt.
»Hey, alles klar bei euch? Was issen passiert?« Ralfs Stimme, aus dem Nichts der weißen Invasion.
»Wir sind blöderweise ins Rutschen gekommen«, ruft Steffen ihm zu, während er vorsichtig die ersten Schritte im Schnee wagt. Knöcheltief, weich und nachgiebig. Lose aufeinandergeschichtete Eiskristalle. Kalt, gefühllos und abweisend. Wie die Umgebung, die im dichten Schneetreiben nur als verschwommene Kontur zu erahnen ist.
»Schatz, kannst du die Tür bitte schließen. Es ist saukalt, der ganze Schnee weht ins Auto.« Die Stimme seiner Frau. Ängstlich, vorwurfsvoll, anklagend.
»Warte, ich steige mit aus. Wie klappt man denn den verdammten Sitz nach vorne?« Simons Stimme. Ernst, besorgt, kein unterschwelliges Lachen klingt mehr in ihr nach.
Steffen gibt keine Antwort. Er stapfte durch den Schnee, ignoriert die Kälte, wünscht sich nichts sehnlicher, als zuhause in seinem behaglichen Wohnzimmer zu sitzen.
Weihnachten in den Bergen … na, der Urlaub fängt ja richtig gut an. Vielen Dank auch, denkt er frustriert.
»Schatz, die Tür! Dein ganzer Sitz ist schon nass …«
Eine Hand auf seiner Schulter. »Alles klar bei dir? Ach herrje! Scheiße, ist das ärgerlich …«
Steffen sieht auf und blickt in Ralfs besorgtes Gesicht. Sein blondes Haar ist über und über mit Schnee bedeckt. Selbst an Ralfs sorgsam gestutztem Kinnbart und der rahmenlosen Brille hat sich das weiße Zeug bereits festgesetzt.
»Ist jemand verletzt? Seid ihr okay? Ich habe gar nicht richtig mitbekommen, was passiert ist. Wenn Jenny nicht plötzlich Halt geschrien hätte, wär ich dir vielleicht sogar noch hintendrauf gefahren. Was für ein Wetter … Das ist doch nicht normal.«
»Ach! Verdammt, Mann. Ich habe gebremst, weil da vorne irgendetwas Gelbes geblinkt hat«, berichtet Steffen und weist mit seiner Hand ins Schneegestöber hinaus. »Wir sind ins Rutschen gekommen und ein paar Sekunden später hat’s dann auch schon gescheppert. Scheiße …«
Während Steffen noch in gebückter Haltung neben seinem Auto steht und den Schaden des Rovers mit den Fingern abtastet, hört er, wie Ralf erschrocken die Luft durch die Zähne zieht. »Himmel, Steffen, da kommt jemand …«
Steffen blickt verdutzt auf und folgt mit den Augen dem ausgesteckten, von der Kälte schon rötlich verfärbten Zeigefinger seines Freundes. Eine Gestalt, schemenhaft, massig, bedrohlich aussehend, kämpft sich durch den Schneesturm. Steffens Atem stockt. Vergessen ist der Blechschaden. Vergessen ist der Ärger über seinen dummen Fahrfehler.
»Jesses, was ist das? Ein Bär?«, zischt er mit zusammengekniffenen Augen. Der Wind hat an Intensität zugelegt; er treibt die großen Schneeflocken fast waagrecht vor sich her. Seine Ohren schmerzen. Sie schmerzen immer, sobald sie mit Kälte in Berührung kommen. Da hilft nur eine Mütze. Am besten aus dicker Wolle, engmaschig gestrickt. Doch die liegt natürlich vorne im Auto. Gleich rechts, neben dem Fach in der Mittelkonsole.
»Steffen, Steffen, da kommt ein Mann. Kommst du bitte mal nach vorne.« Kirstens Stimme, unterlegt mit einem leichten Anflug von Panik.
Die Gestalt – es ist wirklich ein Mann – nähert sich mit unverminderter Wucht, stapft durch den Schnee, als gäbe es ihn überhaupt nicht. Er hebt seine rechte Hand, die in einem dicken Fäustling steckt, und schiebt sich die Schirmmütze aus der Stirn.
»Guadn Dog, i bin da Hölzle-Baua. Seids ihr de Urlaubsgäst aus da Stod?«
Verdutzt blicken Steffen und Ralf erst sich, dann den Fremden an. Dann lachen sie befreit auf und treten aus dem Windschatten des Rovers auf den Mann zu.
Kluge Augen mustern sie, während über den bartumsäumten Mund des Mannes ein wissendes Lächeln huscht.
»Ja. Ich bin Steffen Schaller. Wir haben gestern miteinander telefoniert. Das hier ist«, er zeigt nach links, »Ralf Stegler.«
»Hobt ihr oan Unfoi kabd?«
»Bitte?«
»Obs ihr oan Unfoi kabd hobt?«
»Ah … einen Unfall! Ja, wir sind mit dem Auto gegen die Felskante gerutscht. Ist aber nicht weiter schlimm. Wie weit ist es denn noch bis zu Ihnen auf den Hof? Der Schnee ist ja Wahnsinn. So etwas habe ich noch nie erlebt«, gesteht Steffen, während er sich mit einer fahrigen Geste die Schneeflocken aus den Haaren wischt.
»Is ned mehr weid«, sagt der Mann. »Da voane kommt a Biegung. Dann geht es nach fönfzig Metern rechts den Berg auffi. I hob mid am Schneeraupe de Straße fär eich freigräumt. Auf gäds, de Zeit drängt. Da Schnä wird imma dichta. Scheiß Weda, verdammts …«
Ohne ein weiteres Wort dreht der Mann sich um und stapft davon. Unschlüssig schauen sich die beiden Freunde an.
»Hast du mit dem gestern telefoniert?«
»Wenn, dann hat er am Telefon jedenfalls ganz anders geklungen«, sagt Steffen. »Was soll’s? Viele Alternativen haben wir nicht, oder? Wenn du mich fragst, sollten wir dem Mann einfach vertrauen. Wenn wir noch lange hier herumstehen, werden wir bestimmt eingeschneit. Ich habe zwar kaum etwas von dem verstanden, was er gesagt hat, aber gleich da vorne müsste es laut meinem Navi zum Hölzle-Hof abgehen.«
»Ich mache freiwillig zehn Kreuze und bete fünf Vaterunser, wenn wir den Hof erreichen. Luisa und Jenny schieben schon die ganze Zeit über Panik und würden am liebsten wieder umkehren.«
»So’n Quatsch. Wir ziehen das hier jetzt durch. Wenn wir erst einmal in unserer Hütte sind und die Sonne wieder scheint, werden sich die Mädels schon wieder einkriegen«, sagt Steffen und lacht gekünstelt.
»Genau. Wir wollten doch Weihnachten im Schnee verbringen. Jetzt haben wir Schnee und es ist den Damen auch wieder nicht recht. Scheiße, ist mir kalt. Lass uns endlich weiterfahren, Alter. Wenn ich mir das Chaos hier so anschaue, kann es doch eigentlich nur noch besser werden, oder?«
»Denk ich auch«, stimmt Steffen nach einem kurzen Augenblick des Zögerns zu. »Was haben wir noch zu verlieren? Schlimmer geht’s wohl nimmer …«