Читать книгу Die Probanden - Michael Bardon - Страница 11
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ОглавлениеRalf gelingt es als Erstem, sich aus der kollektiven Schockstarre zu befreien. Mit schweren Schritten stapft er durch den tiefen Schnee und verschwindet in einem kleinen, hölzernen Geräteschuppen. Als er wenige Augenblicke später wieder aus der Tür tritt, hält er eine grüne Gewebeplane in den Händen.
Auch Steffens Verstand erwacht allmählich wieder aus dem schocklindernden Stand-by-Modus. »Wir müssen sofort die Polizei anrufen«, stößt er atemlos hervor und versucht seinen Blick von Vronis Leichnam abzuwenden. Vergebene Liebesmüh. Die Aura des Todes hat eine Anziehungskraft, der er sich einfach nicht entziehen kann. Sie scheint nach ihm zu greifen, scheint mit ihm zu spielen, scheint ihn mit einem Bann – schau mich an, Steffen, schau mich an! – zu belegen. Während er sein eigenes Blut in den Ohren pulsieren hört, beobachtet er, leicht irritiert, dass das Blut der Toten bereits zu gerinnen beginnt.
Wahrscheinlich wegen der Kälte und des Schnees, denkt er. Ja so muss es sein! Durch den Frost gerinnt das Blut viel schneller als üblich.
»Gott, die arme Vroni! Was für ein Monster tut so etwas?«, wispert Kirsten. Entsetzen schwingt in ihrer Stimme. Aber auch Angst, Abscheu und Verzweiflung begleiten ihre gehauchten Worte.
Eine gute Frage, denkt Steffen, während in ihm die Erkenntnis keimt, dass die Tote sich die grässliche Schnittwunde unmöglich selbst zugefügt haben kann. Verstohlen blickt er sich um – und sieht Dutzende von Versteckmöglichkeiten, in die sich der Mörder zurückgezogen haben kann. Großer Gott, was für ein Albtraum …
»Wo … wo ist eigentlich Josef«, fragt Simon. Er schaut sich um, formt mit den Händen einen Trichter, vor dem Mund. »Josef … Josef … Joseeef …«
»Halt die Klappe!«
»Joseeef …«
»Verdammt, halt endlich deine Klappe«, zischt Steffen scharf. »Oder willst du, dass der Mörder auf uns aufmerksam wird?«
»Mö … Mö … Mörder? Großer Gott …«, stammelt Simon entsetzt. Panik flackert in seinen Augen, seine Mundwinkel zucken unkontrolliert auf und ab.
»Ja, Mörder! Oder meinst du, die arme Vroni hat sich die Kehle selbst durchgeschnitten?«, knurrt Steffen. Abermals schaut er sich um und glaubt, hinter der Scheune die Silhouette eines Mannes auszumachen. »Pack mal mit an.«
»Was?« Irritiert schaut er auf – und blickt auf Ralfs Hände, die ihm zitternd eine Ecke der grünen Gewebeplane entgegenstrecken. »Wir decken sie zu«, sagt Ralf, während er bereits damit beginnt, die alte Plane auseinanderzufalten. »Denkst du, dass das eine gute Idee ist?«, meldet sich nun Jenny das erste Mal zu Wort. Ihre Stimme klingt reserviert, distanziert, so, als würde sie die ganze Angelegenheit eigentlich nichts angehen. Ihr Blick fixiert die verwitterte Abdeckplane, bevor er weiterwandert zu der Toten im Schnee.
»Was meinst du?«
»Ich denke, wir sollten die Polizei rufen und die Finger von Vronis Leiche lassen. Das hier ist ein Tatort. Die Polizei ist bestimmt nicht erfreut, wenn wir vorhandene Spuren mit dieser alten Plane vernichten.«
»Okay, da könnte was dran sein«, nickt Ralf. »Soweit habe ich ehrlich gesagt gar nicht gedacht.«
»Lasst uns lieber ins Haus gehen und dort auf die Polizei warten? Das ist bestimmt sicherer als hier, mitten im Hof herumzustehen.« Simon blickt sich nervös um, schaut jeden seiner Freunde ins Gesicht, »vielleicht ist der Mörder ja noch in der Nähe und beobachtet uns.«
»Oh Gott …« Luisa, die zum Glück zu schreien aufgehört hat, schlägt entsetzt die Hände vors Gesicht. Sie zittert am ganzen Leib und sieht aus, als würde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen. Oder wieder anfangen zu schreien.
»Fände ich auch besser«, nickt Kirsten, die sich als Einzige von der Toten abgewendet hat.
»Nein!«, sagt Ralf, während er die Plane achtlos vor Steffens Füße auf den Boden wirft. »Wir müssen nach Josef schauen. Vielleicht hat der Mörder …«, er fährt sich mit dem Zeigefinger über die Kehle und deutet einen Schnitt an, »… na ihr wisst schon, auch ihn …«
»Mal den Teufel mal nicht an die Wand«, schnauft Steffen. »Und vergiss nicht, Josef ist ein Bär von Mann. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich jemand freiwillig, mit dem anlegt.«
»Du vielleicht nicht, Steffen. Aber so einer …« Ralfs Kopf nickt in Richtung der Toten, » … schreckt bestimmt nicht davor zurück.«
»Gott, hab ich Schiss. Mir ist schon ganz schlecht«, stöhnt Kirsten, die Steffens Arm umklammert, als wäre er die stählerne Haltestange eines Schlepplifts.
»Mist! Hat einer von euch Empfang? Mein Handy findet ums Verrecken kein Netz. Ich kann auch keinen Notruf absetzen, ins Internet gehen oder ’ne WhatsApp verschicken.«
»Warte … Nein, bei mir geht auch nix! Liegt wahrscheinlich an den Bergen.«
»Quatsch! Ich war vor ’ner halben Stunde noch auf Facebook, um ein paar Bilder von der Landschaft hier zu posten. Da hatte ich eine 1-a-Verbindung. Ging richtig schnell«, sagt Simon, während er weiter etwas ungläubig auf das Display seines Smartphones starrt.
»Hat jemand von euch Empfang?«, fragt Steffen, dessen Handy, im Moment, genauso nutzlos ist wie das von Simon.
»Meins liegt noch oben im Zimmer.«
»Wie immer«, brummt er. Sein Blick wandert weiter von seiner Frau zu Ralf. »Was ist mit dir? Hast du Empfang?«
»Nein! Meines sucht sich tot, findet aber nichts.«
»Bei mir auch«, meldet sich fast augenblicklich Jenny zu Wort. »Schon irgendwie komisch, oder?«
»Ja! Verdammt, das kann doch kein Zufall sein. Irgendjemand muss das Netz blockieren. Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu.«
»Jetzt wirst du aber paranoid, Simon. Wer soll denn den Empfang unserer Telefone blockieren? Wahrscheinlich ist der Sendemast ausgefallen oder wurde kurz abgeschaltet, weil sie irgendwelche Wartungsarbeiten vornehmen«, knurrt Ralf. »Es gibt auf jeden Fall keinen Grund, hier gleich in Panik auszubrechen oder sich in wilden Spekulationen zu verstricken. Wir sind zu sechst. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass uns der Mörder als Gruppe angreifen wird.«
»Kannst du nicht. Na dann ist es ja gut.«
»Deinen Sarkasmus kannst du dir echt sparen.« Ralfs Blick fixiert Steffens Augen. Dann spricht er mit ruhiger Stimme weiter. »Leute, was hier passiert ist, hat nicht das Geringste mit uns zu tun«, sagt er und unterstreicht seine Worte mit einem Kopfnicken. »Vielleicht lagen die Hölzles ja mit einem durchgeknallten Nachbarn im Streit oder die arme Vroni hatte einen Psycho, der sie heißblütig verehrt hat.«
»Und weil sie ihm die kalte Schulter gezeigt hat, hat ihr der Kerl dann die Kehle durchgeschnitten oder was?«
»Warum nicht?«
»Klingt ein bisschen weit hergeholt.«
»Könnte aber so gewesen sein«, knurrt Ralf, während er sich mit den Fingern, ohne Unterlass über den Bart streicht. »So oder so, das hier hat nichts mit uns zu tun, da bin ich mir hundertprozentig sicher.«
»Ja, wahrscheinlich hast du recht«, sagt Simon. Er zögert kurz, scheint über Ralfs Worte noch einmal gründlich nachzudenken. »Wir sind ja noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden hier und haben, von Vroni und Josef einmal abgesehen, niemanden kennengelernt«, sagt er dann. »Ralf hat recht! Mit uns kann das wirklich nichts zu tun haben.«
»Sag ich doch. Wir sind einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Passt auf, wir machen jetzt Folgendes: Du, Simon, Jenny und Kirsten, ihr schnappt euch Luisa und geht mit ihr ins Haus. Ruft von dort aus die Bullen an und verschanzt euch dann in einem Zimmer. Nehmt am besten die Küche, da findet ihr Messer, Töpfe oder Bratpfannen, mit denen ihr euch bewaffnen könnt. Steffen und ich schauen uns in der Zwischenzeit mal hier draußen ein wenig um.«
»Super Idee!«, spottet Jenny. »Willst du mit deinem Schweizer Taschenmesser Jagd auf einen Mörder machen?«
»Quatsch! Da hinten im Schuppen liegen genügend Äxte, um eine kleine Armee auszustatten. Steffen und ich kommen dann nach, sobald wir uns davon überzeugt haben, dass uns vonseiten des Mörders keine Gefahr mehr droht.«
»Das ist doch Wahnsinn!«, keucht Kirsten. Sie blickt entsetzt zu Ralf und klammert sich noch fester an Steffens Arm. »Warum kommt ihr denn nicht mit ins Haus? Dort sind wir doch alle in Sicherheit und können in Ruhe auf das Eintreffen der Polizei warten«, wirft nun auch Simon ein.
»Weil wir so dem Verrückten zeigen, dass wir keine Angst vor ihm haben«, antwortet Ralf. Er lächelt gequält, dann blickt er besorgt zu seiner Frau, die ihn aus großen Augen anstarrt. »Sofern sich der Killer überhaupt noch hier herumtreibt«, fügt er deshalb noch schnell hinzu.
»Du spinnst doch. Was, wenn ihr dem Verrückten vor die Füße stolpert? Willst du ihn dann mit deiner Axt erschlagen, oder was?«
»Warum nicht? Besser er als wir! Nein, ernsthaft jetzt. Ihr braucht euch um uns keine Sorgen zu machen. Steffen und ich kriegen das schon hin.«
»Steffen bitte …«
Kirstens verzweifeltes Aufschluchzen, dringt tief in Steffens Seele. Seine Gedanken überschlagen sich. Die Silhouette hinter der Scheune, die er vor ein paar Minuten wahrgenommen hat, spukt nach wie vor in seinem Kopf herum. Er muss endlich herausfinden, wen oder was er dort gesehen hat.
»Gut, dann machen wir es so«, nickt er. »Ihr vier geht ins Haus und verständigt die Polizei, während Ralf und ich uns ein wenig umschauen«, sagt er und der Klang seine Stimme lässt keinen Spielraum für einen Widerspruch.
»Okay.« Jennys Blick trifft Steffens. Gletscherblaue Augen, in denen ein wissendes Irrlicht glimmt. »Aber passt gut auf euch auf!«, sagt sie leise. »Mit Irren ist echt nicht zu spaßen. Glaubt mir, ich kenne mich da aus. Ich weiß genau, wovon ich rede …«