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3 Mal Ich und 50 Worte für Schnee:
Wer spricht eigentlich im Song?

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Zunächst scheint alles ganz einfach: Hören wir einen Song, dann spricht aus ihm in den meisten Fällen ein Ich zu uns. Und selbst wenn man ein Stück zunächst nur im Radio, im Club oder auf einer Party hört, dauert es nicht lange, bis wir, vermittelt durch Zeitschriften, Videos oder Internetportale, ein Bild im Kopf haben. Wir wissen, wie der Interpret, die Interpretin oder die betreffende Band aussieht – und haben eine Idee, wofür die vortragende Person, die vortragenden Personen stehen könnten. Was also liegt näher, als diesen „ich“ sagenden Leuten zunächst zu glauben und alles, was sie sagen und singen, auf sie zu beziehen? Doch wenn man sich die Songwriting-Credits, also die Angaben über die Urheber eines Songs, genauer anschaut, stellt man fest, dass die ergreifendsten Stücke oft von jemand ganz anderem als dem Interpreten geschrieben wurden. Und vergleicht man die Biografie eines Autors mit dem Songinhalt, ergeben sich häufig tiefgreifende Differenzen. So dass man feststellen kann: Das Urheber-Ich und das Song-Ich sind zwei Kategorien, die nicht notwendig etwas miteinander zu tun haben müssen. Sie stehen erst einmal für sich.

Mit Blick auf die Künstlernamen etlicher Stars und ihre spektakulären Selbstinszenierungen wird dann eine weitere Unterscheidung notwendig. Denn auch die vortragende Person, die uns aus Promotionfotos und Videoclips, aus CD-Booklets und von Konzertbühnen entgegenblickt, ist nur bedingt identisch mit der dahinter existierenden realen Person, die morgens ungeschminkt aufsteht, schlecht gelaunt duscht oder auch nicht duscht, einkauft, Geschäftliches bespricht, kocht oder bekocht wird, sich auch mal langweilt, vor dem Fernseher hängt, in Internetshops nutzlose Sachen bestellt und zwischendrin mit Freunden telefoniert. Nein, die vortragende „öffentliche“ Person, jenes schillernde Medienwesen, das wir mit dem Song verbinden, ist selbst eine Kunstfigur: perfekt frisiert, interessant gestylt, auf ein bestimmtes Image hin konzipiert: Aus Rosemarie Schwab wird die elegante „Mary Roos“ und aus Monika Schwab der flotte Teen „Tina York“, ähnlich wie aus Bill & Tom Kaulitz samt Freunden die aufmüpfige Bandmarke „Tokio Hotel“ wird. Oder aus Robert Zimmerman der enigmatische „Bob Dylan“, aus David Jones der hippe „David Bowie“ und später sogar der Außerirdische „Ziggy Stardust“, aus Brian Warner der schreckliche „Marilyn Manson“. Im Falle von „Joan As Policewoman“, der Band der amerikanischen Songwriterin Joan Wasser, ist – Joan als Polizistin – der Aspekt der Maskierung und der Verkleidung zur Kunstfigur sogar schon im Bandnamen angelegt. Dagegen schwingt im Bandnamen „Wir sind Helden“ bereits selbstironisch die überhöhende Verehrung mit, die erfolgreichen Songkünstlern vonseiten des Publikums entgegenschlägt. Und wenn sich ein deutsches Duo „Ich + Ich“ nennt, dann klingt das nur im ersten Moment unheimlich persönlich – denn eigentlich kann man sich als Fan nichts und niemanden darunter vorstellen. Doch selbst wenn Interpreten unter ihrem bürgerlichen Namen auftreten, kreieren sie eine Marke – und damit eine Kunstfigur, die nicht mit der realen Person dahinter zu verwechseln ist. Siehe Bruce Springsteen, weltweit gefeiert als der aufrecht-hemdsärmelige „Boss“ aus der Arbeiterklasse.

Das Ich eines Menschen, der einen Song schreibt, also sein biografisches Ich; die mehr oder weniger schillernde Bühnenpersönlichkeit, die er bei öffentlichen Auftritten hervorkehrt, man kann sie Show-Ich nennen; und das Song-Ich, welches aus den Lyrics spricht: Das ist die Konstellation, mit der wir es am häufigsten zu tun bekommen, wenn wir einen Song hören. Und wenn wir ehrlich sind, dann ist das nicht immer relevant. Denn gerade Songs erzielen einen Großteil ihrer Wirkung auf der nichtsprachlichen, auf der emotionalen Ebene. Ein mitreißender Rhythmus oder ein krasser Sound, das Charisma der Künstler, die Wahnsinns-Stimme oder ein geniales Solo – das ist der Stoff, aus dem sich unsere Begeisterung in der Regel speist. Auf Texte hören wir eher selten. Zumal viele Texte ohnehin kaum etwas zu sagen haben. Nicht selten wirken sie aus Versatzstücken zusammengesetzt, besonders gern in Lovesongs. So wie in den folgenden beiden leichtgängigen Rockstücken, die seinerzeit im Abstand von wenigen Jahren erschienen: dem Superhit Cold As Ice der britisch-amerikanischen Gruppe Foreigner und dem weniger bekannten Song Breaking Down Paradise, erschienen auf einer Solo-LP des ehemaligen The-Who-Sängers Roger Daltrey:

You’re as cold as ice You’re breaking down paradise
You’re willing to sacrifice our love And I’m the one who pays the price
You want paradise Any way I play or lose
Someday you’ll pay the price Any way that I throw the dice
I know You’re breaking down paradise
(Cold as Ice, 1977) (Breaking Down Paradise, 1985)

In beiden Stücken werden dieselben Textelemente verwendet, nur werden sie anders kombiniert, was zu unterschiedlichen Akzentsetzungen führt. Dass hier irgendeine gewichtige Persönlichkeit tiefschürfende Weisheiten über das Leben und die Liebe verkündet, lässt sich beim besten Willen nicht behaupten. Viel eher sind diese Song-Ichs gesichtslose Genre-Ichs, ja Fertigbau-Ichs – und den Künstlern, die sie uns präsentieren, geht es weniger um eine ernsthafte Textaussage als um eine kraftvolle, mitreißende Performance.

Was nicht ausschließt, dass solche Songs die gängigen Themen und Motive fantasievoll variieren. Hits wie Words (Bee Gees), Words Don’t Come Easy (F. R. David), More Than Words (Extreme), These Words (Natasha Bedingfield), De-Do-Do-Do, De-Da-Da-Da (The Police), Wenn Worte meine Sprache wären (Tim Bendzko) oder Enjoy the Silence (Depeche Mode) beispielsweise zeigen, was Love-songwriter alles aus dem Motiv der fehlenden oder der im Überfluss vorhandenen Worte machen: Der eine hat nur Worte, um sich auszudrücken; dem anderen versagt angesichts der Geliebten die Sprache; wieder ein anderer redet nur Unsinn; und die nächste findet nach komplexen Liebesschwur-Versuchen am Ende doch das simple „I love you“ am aussagekräftigsten – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Die entsprechenden Song-Ichs haben hier zwar auch keine persönlichen Züge, aber als Fertigbau-Ichs mutieren sie zu wahren Bilder- und Motivmaschinen. Manchmal – wie in My Generation, Say It Loud, I’m Black and I’m Proud oder Neue Männer braucht das Land – gerieren sie sich auch als Manifestmaschinen. Und gelegentlich – man denke nur an Nonsense-Songs wie Ich liebte ein Mädchen von Insterburg & Co, mit Zeilen wie „Ich liebte ein Mädchen in Spandau/Bei der war immer der Mann blau/Ich liebte ein Mädchen in Tegel/Die hatte Ohren wie Segel“ – gehen diese Ichs einfach im Sprachspiel auf.

Spätestens seit Bob Dylan und Bands wie den Doors aber gibt es im Rock- und Popuniversum Stücke, in denen hinter den Song-Ichs starke, individuelle Persönlichkeiten aufscheinen, mit philosophischen Gedanken und individuellen Geschichten. Es sind Ichs mit Gesicht, die mit dem, was sie zu sagen haben, wirklich bewegen – begeistern oder erschüttern. Aber das ist noch nicht alles: „My name is Bobby Brown“ oder „My name is Luka“, heißt es in manchen Songs, und dann wird endgültig klar, dass Song-Ichs grundsätzlich erst mal nichts oder nur bedingt etwas mit dem Ich der Songschreiberin oder des Songschreibers zu tun haben. In solchen Stücken begegnet das Publikum ausgemachten Rollen-Ichs, die einen ungewöhnlichen Blick aufs Leben haben oder, wie in besagtem Frank-Zappa-Hit Bobby Brown, satirisch verzerrt erscheinen. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch, wie sich Künstler in Interviews zu ihren Song-Ichs positionieren: Einzelne, etwa Alanis Morissette und bedingt Lydia Lunch, behaupten tatsächlich eine große Nähe zwischen ihrer realen Person und den Ichs im Text. Die meisten aber, von Adam Green über Amy Mc-Donald und Norah Jones bis hin zu Cherry Ghost, um nur einige wenige zu nennen, schaffen eine gewisse Distanz und bestehen darauf, eine Fiktion geschaffen oder Alltagsbeobachtungen verarbeitet zu haben. Persönliches sei höchstens am Rande oder nur punktuell eingeflossen und erscheine bewusst manipuliert, verändert.

Hört (und schaut!) man sich einen Hit wie I’m Not Perfect (But I’m Perfect for You) genauer an, erkennt man, dass ein Song-Ich auch vom Show-Ich einer Künstlerin oder eines Künstlers überlagert werden kann. Das klingt abstrakt? Ist aber eigentlich ganz simpel: Der Song stammt von Grace Mendoza, besser bekannt unter ihrem Künstlernamen Grace Jones. Das war die überirdisch schöne schwarze Sängerin aus den Achtzigern, die auf Promofotos und in Videoclips fast wie ein futuristisches Wesen vom anderen Stern inszeniert wurde. In I’m Not Perfect singt Grace Jones von der intensiven Liebesbeziehung zweier Menschen: Das Song-Ich scheint sich nicht sicher zu sein, ob die Beziehung entspannt und erfüllt oder anstrengend, letztlich unbefriedigend ist. Das Nachdenken über den nicht ganz einfachen, ja fast schon schicksalhaften Bund gipfelt immer wieder in der Refrain- und Titelzeile: „I’m not perfect, but I’m perfect for you“, mit dem Zusatz: „I feel right on time … now I’m right on time.“ Ein Lovesong, klar. Außerhalb des Songgeschehens aber entsteht eine auffällige Korrespondenz zwischen den Refrainzeilen und dem „perfekt“ gestylten Show-Ich „Grace Jones“: Ich bin nicht perfekt, aber dir erscheine ich so … Das klingt nicht nur, als würde ein liebendes Genre-Ich über seine Beziehung reflektieren, es klingt auch, als würde auf einer anderen Ebene die Kunstfigur „Grace Jones“ über den Bund mit ihrem Publikum sprechen. Nach dem Motto: „Nicht ganz einfach, das mit euch und mir. Und: Ich wüsste ja noch einiges, was man an mir verbessern könnte. Aber für euch da draußen, die ihr mir zujubelt, bin ich natürlich perfekt. Und ich bin genau zum richtigen Zeitpunkt da!“ Grace Mendoza, die reale Alltagsperson hinter der Kunstfigur „Grace Jones“, bleibt bei diesem Spiel außen vor.

Und noch etwas zu den Darstellungsformen im Song: Natürlich müssen Interpreten nicht zwangsläufig „ich“ oder „wir“ sagen, wenn sie einen Gedankengang oder ein Geschehen in der Vorstellung ihrer Hörer lebendig werden lassen wollen. Dazu taugen auch andere Strategien. Schon wenn die Lyrics die Aussagen zweier oder mehrerer Sprecher unmittelbar gegenüberstellen, hat sich die Sprechsituation im Song komplett verändert: Wir folgen dann nicht mehr der Erzählung oder den Gedanken eines zentralen Charakters, sondern werden Zeugen eines Dialogs, einer dramatischen Szene. Oder wir werden mit gegensätzlichen Sichtweisen konfrontiert – so wie in Father and Son, einem Songklassiker über den Generationenkonflikt, geschrieben und gesungen von Cat Stevens: Ein alt gewordener Vater träumt hier von einem beschaulichen Lebensabend („Look at me, I am old, but I’m happy“) und rät seinem Sohn, sich anzupassen, am besten eine Familie zu gründen („Find a girl, settle down, if you want you can marry“). Doch der junge Mann will endlich hinaus in die Welt, sich von elterlichen Zwängen befreien und etwas bewegen („Now there’s a way, and I know that I have to go away“). Niemand gestaltet hier die Szene – die Positionen des Vaters und des Sohnes werden unmittelbar im Schnitt-/Gegenschnitt-Verfahren kontrastiert.

Wo in Father and Son noch verschiedene Ich-Sprecher zu Wort kommen, ohne dass uns jemand durch das Geschehen führt, gibt es etliche andere Lyrics, die überhaupt kein Song-Ich mehr aufweisen. Das Spektrum reicht hier vom konventionellen Erzählprinzip à la „Es war einmal …“ bis hin zu regelrecht abstrakten Texten. Ich greife mal – Augenzwinker! – wahllos in die grenzenlose Masse existierender Songs hinein und ziehe als Beispiel für konventionelles Erzählen Alles hängt zusammen heraus, einen 2008 veröffentlichten Song des Österreichers Thomas Raab, der auch ein gefeierter Krimiautor ist. Hier ist ein unsichtbarer Erzähler am Werk, den man höchstens im Ansatz als ordnende Kraft spüren kann. Dieser verdeckte allwissende, auktoriale Erzähler stellt auf kunstvolle Weise gleich mehrere Figuren in einen größeren Zusammenhang: „Jeden Morgen sitzt er still an seiner Stelle/Am Straßenrand, und sieht den Autos hinterher/Er kennt die Menschen hinterm Steuer nur vom Sehen/Die meisten winken ihm, wie lange schon, das wissen sie nicht mehr/Sie sieht vom Fensterbrett mit jedem Tagesanbruch/Den alten Mann auf seiner Bank am Straßenrand/Er gehört zum Tag für sie so wie am Abend die Gebete/Sie kennt ihn nicht und doch verbindet sie ein Band/Vom Café am Eck sieht er am Fenster oben/An jedem Morgen diese wunderschöne Frau …“ Die „Handlung“, die hier allmählich vor uns entfaltet wird: Ein alter Mann sitzt jeden Morgen am Straßenrand, wird von einer Frau am Fenster beobachtet, die wiederum der Betreiber des nahen Cafés anhimmelt, dem eine Bar gegenüberliegt, wo ein Mädchen wartet, das in den Kellner der Bar verliebt ist … und so weiter und so fort. Am Ende dieses losen Beziehungsreigens kehrt die Erzählung zur Bank mit dem alten Mann am Straßenrand zurück – doch die Bank ist plötzlich leer. Alle Figuren werden nicht nur beschrieben, wir erhalten auch jeweils einen kleinen Einblick in ihr Seelenleben, in ihre persönlichen Gefühle und Sehnsüchte. Ein bisschen wehmütig, ein bisschen traurig, das Ganze – ein wunderschöner Text.

50 Worte für Schnee wiederum kündigt der Titel eines 2011 von der britischen Künstlerin Kate Bush veröffentlichten Albums an. Es ist ein ambitioniertes Versprechen, das der gleichnamige Song dann aber tatsächlich einlöst. In 50 Words for Snow geht es nicht mehr um Geschichten, Gedanken, Emotionen – hier wird vielmehr ein Ordnungsprinzip durchgespielt, genauer: ein abstrakter Katalog von Begriffen. Kate Bush nummeriert diese teils echten, teils fiktiven (Achtung: Klingonensprache!), teils frei erfundenen Wörter für Schnee durch, sagt vor jeder Nennung die jeweilige Nummer an und lässt die Begriffe selbst von dem bekannten britischen Schriftsteller und Schauspieler Stephen Fry vortragen, der hier laut CD-Booklet wiederum den fiktiven Sprachforscher Professor Joseph Yupik spielt. Das Ganze erfolgt im Rahmen eines Countdowns, also in umgekehrter Reihenfolge – und immer, wenn Stephen Fry alias Joseph Yupik ein paar Begriffe gemeistert hat, schaltet sich ein Chor ein, um ihm zu sagen, wie viele Begriffe er noch nennen muss: „Come on, Joe, you got 32 more to go …“ So zaubert Kate Bush aus einer letztlich banalen Grundidee einen höchst unterhaltsamen Mix aus Minidrama, Singspiel und Abzählreim – auf die nächsthöhere Ebene gehoben durch einen treibenden Groove und ein mystisch anmutendes klangliches Arrangement.

Diese Beispiele sind nur ein Ausschnitt aus den vielfältigen Darstellungsmöglichkeiten im Song. Sie zeigen, dass biografisches Ich, Show-Ich und Song-Ich gewichtige Kategorien sein können, die über die Bedeutung eines Songs entscheiden – und dass Lyrics grundsätzlich ein in sich abgeschlossenes Universum entwerfen, manchmal ohne vermittelnde Instanz. Zu wissen, „wer spricht“, also auch zu verstehen, wie jedes der drei Ichs beschaffen ist, welche Darstellungsformen möglicherweise noch im Spiel sind und wie groß die Nähe beziehungsweise Distanz zwischen dem Autor mit seiner Biografie und seinem persönlichen Umfeld, dem Interpreten und dem Inhalt eines Songs ist, hilft, die mögliche Botschaft eines Textes zu erkennen. Es unterstützt bei der Entscheidung, ob ein Stück wirklich ernst gemeint ist oder als Hantieren mit Versatzstücken, als Sprachspiel, Rollenspiel oder Satire. Und es hilft, Missverständnisse zu vermeiden. Ein nicht ganz unwesentlicher Aspekt, gerade wenn es um Songs geht, für die Künstler gerne mal an den Pranger gestellt werden. Auf solche Songs stößt man ja zwangsläufig in der populären Musik.

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