Читать книгу DIE ZUKUNFT und andere verlassene Orte - Arno Endler, Michael Birke Lutz - Страница 11

Verflucht | Nele Sickel

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»Hier«, flüstere ich und klammere mich an Georgs Hand. »Hier hat er sie erschlagen.«

Georg zieht mich näher zu sich und legt einen Arm um mich. »Dein Vater?«, fragt er.

Ich nicke und vergrabe mein Gesicht an seiner Schulter. Seine Umarmung ist etwas zu eng, zu fest, um angenehm zu sein, aber in diesem Moment bemerke ich es kaum. Innerlich reise ich in die Vergangenheit.

Ich kann sie noch immer schreien hören. Erst meine Mutter, dann meinen Vater, dann wieder meine Mutter – dieses Mal schrill und schmerzerfüllt. Ich höre den dumpfen Schlag, mit dem ihr Körper auf den Boden des elterlichen Schlafzimmers prallt. Die Stille, die darauf folgt. Am meisten erinnere ich mich an die Stille.


Damals stand ich nicht im Schlafzimmer. Ich war unten in der Küche, lauschte und traute mich nicht hinauf. Die Stille ängstigte mich mehr als all der Lärm zuvor. Wie erstarrt saß ich da, in einer Hand das Schälmesser, in der anderen eine Rübe. Eigentlich wollte ich beides fallen lassen, aber es gelang mir nicht. Ich wollte aus dem Haus laufen, aber auch das konnte ich nicht. Steif und verloren hockte ich in der Küche und wusste einfach nicht, wohin.

Solange nicht, bis mein Vater nach mir rief. Ich werde nie vergessen, wie verzweifelt seine Stimme in diesem Augenblick klang. Nicht zornig, einfach nur verzweifelt. Das ließ mich den Mut finden, zu ihm zu gehen.

Mit fahrigen Bewegungen stand ich auf und ließ die halb geschälte Rübe auf den Tisch sinken. Ich wollte das Messer danebenlegen, aber eine kaum greifbare Eingebung ließ mich die Hand zurückziehen. Anstatt das Messer wegzulegen, verbarg ich es unter meiner Schürze, ehe ich hinaufging.

Oben fand ich ihn. Gebeugt und zitternd kniete er über dem zertrümmerten Körper meiner Mutter. Rote Striemen leuchteten auf seinen Armen, da, wo ihre Fingernägel ihn erwischt hatten. Er hielt sein Gesicht in beiden Händen vergraben und schluchzte leise.

»Es war der Fluch«, nuschelte er immer wieder durch seine tränenverschmierten Handflächen hindurch. »Der Fluch! Es tut mir leid. Ich liebe sie doch. Es war der Fluch!«

Ich stand einfach nur da und sah ihn an. Nicht ängstlich – wie er da kniete und weinte, hätte ich niemals Angst vor ihm haben können. Auch nicht wütend. Geschockt vielleicht. Taub. Unwirklich. Die ganze Szene kam mir unsagbar unwirklich vor. Ich wusste, dass er meine Mutter nicht geliebt hatte. Nicht richtig jedenfalls. Dennoch glaubte ich ihm. Sie hatten schon so lange zusammengelebt, dass das Leben des einen ohne den anderen längst nicht mehr vorstellbar war. Er konnte sie nicht einfach so getötet haben. Da musste mehr sein als das. Das musste es einfach.

Irgendwann knieten wir beide neben ihr. Wir hielten einander und wir weinten. Selten habe ich mich meinem Vater so nahe gefühlt wie in diesem Augenblick vor all den Monaten.


»Wir sollten gehen«, meint Georg und seine Stimme so dicht an meinem Ohr erinnert mich daran, wie nah ich ihm nun bin. Physisch zumindest.

Ich sehe zu ihm auf und nicke langsam. Er fragt nicht nach und ich bin froh darum. Ich will ihm nicht erzählen, wie sie gestorben ist. Wie wir um sie geweint haben. Und noch viel weniger will ich ihm erzählen, wie ich meinem Vater geholfen habe, zu verstecken, was er getan hat. Wie die Polizei es doch entdeckt und meinen Vater ins Zuchthaus gebracht hat. Wie schließlich auch er gestorben ist.

Georg zieht mich mit sich die Treppe hinab. Er hält meine Hand fest in seiner und mich beschleicht das Gefühl, dass er mich auch dann nicht losließe, wenn ich ihn darum bitten würde. Doch ich bitte ihn gar nicht. Ich lasse mich ziehen, die Treppe hinab und hinaus auf den Hof. Die milde Abendluft tut mir gut. Sie macht meine Gedanken etwas klarer und schiebt die Erinnerungen ein wenig zurück.

»Du siehst blass aus«, murmelt Georg und berührt meine Wange. »Lass uns etwas spazieren gehen! Es wird ohnehin noch dauern, bis alles eingeladen ist.«

Ich schaue zu, wie zwei von Georgs Knechten die geschnitzte Anrichte aus meinem Elternhaus tragen. Es fühlt sich eigenartig an, zu sehen, wie das Haus, in dem ich mein gesamtes bisheriges Leben verbracht habe, auseinandergerissen wird. Eigentlich müsste ich froh sein. Immerhin bedeutet es, dass mich all diese Dinge in die Ehe und damit in mein neues Leben begleiten werden. Dinge, die es mir überhaupt erst ermöglicht haben, von hier zu entkommen. Als Waise, ganz auf mich allein gestellt, kann ich mich zweifellos glücklich schätzen, dass mein Verlobter statt einer Mitgift einfach die Güter vom Hof akzeptiert hat, die er für sein eigenes Haus gebrauchen kann. Unser Haus. Ich weiß das und ich will ihm dankbar sein. Aber es ist nicht Vorfreude, sondern Wehmut, mit der ich unserem Aufbruch entgegensehe.

Entschlossen, die trübsinnige Stimmung abzuschütteln, wende ich mich vom Haus meiner Eltern ab. »Ja, lass uns gehen«, erwidere ich auf Georgs Worte und gemeinsam treten wir vom Hof hinaus auf die Straße.

Auch hier ist es still. Genauso wie im Haus und überall im Dorf. Die Häuser stehen verlassen in den Schatten der nahen Bäume. Sanfter Wind zieht an den Ästen, aber es reicht kaum, um auch nur das Laub zum Rascheln zu bringen. Die Ruhe ist schon fast gespenstisch.

Georg legt wieder einen Arm um mich; nimmt mich in seinen festen Griff, von dem ich mir einzureden versuche, dass er Sicherheit gibt, und führt mich die Straße hinab. Ergeben lehne ich mich an ihn.

Als wir am Haus der Witwe Schleifer vorbeigehen, beschleunige ich meine Schritte. Ich kann die leeren Fenster sehen, hinter denen einst ihr Schlafzimmer verborgen lag und ich will mich nicht erinnern, was dort geschehen ist. Doch egal, wie schnell ich laufe, die Gedanken, die ich abschütteln will, holen mich nur umso schneller ein. Halten mich genauso fest in ihrem Griff, wie mein Verlobter meine Schultern hält.

Dort hinter den Fenstern, wo nun alles in Staub und Schatten liegt, habe ich sie gesehen.


Ich war hinausgegangen, um weiter unten im Dorf Brot zu kaufen. Der Tag war warm und sonnig und ich hatte es nicht eilig. Also lief ich im Schlenderschritt die Straße hinab, wirbelte etwas Staub mit den Schuhen auf und betrachtete, wie die einzelnen Körner im Sonnenschein funkelten. Dann und wann wanderte mein Blick von einer Seite zur anderen auf der Suche nach einem Grund, noch einen Moment länger zu verweilen.

Dabei entdeckte ich sie: die Witwe Schleifer und meinen Vater. Sie regten sich hinter dem Fenster – halb im Schatten verborgen, aber nur halb. In enger Umarmung versunken teilten sie das Bett miteinander. Und keiner von beiden bemerkte mich, während ich draußen stand und vor Schreck und Wut den Brotkorb fallen ließ.

Ich wusste, wenn ich sie entdeckt hatte, konnte es auch jeder andere. Und es fiel mir nicht schwer, mir auszumalen, was dann geschehen würde: die Geschichte in aller Munde, ein billiger Lacher mit teuren Folgen. Meine Familie gedemütigt, unser Hof gemieden. Keine Aufforderung zum Tanz beim nächsten Fest. Keine Verehrer. Ich hätte als alte Jungfer enden können.

Wie konnten sie mir das nur antun? Wie konnte er es? Es drängte mich, sofort zu ihnen hineinzulaufen und ihnen die Frage in ihre roten, verschwitzten Gesichter zu schreien. Meinen Vater hinauszuzerren und all das zu beenden. Doch ich wusste auch, das hätte ihn zornig gemacht und dazu fehlte mir der Mut.

Lange stand ich da und stellte mir vor, wie es wäre, wäre ich doch nur etwas mutiger. Aber ich sagte nichts und ich bewegte mich nicht. Schließlich ging ich einfach fort.

Erst einige Tage später schlich ich mich zum Haus der Witwe Schleifer zurück. Ich hatte beobachtet, wie sie hinunter ins Dorf gegangen war und ich wusste, dass niemand sonst auf dem Hof war.

Leise schob ich die Eingangstür auf und schlüpfte in den engen Flur. Drinnen war es still und ordentlich. Viel zu ordentlich für eine alleinstehende, hart arbeitende Frau. Ich fragte mich, woher in aller Welt sie die Zeit für all die Arbeit nahm, aber ich hielt mich nicht damit auf. Stattdessen schlich ich in eben jenes Schlafzimmer, in dem sie meinen Vater verführt und sich ihm hingegeben hatte. Ich lief zu dem Bett, das ich so sehr verabscheute, und versteckte eine kleine Strohpuppe im Bezug des Kissens. Nadeln und die Kräuter schob ich unter das Stroh, in dem die Witwe nachts ihren Körper wälzte.

Sobald alles an seinem Platz war, stahl ich mich hinaus. Ohne einen weiteren Blick zu verschwenden, verließ ich diesen Unglücksort und kehrte in die Sicherheit meines Elternhauses zurück. Damals war es das noch – sicher.


Wir folgen der leichten Biegung der Straße – weg von dem Unglückshaus, dessen Anblick mich so quält – und Georg entdeckt die beiden dünnen Äste, die dort zu einem unscheinbaren Kreuz zusammengebunden worden sind. Sofort bleibt er stehen und zeigt darauf.

»Ist das hier der Ort, wo die Frau gefunden wurde?«, fragt er mich. »Du weißt schon, die, an der euer Metzger sich vergangen hat?«

Seine Augen funkeln beunruhigend, während er spricht, und ich schüttle den Kopf – um zu verneinen und um dieses Bild seiner funkelnden Augen gleich wieder loszuwerden.

»Nein, hier haben die Dorfjungen eines der Mädchen so fest mit Steinen beworfen, dass…« Ich breche ab. »Können wir einfach weitergehen? Bitte!«

Kurz sieht es so aus, als wäre Georg unzufrieden mit mir, doch dann wird sein Blick gleich wieder sanfter und langsam nickt er: »Natürlich, Liebes.«

Er geht weiter und ich bleibe an seiner Seite. Noch immer hält er mich in seinem Arm, und während der Abend dunkler und kühler wird, versuche ich, die Wärme zu genießen, die von seinem Körper ausgeht.

»Es ist schwer, sich vorzustellen, dass hier einmal Kinder gespielt haben«, sagt Georg nach einer Weile. »Es ist alles so still.«

Ich schließe für einen Moment die Augen und lasse mich blind führen. »Die Letzten sind schon vor einem Jahr weggezogen.«

»Wegen dieses Fluchs?«

Ich öffne die Augen und nicke.

»Glaubst du daran?«

Mein erster Impuls ist es, nein zu sagen. Aber dann würde er fragen, wie ich nach allem, was geschehen ist, nicht daran glauben kann, und eine Antwort darauf möchte ich ihm nicht geben. Stattdessen sage ich: »Ich weiß es nicht.« Und erkenne, dass es ohnehin die Wahrheit ist. Ich weiß es einfach nicht.

Wir erreichen den kleinen gepflasterten Marktplatz. Ein leckes Fass steht in einer Ecke. Geöffnet und halb verwittert. Sonst ist es genauso still und leer wie überall im Dorf. Es wirkte enger hier, als noch jeder seinen Stand aufgestellt und seine neuesten Erträge verkauft hat. Gemüse, Obst, Brot … Als die Leute sich getroffen und einfach geredet haben. Jetzt ist der Platz so offen und kahl, dass er mir verloren vorkommt. Aber letztlich passt er damit gut zum Dorf und gut zu mir.


Es war voll und belebt auf dem Marktplatz, als ich meine Freundin Luisa und ihren Mann dort suchte. Ich lief quer über das Pflaster und gab mir Mühe, verwirrt und aufgewühlt auszusehen. Das fiel mir nicht schwer, denn es war erst wenige Tage her, dass ich meinen Vater und die Schleifer beieinander gesehen hatte.

Luisa kam mir zuvor. Sie entdeckte mich, bevor ich sie entdecken konnte und als sie bei mir war, nahm sie mich sanft beim Arm und zog mich aus dem Gedränge.

»Was ist denn mit dir los?«, wollte sie wissen.

Ich schüttelte den Kopf und erwiderte aufgebracht: »Ich kann es dir nicht sagen. Nicht, wenn du mir nicht glaubst!«

Das brachte Luisa dazu, halb besorgt, halb verärgert die Stirn zu runzeln. »Sei nicht albern!«, entgegnete sie. »Wieso sollte ich dir nicht glauben?«

Darauf hatte ich keine Antwort, also schüttelte ich einfach noch einmal den Kopf und wandte mich ab. Natürlich hielt Luisa mich zurück.

»Nun sag schon, was los ist«, drängte sie.

Wieder schüttelte ich mich und nahm mir noch einen Augenblick, ehe ich endlich antwortete. »Sie ist eine Hexe!«, platzte ich schließlich hervor. »Ich habe sie zaubern sehen!«

»Wen?«

»Die Schleifer! Im Garten hinter ihrem Haus.«

Luisa betrachtete mich einen Moment verdutzt, dann brach sie in schallendes Gelächter aus.

Sofort fuhr ich herum und machte abermals Anstalten, wegzulaufen. Wieder musste Luisa mich festhalten. Sanft, aber bestimmt schloss sie mich in ihre Arme. Da lief ich nicht weiter weg, aber ich ließ mich noch etwas bitten, ehe ich mich wieder zu ihr umdrehte. Als ich es endlich tat, bohrten sich die Augen meiner Freundin besorgt in meine.

»Meinst du das ernst?«, fragte sie unter angehaltenem Atem.

Ich nickte.

»Das ist doch albern. Bist du sicher, dass sie nicht einfach nur…«

»Nein«, fiel ich ihr ins Wort. »Nein! Sie hat nichts einfach nur. Sie hatte eine Puppe aus Stroh, die sie mit Nadeln traktiert hat und sie hat gesummt oder gemurmelt und war vollkommen versunken.«

Luisa betrachtete mich mit offenem Mund. Ihr Mann kam hinzu und schließlich nahmen die beiden mich mit in ihr Haus. Wir sprachen noch lange. Am Ende glaubten sie mir. Und die Gerüchte begannen, sich zu verbreiten.


»Willst du einen Moment Pause machen?«, fragt Georg. »Du wirst blasser und blasser.«

Ich sehe zu ihm auf und konzentriere mich darauf, einige Mal tief ein- und auszuatmen. Dann schüttle ich den Kopf. »Nein, es geht schon. Ich denke, es ist besser, wenn wir weitergehen. Die Bewegung ist gut für meinen Kreislauf.«

»Wie du meinst.«

Er streicht mir über den Rücken und führt mich weiter.

»Was dir wirklich guttun wird«, sinniert er nach einer Weile, »ist endlich von hier zu verschwinden. Was für ein unfassbar bedrückender Ort. Du hättest hier nie leben sollen, schon gar nicht allein.«

Ich lehne mich im Laufen an seine Schulter. »Früher war es hier ganz anders.«

»Mag sein, aber es geht schon bergab mit diesem Nest, seit dieser Junge im Brunnen ertrunken ist.«

Darauf kann ich nur nicken.


Der Junge hieß Simon. Er war ein paar Jahre jünger als ich und der Spross einer der größeren und älteren Bauernfamilien hier im Dorf. Seine älteren Brüder waren immer frecher und lauter gewesen als er. Daneben war Simon nie aufgefallen. Ihn kannte ich kaum und so ging es, denke ich, den meisten. Dennoch änderte sein Tod alles.

Niemand war bei ihm, als er starb. Deshalb konnte niemand genau sagen, wie es geschehen war. Seine Mutter fand ihn erst am Abend im Brunnen. Da war er längst ertrunken. Sie schrie und rief um Hilfe, bis schließlich einige Männer aus dem Dorf kamen und ihn hinauf zogen.

Noch am selben Abend versammelten wir uns alle in der Kirche zur Andacht. Ich erinnere mich, wie Simons Familie und seine wenigen Freunde dicht gedrängt zusammensaßen und um ihn weinten. Auch ich weinte ein wenig, aber weniger um Simon, als um des Schreckes willen. Die Vorstellung, wie es wäre, würde einem meiner Lieben so etwas geschehen, machte mir Angst und ich suchte Trost im Arm meiner Mutter, während ich der Predigt lauschte.

Dass einige Männer bei der Andacht fehlten, bemerkte ich erst, als mitten im stillen Gebet die Tür aufsprang.

»Sie war es«, brüllte August Link, während er schnaufend auf die Kanzel zustürmte. »Die Schleifer hat ihn umgebracht! Hexe!«

In seiner Hand hielt er die Puppe und die Nadeln, die ich nur allzu gut kannte, und wedelte damit über seinem Kopf herum. Hinter ihm fielen andere aus seiner Gruppe in sein Rufen ein.

Mit pumpender Brust und geballter Faust kam August vor der Gemeinde zu stehen. Unser Pfarrer war trotz seines hohen Amtes immer ein stiller, beinahe schüchterner Mann gewesen. Er machte keinen Versuch, in das Geschehen einzugreifen oder uns zur Besinnung zu rufen. Er stand einfach schweigend auf der Kanzel, ließ August reden und betrachtete das alles mit distanziertem Interesse.

Mein Blick wanderte zur Schleifer. Sie saß ganz still auf der Kirchbank, umgeben von bohrenden Augen, die sie kaum zu bemerken schien. Ihre eigenen Augen waren geweitet, der Mund halb geöffnet, die Finger verkrampft. Zunächst wirkte es so, als verstünde sie gar nicht, worum es ging. Erst ganz allmählich realisierte sie, worüber gesprochen wurde. Als sie es dann verstand, wurde sie sehr blass.

Heute denke ich manchmal, wie seltsam es ist, dass niemandem die Art ihrer Reaktion auffiel. Sie zuckte nicht zusammen, sie versuchte nicht sofort, sich zu verteidigen, sie saß einfach da und verstand nicht, was um sie herum geschah. So verhält sich niemand, wenn er auf frischer Tat ertappt worden war. Doch keiner außer mir schien das zu bemerken.

»Das hier war in ihrem Haus versteckt«, donnerte August in diesem Moment und zog alle Augen auf sich. Wieder schwenkte er Puppe und Nadeln hin und her. »Sie ist eine Hexe! Sie hat gezaubert, um Böses über uns zu bringen, und nun ist Simon gestorben!«

Die Mutter des toten Jungen schluchzte laut. Ihr Mann drückte sie einen Moment an sich, dann stand er auf und bahnte sich einen Weg durch die bereits raunende Menge. Seine Wangen waren tränennass, aber jetzt bebte er vor Wut.

»Wieso?«, brüllte er der Schleifer entgegen, während er lief. »Wieso unser Junge? Wie konntest du?«

Die so Angerufene schüttelte nur den Kopf und hob abwehrend die Hände. Zweimal setzte sie an, um zu sprechen, aber offensichtlich fehlten ihr die Worte.

August fehlten sie nicht. »Was spielt es für eine Rolle, wieso? Und meinst du wirklich, sie würde es dir sagen? Sie lügt, sie hat uns alle belogen! Wie lange treibst du dieses Spiel schon, hm? Hexe! Glaubst du, wir sind blind?«

Als sie nun beide Männer auf sich zukommen sah, löste die Schleifer sich aus ihrer Starre. Sie sprang auf und wollte zurückweichen, aber auch die Umstehenden hatten sich bereits erhoben und hielten sie zurück. Hände über Hände griffen nach ihren Armen, ihren Schultern und ihren Kleidern. Sie zogen, schoben und zerrten sie nach vorn in den Gang. Dort versuchte sie, nach hinten zum Kirchentor zu fliehen, aber neue Hände griffen nach ihr und eine rasch anwachsende Menschentraube auf dem Gang versperrte ihr den Weg. Irgendjemand stieß sie auf die Knie.

»Seid ihr wahnsinnig?«, rief sie.

Da erreichte Simons Vater die Stelle, an der sie kniete, und schlug ihr ins Gesicht. Sie schrie. Mir wurde schlecht. Ich wollte mich abwenden, aber es gelang mir nicht …


»Hörst du mir eigentlich zu?« Die Art, in der Georg seine Stimme hebt, bringt mich jäh ins Hier und Jetzt zurück. Sein Arm löst sich von meinen Schultern und er lässt mich frei. Ich mache einen Schritt zurück.

Aus dieser kurzen Distanz sehe ich seine Augen zornig blitzen und wage es nicht, den Kopf zu schütteln. »Entschuldige«, flüstere ich.

»Wo bist du mit deinen Gedanken?«, fährt er donnernd fort. Von seiner Sorge um mich ist nichts mehr zu sehen. »Umso weiter wir gehen, umso mehr schweifst du ab. Ich tue das hier für dich! Wenn du es nicht willst, dann …« Er unterbricht sich und atmet dreimal tief ein und aus. Ich kann förmlich sehen, wie er sich zur Beherrschung zwingt. Meine Augen wandern zu seiner Hand. Sie ist zur Faust geballt und zittert, als stünde sie kurz vor der Bewegung. Ich bekomme Angst.

»Es tut mir leid«, setze ich erneut an und sehe wieder in seine Augen, aber er winkt ab.

»Schon gut, lass uns weitergehen!« Wie zuvor nimmt er mich bei den Schultern und zieht mich noch näher an sich heran.

Dann laufen wir weiter. Ich recke den Kopf und schaue ihn an. Sein Gesichtsausdruck ist streng. Die Augen starr geradeaus gerichtet. Die Stille zwischen uns ist anders als zuvor. Nicht vertraut oder tröstlich oder wenigstens gleichgültig. Sie ist zum Zerreißen gespannt und geradezu greifbar. Ich überlege, ob ich ihn fragen soll, was er zuletzt gesagt hat, aber ich finde den Mut dazu nicht.

Also schweigen wir. Georg führt mich die gerade Straße entlang, während die Sonne endgültig hinter den fernen Baumwipfeln verschwindet und alles um uns herum dunkel und grau zu werden beginnt. Schließlich entdeckt Georg ein weiteres Kreuz am Straßenrand.

»Was war es hier?«, fragt er. Seine Stimme ist leiser als zuvor. Sein Atem geht ruhiger.

Ich schließe die Augen, um die Welt vor mir auszuschließen. »Da hat einer seine Tochter erschlagen«, erkläre ich mit brüchiger Stimme. »Bitte. Bitte lass mich nicht weiterreden.«

Ich traue mich kaum, ihn anzusehen, aber diesmal ist Georg nicht wütend. Er legt auch den zweiten Arm um mich und küsst meine Stirn. Ich kann mich in seiner Umarmung nicht ganz entspannen, aber ich versuche es.

»Wir können zurückgehen, wenn du willst«, flüstert er. »Es kann hier ja kaum auszuhalten sein für dich, mit all den Erinnerungen.«

Ich zittere, aber ich schüttle den Kopf. »Nein, bitte. Ich will mich verabschieden.«

Er legt eine Hand unter mein Kinn und drückt es mit sanfter Gewalt nach oben, bis ich ihn ansehe.

»Gut«, sagt er, »aber wirklich nur noch bis zum Waldrand, einverstanden?« Es klingt nicht wirklich nach einer Frage.

Ich nicke trotzdem und einer Eingebung folgend strecke ich die Hand nach seiner Wange aus. »Danke, Liebster.«

Mein Streicheln bringt ihn zum Lächeln und ich spüre erleichtert, wie er sich entspannt. Die Stille kehrt wieder in ihren vertraut gleichgültig friedlichen Zustand zurück. Auf dem Rest des Weges aus dem Dorf hinaus kann ich mich wieder an Georg lehnen, ohne mich unbehaglich zu fühlen. Sogar seine Wärme kann ich ein wenig genießen.

Für einen Moment verliere ich mich nicht in Erinnerungen, sondern in Erwartungen. Ich stelle mir unser gemeinsames Leben vor. Ein belebter Hof, Kinder, genug zu essen und schöne Kleider für das Ansehen im Dorf. Einem Dorf, das lebendig ist. In dem es Kinder gibt und Feste. Vielleicht wird es sogar Spaziergänge geben, so wie heute. Gemeinsame Abende vorm Kamin. Wärme. Wer sagt, dass es nicht wunderschön werden wird?, denke ich.

Und während ich das denke, erreichen wir den Waldrand. Georg bleibt stehen.

»Bitte lass uns einfach einen Moment hierbleiben, ja?«, flüstere ich.

Er schweigt. Sein Atem bleibt ruhig und er legt abermals den zweiten Arm um mich. Das interpretiere ich als Zustimmung. Ich lehne mich an ihn und lasse mich von den letzten Erinnerungen einholen.

Dass sie mich hier kriegen würden, habe ich gewusst. Schon seit wir den Marktplatz verlassen haben, habe ich mich vor ihnen gefürchtet. Ich hätte sie nur zu gern vermieden, wäre zurückgegangen, dem Wald ferngeblieben. Aber ich weiß auch, dass ich mich diesen Erinnerungen stellen muss, wenn ich mich wirklich verabschieden will. Und das will ich mehr als alles andere. Es soll endlich ein Ende haben. Also schließe ich die Augen und lasse mich überrollen.


Es war grau im Wald, als sie sie herschleppten. Genauso grau wie jetzt. Aber die Sonne ging damals nicht unter, nein, sie ging auf. Ich hatte die Nacht in meinem Bett verbracht, doch nach dem, was ich von anderen hörte, hatten sie sie die ganze Nacht über verhört.

Als Luise und ich mit einigen anderen aus dem Dorf den Waldrand erreichten, kniete die Schleifer schon umringt von Menschen im kalten Laub. Ihre Frisur hatte sich gelöst, braune Flecken zogen sich an mehreren Stellen über ihr Kleid, rote Striemen über ihre bleiche Haut. Sonst schien ihr nichts zu fehlen.

»Geh endlich«, knurrte Simons Vater gerade, als wir in Hörreichweite kamen. »Verschwinde von hier!«

Andere stimmten mit ein.

»Seid ihr wahnsinnig?«, keifte die Schleifer zurück. Verzweiflung, Wut und Erschöpfung rangen um die Vorherrschaft in ihrer Stimme. »Wohin sollte ich gehen? Ich habe nichts und niemanden sonst. Damit verurteilt ihr mich zum Tode!«

Sie schluchzte zornig, aber das ließ die anderen nur umso lauter werden.

Ich betrachtete es voll Schrecken. Das hatte ich nicht gewollt. Ich hatte ihre Glaubwürdigkeit untergraben wollen. Ihren Ruf, sicher. Aber dass sie sie anrühren würden? Dass sie sie ausstoßen würden, nur weil ich diese dumme Hexengeschichte in die Welt gesetzt hatte? Wie hatte das geschehen können? Was konnte ich jetzt noch tun?

Nichts. Ich tat nichts.

Ich tat nichts, als die Schleifer uns anbettelte, noch einmal nachzudenken. Uns zu erinnern, wie sie all die Zeit als ein Teil von uns gelebt hatte. Uns zu fragen, wieso sie Simon hätte irgendetwas antun sollen, wo sein Tod ihr doch überhaupt nichts einbrachte. Ich tat nichts, als die anderen brüllten und drohten und ihr befahlen, zu verschwinden. Ich tat nichts, als sie dennoch blieb. Kniete, wo sie war. Und ich tat nichts, als der erste Stein flog.

Gerade als die Welt ihre Farben zurückgewann, mischte sich Rot unter das Braun der welken Blätter. Mehr und mehr sprenkelte es den Waldboden, solange bis die Schleifer schließlich dazwischen zusammenbrach. Ich konnte sehen, wie sie aufgab. Wie ihre Lider zu schwer für sie wurden.

»Ich verfluche euch nicht«, flüsterte sie, während sie ging. Nachdem der letzte Stein sein Ziel gefunden hatte, war es still geworden im Wald. Und der Wind trug ihre dünne, sterbende Stimme zu uns hinüber. »Ich muss euch nicht verfluchen. Ihr werdet euer eigener Fluch sein. Das Böse, das ihr in mir seht, tragt ihr selbst in euch. Es wird jeden von euch vernichten. Jeden, der hier lebt.«

Falls sie noch mehr sagen wollte, ging es im wieder aufschäumenden Stimmenmeer unter. Sie starb beschimpft und unbeweint. Wir verbuddelten sie im Waldboden. Keine Messe, keine Gebete. Niemand sprach über sie oder den Morgen, an dem sie gestorben war. Und für eine Weile glaubte ich, irgendwann vergessen zu können.

Doch was blieb, war der Fluch. Als der Erste im Streit seinen Nachbarn erstach, war es der Fluch, der ihm das Messer in die Hand gegeben hatte. Als der Zweite sich an einer ledigen Frau verging, war es der Fluch, der ihm seine Beherrschung genommen hatte. Freunde und Familien wandten sich gegeneinander. Alles zerbrach. Und wer nicht vom Fluch heimgesucht wurde, zog fort, solange er es noch konnte.


Ich bin die Letzte. Wenn ich wegziehe, wird es hier niemanden mehr geben. Niemanden, der die Felder bestellt und auch niemanden, der sich erinnert. Das Dorf ist gestorben. Genauso wie die Witwe Schleifer. Es hat nur ein wenig länger dafür gebraucht.

Ihr werdet euer eigener Fluch sein, geht es mir immer wieder durch den Kopf.

Georg gräbt seine Fingerkuppen in meine Schulterblätter und dreht mich zu sich um.

»Lass uns endlich gehen«, fordert er. »Du hast dich genug verabschiedet und es ist gleich dunkel. Außerdem tut dir zu viel frische Luft gar nicht gut, denke ich.«

Ohne meine Antwort abzuwarten, legt er wieder seinen Arm um mich und zieht mich mit sich zurück. Ich bin noch halb benommen von der Intensität der Erinnerungen, aber ich ertappe mich bei der Vorstellung, ihn von mir zu stoßen. Aus irgendeinem Grund fällt mir der Tag wieder ein, an dem meine Mutter starb. Wie ich das Messer einsteckte, ehe ich zu meinem Vater ging …

Es endet hier, denke ich mit aller Entschlossenheit, die ich aufbringen kann. Die Schleifer war keine Hexe und es gab nie einen Fluch. Nur Menschen, die für all das Übel, das in ihnen schlummerte, endlich eine Ausrede hatten. Und selbst wenn es doch einen Fluch gegeben haben sollte, dann stirbt er jetzt und hier mit dem Dorf. Ich gehe fort und dann wird sich nichts hiervon je wiederholen und nichts davon mehr wichtig sein. Nichts.

Ich will es glauben. Und ich will vergessen. Doch während Georg seinen Arm fester um meine Schulter zieht und seine Schritte beschleunigt, ertappe ich mich bei dem einen Gedanken, um den immer wieder alles kreist:

Ich bin nicht sicher.

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