Читать книгу DIE ZUKUNFT und andere verlassene Orte - Arno Endler, Michael Birke Lutz - Страница 7
ОглавлениеDer Turm | Ralph Bruse
Weit fliegt der Blick – weit ins windgekämmte Land. Das wogende Gras schimmert dunkelblau. Hier der Deich, der fast schnurgerade zum Himmel führt. Da hinten Salzwiesen, die allein den Seevögeln gehören. Und dann nichts mehr, außer einem Fetzen ruhenden Meeres.
Ebbe.
Die Flut – wo bleibt die Flut? Irgendwann wird sie schon kommen – stumm, unmerklich, und mit ihr fahren die Fischer nach Hause zurück. Doch jetzt herrscht große Stille.
Ein Tag im August. Der Wind wartet auf die Stunde seines Erwachens. Die Sonne brannte auch schon mal stärker.
Da oben, auf dem Deich, schiebt jemand sein Fahrrad.
Ein Mann?
Ja, es ist ein Mann, so um die dreißig, vielleicht auch älter.
Was treibt er da oben?
Was soll er schon treiben. Nichts – er lässt sich treiben – spaziert, weil er keine Eile hat. Vielleicht weiß er demzufolge auch nicht, wohin er will.
Zur Landseite hin erhebt sich ein Turm. Die Einheimischen nennen ihn Ochsenturm, weil er schief dasteht, wie ein krummer Finger, der immer noch standhaft jedem Sturm trotzt – stur wie ein Ochse eben.
Der Turm ist die einzige Erhebung weit und breit.
Wer will es dem Fremden verübeln, dass er sich wieder aufs Rad schwingt, deichabwärts saust, eine Schar Schwalben im Rücken, Richtung Turm. Auf ihn!, ruft er dem Wind zu.
Die Fahrt wird immer schneller. Zwei Schwalben kreuzen übermütig seinen Weg, lassen ihn vor, überholen, zisch, wenden, um das Spiel zu wiederholen. Der Mann jubelt im Rausch der rasanten Fahrt; nur leider vertreibt sein Jubeln schließlich die Schwalben. Nicht so schlimm, denn der Turm kommt näher, wird größer, beinah erschreckend groß, und dann verstellt der »krumme Finger« ihm den Weg. Da, wo dieses Ungetüm von einem Turm aufsteigt, ist der Weg zu Ende, und der Mann erwischt sich bei dem Gedanken, dass hier gar das Ende der Welt sein muss, was ja beinah auch stimmt, weil die Gegend augenscheinlich an großer Einsamkeit stirbt.
Er überlegt schon, ob er umkehren soll – da sieht er eine junge, in sich vertiefte Frau, die zu Füßen des Turms das Grab ihrer Verstorbenen pflegt. Zögernd geht er näher. Dann kann er sehen, dass hangabwärts, unweit der Frau, weitere Grabsteine aufragen. Die Steine sind brüchig; ihre Inschriften zum Teil unlesbar.
Auf Friedhöfen zu wandeln ist sicher nicht jedermanns Sache. Aber hier, an diesem vergessenen Ort, fern jeder Siedlung, abseits von Lärm und Zänkereien, der Selbstfindung ganz nah – da läuft man nicht einfach so weg, nur weil man ein Fremder ist. Die Stille schlingert um den Turm, wacht über bleiche Gräber, raunt vom Himmel und in Wiesen. Stumme Engel schweigen auf moosigen Gräbern. Manche sind weiß; die Mehrheit aber ist grau, rissig, ohne Arme und Köpfe, die der stramme Seewind wegriss.
So, oder so – jeder Stein würde seine Geschichte erzählen, ließe man sie nur. Jan Braase, zum Beispiel … der ruht unter einem grob gemeißelten Speckstein, gleich neben der Turmmauer. Er war Wärter – der Wächter des Turms. Achtzig ist er geworden. Von diesen achtzig Jahren war er keinen Tag weniger in diesem Turm. Braase war hier Kind, Junge, Mann, Vater, Großvater. Als er starb, weinten viele um ihn.
Die Frau an seinem Grab wischt sich Tränen vom Gesicht.
Jetzt wirft sie den Kopf herum, weil die knirschenden Schritte des Fremden nicht mehr zu überhören sind.
Guten Tag, sagt der Mann ruhig, in der Hoffnung, sie wird ihr jähes Erschrecken recht schnell bezwingen. Er zögert, weil er den noch abweisenden Blick ihrer Augen erkennt. Doch dann stapft er einfach noch näher und reicht ihr wohlgesonnen die Hand. Sie reibt ihre Hand zwar kurz an seiner, sagt aber nichts. Dass sie ihm – immerhin – nicht gänzlich misstraut, deutet er als gutes Zeichen.
Sie widmet sich wieder ihrer Arbeit.
Der Mann wirkt eher froh als betrübt. Hier, in der Einöde, ist ihm auch nicht sonderlich nach Reden zumute. Also tritt er langsam den Rückzug an, verabschiedet sich, schnappt nach dem Fahrrad an der Mauer, will gerade das Weite suchen, als sich der Himmel urplötzlich schwärzt und Gewitterblitze aufs Land niederkrachen. Schon fallen dicke Regentropfen. Der Wind erwacht. Schwalben fliehen ans Ufer, bestürmen das sichere Turmdach. Möwen schreien. Wiesen rauschen. Mauern ächzen. Und die zwei Menschen – was tun sie? Sie reißen fast gleichzeitig die schwere Turmtür auf, retten, schütteln sich – schütteln sich wie nasse Hunde, kichern, und die ersten, scheuen Worte hallen gespenstisch von den hohen Mauern wider. Zarte Vertrautheit legt unsichtbare Arme um sie. Sie reden, lächeln mitunter, sprechen langsam, vertieft, unerklärliche Traurigkeit in den Stimmen – es ist ein Wechselspiel von Heiterkeit und Melancholie.
Erst als eine kurze Pause eintritt, steigen sie die knarrigen Holzstufen zur Turmspitze hoch. Die Frau vorneweg, der Mann schnaufend dahinter. Ihm ist das nasse, wurmstichige Holz nicht geheuer.
Die Frau lacht jetzt. Ihm ist nicht danach. Erst als sie zusammen auf der wackelnden Empore des Turms stehen – dreiundachtzig Meter über den Gräbern –, müht sich ein Lächeln in seinen Mundwinkeln.
Der Turm stöhnt unter der Wucht des schweren Regens. Einmal glauben sie sogar, lose Backsteine in die Tiefe krachen zu hören. Oder war es nur die tosende Brandung, ein übermächtiges Grollen, das haltlos an Land stürmt?
Während sie – genau wie die Schwalben unterm Turmdach – dicht aneinander gedrängt ihre Blicke in die regenschwere Ferne schweifen lassen, sagt sie mehr zu sich: Ich bin oft hier. Eigentlich war ich nie weg, von hier …
Erzählen Sie mir davon, bittet er.
Sie schweigt – aber nicht sehr lange.
Dieser Raum war mein Zimmer.
Sie zeigt zur Seeseite hin.
Hier, genau hier, wo wir jetzt stehn, saß Vater auf Wache … Tagein, tagaus. Ich erinnre mich nicht, ihn je an einem andern Platz gesehn zu haben. Manchmal ist er eingenickt, aber meist war er hellwach. Dann hat er mir Geschichten von früher erzählt, als er selbst ein kleiner Junge war. Mein Aussichtszimmer war ja auch schon seins. Er war ganz stolz, dass es ihm allein gehörte. Sein ganzer Reichtum, wie er sagte.
In seinen Geschichten ging es immer um vorbeifahrende Schiffe, um Winde, Gezeiten. Er wurde es nie leid – und ich auch nicht. Wenn Mutter die weißblaue Bettwäsche zum Turmfenster raushängte, dann wusste jeder im Umkreis, dass in der letzten Nacht wieder ein Schiff im Sturm gesunken war.
Vater war ein wortkarger Mann, was auch nicht weiter verwundert, wenn man unaufhörlich zu tun hat, Schiffen mit Leuchtfeuern den Weg zu weisen. Wenn trotz menschenmöglichster Wachsamkeit dennoch ein Schiff sank, dann wurde Vater gänzlich stumm; aß, trank nichts; schob alle Schuld auf sich.
Von Zweifeln zerrissen, blieb er einfach hier sitzen, starrte abwesend vor sich hin, ließ keinen zu sich – Stunde um Stunde; manchmal für Tage.
Sie stockte; atmete tief ein und aus.
Irgendwann sprach er überhaupt kein Wort mehr, oder allerhöchstens noch mit sich selbst. Er wurde krank. Mutter hängte nun jeden Tag das Bettzeug zum Fenster raus, was soviel bedeutete, wie: Einem Familienangehörigen geht es sehr schlecht … Nach und nach kamen sie alle, die weit verstreut lebenden Leute aus der Gegend. Alle wünschten ihm ehrlichen Herzens baldige Genesung. Aber in ihren Augen konnte man lesen, dass sie Abschied von dem alten Herrn nahmen. Sie gingen davon, und kurz darauf starb Vater.
Sie bebte; stampfte sich die Trauer aus dem Leib.
Hier ist er gestorben. Hier, wo wir jetzt sind!
Das wütende Stampfen ihrer Beine wollte nicht enden.
Da unten sind alle begraben. Vater, Mutter, und … und … und … all die namenlosen Seeleute, beeilte sie sich zu sagen.
Unendlich mutlos hielt sie inne. Ihre Tränen brachen in kleinen Bächen hervor. Der Mann zog sie an sich – sanft, ganz behutsam.
Das Gewitter verzog sich.
Die dampfende Luft klarte auf.
Zeit zu gehen. Er hätte ihr gern noch etwas Aufmunterndes gesagt, doch sein Kopf war so schwer vom Erzählten, dass er nur mitfühlend hinabsank, in ihr Haar; in das feuchte, nach Seetang riechende Haar.
Einige Minuten vergingen noch. Sie lösten sich voneinander, stiegen schweigend die Stufen hinab. Unten angekommen sah er linker Hand zur Außentür eine in die Wand eingelassene Schrifttafel, die ihm vorhin nicht aufgefallen war. Er las:
Hier lebte einst die Familie Braase. In einer Winternacht des Jahres 1962 löschte der geisteskrank gewordene Jan Braase gewaltsam das Leben seiner Frau, seines Kindes und schließlich sein eigenes Leben, durch den Sturz vom Turmdach, aus.
Erst Wochen später fanden Bauern aus der weiteren Umgebung die nackten Gebeine der beiden Alten.
Die Gebeine des Kindes jedoch blieben bis heute unauffindbar.
Darunter der nüchterne Hinweis:
Trotz der tragischen Umstände soll dieser Turm als Aussichtspunkt erhalten bleiben. Für fortlaufende Instandsetzungsmaßnahmen benötigen wir auch Ihre Spende.
Das Bürgermeisteramt in Vietow
Der Mann spürte deutlich das beginnende Zittern seiner Glieder. Er starrte die Wand an – ungläubig, verwirrt, griff nach der zarten Hand, neben sich.
Doch er griff ins Leere.
Er sah die Frau davonrennen.
Sein Rufen half nicht.
Müde vor Kummer fuhr auch er davon.
Am nächsten Tag kam er wieder. Auch am übernächsten. Aber der Turm war verwaist. Unermüdlich suchte er wieder und wieder den verlassenen Ort auf.
Nichts. Keine Menschenseele ließ sich blicken; erst recht keine junge Frau, die in seiner Erinnerung so schön war und unglücklich, dass er schließlich selbst tieftraurig wurde. Dermaßen bedrückt und bald auch ohne jede Lebensfreude, bestieg er am Tag der Abreise den Turm, um sich hinunterzustürzen.
Da vernahm er hinter sich ein leises Wispern – nein, ein Kichern, wie er es schon einmal gehört hatte …
Das war ihr Kichern!
Sein Kopf flog herum.
Sie war nicht da.
Die Traurigkeit packte noch härter zu.
Er trat auf die Empore.
Noch einen Schritt.
Da war der Himmel – zum Greifen nah. Und unten, der Friedhof.
Er entschied sich für den Himmel, rannte die Treppen runter – zwei, drei Stufen auf einmal, aufs Rad, jagte ihr nach – von Schwalben flankiert, durch den Wind, jeden Sturm – ihr hinterher!
Er sah sich fliegen, lachte hell, rief, schrie – bis er sie – und sich selbst am Horizont erkannte. Und plötzlich weiß er, dass er nicht abreisen wird. Nie mehr!