Читать книгу DIE ZUKUNFT und andere verlassene Orte - Arno Endler, Michael Birke Lutz - Страница 14
Ein strahlendes Lachen | Sarah Hanuschik
Оглавление»Und die wichtigste Regel ist: Nichts anfassen.« Dmitri beendet seinen Vortrag in gebrochenem Englisch und lässt das Mikro in den Schoß sinken. Als wenn wir ihn in dem kleinen Van nicht auch so hören könnten. Die Heizung pustet trockene Luft in unsere Gesichter und lässt die blaugelbe Flagge am Armaturenbrett flattern.
Ich rutsche auf dem Sitz rum, nach zwei Stunden Fahrt tut mein Hintern in jeder Position weh. Mit dem Ärmel wische ich ein Loch in das Kondenswasser. Kahle Sträucher und Bäume ziehen vorbei. Feiner Schnee verziert die Landschaft wie Puderzucker einen verbrannten Kuchen. Mir kommen Omas Worte in den Sinn. Dort macht man keinen Urlaub. Dort herrscht der Tod. Urlaub würde ich es auch nicht nennen. Eher Entdeckungsreise.
Ein Haus taucht zwischen den Büschen am Straßenrand auf. Die Fensterläden hängen schief in den Angeln, die Scheiben sind zerbrochen. Luca und Matteo, in der Reihe vor mir, konnten sich schon die ganze Zeit kaum auf den Sitzen halten. Redeten, zappelten, machten Selfies und unternahmen einen kurzen Kontaktversuch in meine Richtung. Jetzt sind die beiden Italiener nicht mehr zu bremsen, springen auf und drücken ihre Smartphones an die Scheibe. Erst als das Haus längst außer Sicht ist, setzen sie sich und begutachten ihre Beute. Filter drauf, hochladen, Likes sammeln. Die fotografieren echt jeden verstrahlten Kackhaufen und dabei sind wir noch gar nicht in der Sperrzone.
Ich sinke in den Sitz und umarme meinen Rucksack.
Am zweiten Kontrollposten stehen wir bibbernd in der Kälte. Ich sehe die nackten Knöchel der Bloggerin – Nerdbrille und Pagenschnitt wecken Erinnerungen an Velma aus Scooby-Doo – und ziehe meine Mütze weiter über die Ohren. Ihr Freund, bewaffnet mit Hipsterbart und Profikamera, verrenkt sich, um das perfekte, nicht gestellt wirkende Foto zu machen. Die beiden sind, neben mir und den hibbeligen Italienern, die einzigen Verrückten, die bei Minusgraden diesen Tagesausflug unternehmen.
Ich trete von einem Fuß auf den anderen und beobachte, wie mein kondensierter Atem davonfliegt. Bisher das Spannendste, was ich heute gesehen habe. Wir sind umgeben von Winterwiesen und ein paar grauen Gebäuden in der Nähe der Schranke, die uns an der Weiterfahrt hindert. Verstaubte Kiesel und umgeknickte Grashalme verstärken die Tristesse und flüstern: Geht weg. Es gibt nichts zu sehen.
Dmitri spricht mit einem Kontrolleur, der Pelzmütze und Sturmgewehr trägt. Sie lachen rau und schlagen sich auf die Schultern. Schließlich wird die Schranke geöffnet und wir fahren in die Todeszone. Von hier sind es dreißig Kilometer Luftlinie zum Reaktorblock vier.
Der Motor dröhnt. Auf dem Zweier neben mir zerquetschen sich Velma und Bartmann fast ihre Hände. Luca und Matteo halten die Münder geschlossen und die Augen offen, als hätten sie Angst, etwas Wichtiges zu verpassen.
Ich habe mich informiert. An einem Tag in Tschernobyl bekommt man so viel Strahlung ab wie auf einem einstündigen Flug. Absolut ungefährlich. Oma hatte sich nie wieder hergetraut. Oft erzählte sie mir, wie es damals gewesen ist, aber begriffen habe ich es nie. Ich muss sehen, wozu der Mensch fähig ist, die Auswirkungen mit eigenen Sinnen spüren. Um endlich zu verstehen. Meine Hände reibe ich an der Jeans trocken und klemme sie unter die Achseln.
Der Kindergarten hockt bleich hinter den Brombeersträuchern, ein ausgetretener Pfad führt durch das Dickicht zu weißen Flügeltüren. Langsam gehe ich auf das Haus zu. Von den blauen Holzrahmen blättert die Farbe, die meisten Fenster fehlen oder sind zerbrochen. Das Dreirad auf der Veranda wird wohl kein Kind mehr zum Lachen bringen, zwei der Räder fehlen.
Im Laub sehe ich blonde Haare, weiße Rüschen. Ein totes, blaues Auge starrt mich an und ich fange an, in meiner Daunenjacke zu schwitzen. Es ist nur eine Puppe, kein Grund nervös zu werden.
Ein Schrei lässt mich zusammenfahren.
»Vierzehn Komma sechs!« Durch die blätterlosen Sträucher sehe ich Velma vor einem kleinen Erdhaufen auf und ab hüpfen. Ihr Geigerzähler piept den Rhythmus dazu. Meine Reisekollegen schwirren umher wie Bienen, die den Honig suchen, die gelben Geräte knattern und weisen den Weg zum nächsten Hotspot. Wer die höchste Strahlung findet, darf sie behalten.
Ich werfe einen Blick auf mein Messgerät. Es zeigt einen Wert von vier Komma sieben Mikrosievert – weit entfernt von normal. Ich sehe diese Zahlen und versuche, mir vorzustellen, wie die Strahlen sich in meine Zellen drängen, immer tiefer, bis die Moleküle auseinanderbrechen und meine DNA mutiert. Versuche zu begreifen, dass diese unsichtbare Gefahr Zehntausende Menschen dazu gezwungen hat, ihre Wohnungen und alles darin zurückzulassen. Und jetzt stehen wir hier und machen Fotos von ihrem verlorenen Leben.
Das Gejohle klirrt in meinen Kopf. Ich erinnere mich an ein Foto, das vor Kurzem einen Shitstorm ausgelöst hatte. Zwei Mädchen mit strahlendem Lächeln, Victoryzeichen und über ihren Köpfen »Arbeit macht frei«.
Ich wende mich von den anderen ab. Zwei Stufen führen auf die Veranda des Kindergartens, das brüchige Holz knarrt unter meinen Winterstiefeln. Die Flügeltüren stehen offen und mit klopfendem Herz betrete ich das alte Gebäude. Betonbrocken und Berge von altem Laub erschweren den Weg in das erste Zimmer. Verrostete Metallgestelle füllen den Raum, dann erkenne ich ein kleines Bett neben dem anderen. Die Matratzen sind verrottet und die Tapete hängt von den Wänden. Fünf Tage hat es gedauert, bis dieser Ort nach dem Unglück evakuiert wurde. Fünf Tage, an denen Jungen und Mädchen hier gespielt und geschlafen haben.
Ich schleiche weiter. Überall liegen Bücher, lose Seiten bedecken die Holzdielen. Auf einer Fensterbank sitzen vier Puppen mit hochgestreckten Ärmchen und winken mir zu.
Im Türrahmen des nächsten Zimmers bleibe ich stehen und ziehe die Luft scharf ein. Der Boden ist übersät mit Gasmasken. In der Mitte des Raumes steht ein roter Stuhl, der Lack blättert ab. Darauf sitzt stolz eine Puppe mit Maske. Die Herrin der Masken.
Hinter mir knarrt eine Diele. Ich zucke herum. Nichts zu sehen. Das Haus ist alt und heruntergekommen, natürlich macht es komische Geräusche.
Dann höre ich die Kinder. Sie lachen. Und es ist, als würde mir eine kalte Hand in den Nacken packen, ein Kribbeln läuft über meinen Körper. Bewusst langsam atme ich ein und wieder aus. Ich lausche und höre außer dem Rauschen meines Blutes nichts.
Eine feste Hand packt mich an der Schulter. Ich fahre herum und sehe Dmitris grimmiges Gesicht. »Immer in der Gruppe bleiben.«
Ich zittere. »Sorry.«
Luca und Matteo poltern mit gezückten Handys an mir vorbei und die Herrin wird zum Shootingstar. Ich warte im Flur, bis wir weiterfahren.
Wie kleine Sonnen leuchten uns die Gondeln des Riesenrads über die Bäume hinweg an. Wir fahren zum Freizeitpark und sofort habe ich den Geruch von gebrannten Mandeln und Bratwürsten in der Nase. Ich höre das Bimmeln der Fahrgeschäfte, Ansagen von übermotivierten Schaustellern. Wir steigen aus dem Bus und es ist still. Mein Trommelfell zieht sich zusammen, verkrampft sich in dem Bemühen, das zu hören, was ich erwarte.
Nebeneinander stehen wir vor dem Van und keiner traut sich, die Mauer der fehlenden Geräusche zu durchbrechen. Dann klatscht Bartmann in die Hände. »Los geht’s!«, ruft er, als müsse er sich selber antreiben und stapft mit Kamera und Stativ los. Velma hinterher. Luca und Matteo lachen und schon stehe ich alleine da.
Meine Füße scheinen festgewachsen zu sein. Das mächtige Riesenrad wacht über den Platz. Auf dem von Gras durchbrochenen Beton kauern Autoscooter, wirken wie blassgelbe Mäuse, die sich verstecken, um zu sterben.
Ich schüttle meinen Kopf frei und gehe zu dem Karussell, dessen Holzsitze fast vermodert sind, suche mir einen noch einigermaßen intakten Sitz. Po und Oberschenkel kribbeln, als sie sich auf das verstrahlte Holz drücken. Die Füße baumeln in der Luft, ich schließe die Augen und versuche mich zu sammeln. Ich wollte hier hin. Und ich will diese Erfahrung immer noch.
Mit einem Ruck setzt sich das Karussell in Bewegung und im selben Moment höre ich die Kinder lachen. Ich öffne die Augen und kralle mich an die Armlehnen. Die Konstruktion bewegt sich nur widerwillig, Metall kreischt und Rost rieselt herab. Und doch werde ich immer schneller, mein Rücken drückt gegen die Lehne. Ich bin wie erstarrt und die Umgebung verschwimmt.
Meine Augen fangen an zu tränen. Ich blinzle. Und noch einmal. Ein paar Reihen vor mir flattern braune Haare im Wind. Velma!
»Heee«, rufe ich, »was ist hier los?« Keine Reaktion.
Mir wird schlecht. Die Bloggerin trägt keinen rosa Haarreif. Und ist viel größer. Der kindliche Fahrgast schmeißt die Arme in die Luft und jauchzt vor Freude. Plötzlich überzieht Raureif meine Arme, die Kälte kriecht in mein Gesicht und die nassen Wimpern gefrieren. Mit geschlossenen Augen fange ich an zu schreien. Ich schreie und auch als mein Hals zu schmerzen beginnt, kann ich nicht aufhören, bis das Karussell langsamer wird. Erst als sich nichts mehr bewegt, wische ich mir über die Augen und versuche durch den Tränenschleier etwas zu erkennen. Das Mädchen ist nicht mehr zu sehen.
Mit wackeligen Knien stehe ich auf und entferne mich halb stolpernd, halb laufend von dem Teufelsding. Dann sehe ich Bartmann, er steht vor dem alten Kartenhäuschen und betrachtet konzentriert das Display seiner Kamera. Schnaufend erreiche ich ihn.
»Oh Mann, wo wart ihr?« Ich reibe mit den Händen übers Gesicht. Ich muss völlig fertig aussehen.
»Hmm, was meinst du?« Bartmann schaut irritiert auf. »Alles okay? Du siehst blass aus.«
»Das Karussell. Es …« Ich schaue hinüber zu dem verrosteten Gestell, das wirkt, als hätte es sich Jahrzehnte lang nicht bewegt, und weiß nicht mehr, was ich sagen soll.
»Jep, echt cooles Motiv. Sah richtig schön verträumt aus, wie du da gesessen hast.« Er zwinkert.
Mir wird schwindelig. Was passiert hier? Ich setze mich auf den Rand eines Blumenkübels, der einer Bierdose und ein paar Zigarettenstummeln ein Zuhause bietet. Mein Kopf spielt verrückt. Vielleicht reagiere ich heftiger auf die Strahlung als erwartet. Oder ich habe etwas Falsches gegessen. Das Frühstück im Hotel hat wirklich nicht mehr frisch ausgesehen.
»Nicht hinsetzen.« Der Wachhund hat mich wieder gefunden. »Nichts anfassen, bedeutet auch, nicht hinsetzen.« Dmitri zieht die Augenbrauen hoch und glotzt mich an.
Ich steh auf und wische mir abgestorbenes Moos vom Hintern. »Sag mal, wohnt hier eigentlich jemand in der Nähe?«
»‘n paar Verrückte sind wiedergekommen.« Er schaut in Richtung Waldrand und kratzt sich am Kopf. »Die glauben nicht an die Strahlung.«
»Oh.« Ich zertrete noch mehr Moos auf dem Boden. »Und die haben auch Kinder?«
»Quatsch. Alte Leute sind das. Eh schon halb tot.« Er schaut mich skeptisch an. »Wär auch was krank, hier Kinder mit hinzunehmen, oder?«
»Auf jeden Fall.«
Dmitri formt mit den Händen einen Trichter und ruft über den Platz: »Es geht weiter. Diesmal zu Fuß!«
Im Gänsemarsch setzen wir uns in Bewegung, ich in der Mitte. Dmitris Motto Immer in der Gruppe bleiben ist jetzt auch meins. Das Kinderlachen scheint sich nur herauszutrauen, wenn ich alleine bin.
Über einen Waldpfad kommen wir zu der mit Schlaglöchern übersäten Hauptstraße von Prypjat. Die Arbeiterstadt besteht aus dreckig grauen Plattenbauten, hinter den schwarzen Fenstern ahne ich Kinderaugen, die unseren Marsch beobachten und mir ein flaues Gefühl im Magen verursachen. Die endzeitliche Szenerie scheint auch die Euphorie der anderen zu dämpfen und schweigend ziehen wir an den gleichförmigen Wohnblöcken vorbei. Prypjat ist schnell gewachsen damals, für das Kraftwerk wurden Arbeiter gebraucht.
Schließlich halten wir vor einem der Häuser. Die meisten der grünen Kacheln an der Fassade fehlen, die Scherben verstecken sich zwischen Laub und Moos. Die Haustür ist verschwunden und wie ein Wächter sitzt eine Birke auf den Stufen, lehnt sich hinüber, um die offene Wunde des Hauses zu schützen. Wir quetschen uns daran vorbei und gelangen über den dunklen Flur in eine der Wohnungen.
Es ist, als wäre die Zeit stehen geblieben. Die Leute dachten, sie würden wiederkommen und ließen ihre Sachen hier. Auf der Nussbaumkommode steht ein verblichenes Bild. Vater, Mutter, Kind, alle steif hergerichtet für den Fotografen. Velma findet einen Brief und diskutiert mit Bartmann die beste Darstellung für den Blog. Ich komme mir vor wie ein Einbrecher. Ob die Person noch lebt, der das alles gehört?
Das Atmen fällt mir immer schwerer und schwarze Sterne blitzen in der Luft. Ich flüchte auf den Flur, lehne mich an die Wand und atme tief durch, bis der Schwindel nachlässt. Und ich dachte, ich komme mit dieser Tour klar.
Ich kneife die Augen zusammen, stoße mich von der Wand ab und gehe wieder in die Wohnung. An der Schwelle stolpere ich zurück. Meine Begleiter sind verschwunden, stattdessen sitzt ein Mann am Esstisch. Sein Gesicht ist in den Händen vergraben und die Schultern in dem grauen Arbeiterhemd beben.
Ich schaue mich um, blicke den Flur entlang. Wo sind die anderen hin? Unschlüssig stehe ich im Türrahmen und klopfe dann gegen das Holz.
»Entschuldigung«, sage ich leise, »kann ich Ihnen helfen?«
Langsam richtet sich der Mann auf. Seine Augen sind gerötet und Tränen fließen über das zerfurchte Gesicht, wie ein Gebirgsbach durch schmale Schluchten. Er schaut mir direkt in die Augen und eine Welle aus Hass und Wut überrollt mich. Schuld drückt meine Schultern nieder und ich schäme mich so sehr, dass ich mich zusammenkrümmen möchte. »Ich … Es tut mir leid«, hauche ich und denke an Oma.
Ich taumle zurück. Wir müssen hier raus. »Dmitri?« Meine Stimme hallt durch den leeren Flur. »Leute, wo seid ihr?«
Der Mann sitzt noch immer dort, starrt mich an. Dann öffnet er den Mund und es ertönt ein Lachen. Es haut mir die Beine weg, mir wird schwarz vor Augen. Dieses Lachen gehört nicht dem Mann, es gehört einem unbeschwerten, jungen Mädchen und es verfolgt mich schon den ganzen Tag. Hockend stütze ich mich mit den Fingern am Boden ab. Das kann nicht wahr sein. Ich muss hier weg.
Ich kämpfe mich durch den Dunst in meinem Kopf und richte mich auf. Nur raus. Anstelle des Ausgangs finde ich ein Treppenhaus. Daran kann ich mich gar nicht erinnern. Ich poltere die Stufen hinunter, ich strauchle, halte mich an dem Geländer fest und springe weiter. Zwei, drei Stufen auf einmal. Nach gefühlt fünf Stockwerken bleibe ich schnaufend stehen. Verdammt, wie hoch sind wir denn gelaufen? Ich schaue aus dem Fenster. Okay, circa dritter Stock. Das schaffe ich. Diesmal zähle ich mit. Zweiter Stock, erster Stock und … das kann nicht sein, die Treppe führt immer weiter. Ich schaue wieder aus dem Fenster und keuche. Die Erde befindet sich genauso weit unter mir wie vorher. Mir wird schlecht, Galle drängt in meinen Mund. Ich kann kaum noch einen klaren Gedanken fassen.
Die anderen müssen noch irgendwo sein. Ich muss sie finden. Ich biege ab in den Flur. Das erste Zimmer – derselbe Mann steht in der Mitte des Raumes, schaut mich klagend an. Ich haste weiter. Hinter der nächsten Tür empfängt mich wieder der Alte, doch diesmal hält er ein Mädchen in den Armen, schlaff hängt es dort. Ein Wimmern in meiner Kehle, als ich den rosa Haarreif erkenne.
Orientierungslos schleppe ich mich weiter durch den Flur. Und plötzlich ist die Luft voll Lachen. Das kleine Mädchen lacht mich aus. Es lacht und lacht immer lauter. Ich sinke auf die Knie, presse mir die Hände an die Ohren. Ich hätte nie herkommen dürfen. »Es tut mir leid!«, schreie ich dem Lachen entgegen. Der Boden beginnt zu zittern. Das dröhnende Lachen geht durch meine Knochen, nimmt mir die Luft zum Atmen. Risse wandern an den Wänden entlang und Dreck rieselt herab. Die gewimmerten Entschuldigungen erreichen nicht einmal meine eigenen Ohren.
Plötzlich sehe ich durch den Staub eine alte Frau am Ende des Flurs. Sie kommt auf mich zu und scheint den Untergang um uns herum nicht zu bemerken.
Die Greisin bewegt ihre Lippen, doch ich höre nur das Lachen. Sie sagt erneut etwas und wie zur Bestärkung klopft sie mit dem Stock auf den Boden. Und dann ist es still. Vorsichtig befreie ich mein Gehör. Nichts mehr. Ich setze mich langsam auf.
»Was …?« Meine Stimme bricht. Ich wische mir durch das Gesicht und stelle fest, dass es tränennass ist.
»Alles gut. Du brauchst keine Angst mehr haben.« Die Falten auf ihrer Stirn vervielfachen sich kurzzeitig und ihr Blick geht ins Leere. »Nicht wahr, Katinka? Lass die armen Touristen in Ruhe!«
Ich sitze verdattert da und bringe kein Wort hervor. Mein Hirn kommt nicht ganz mit. Die alte Frau lächelt.
»Niemand hier mag Besucher, aber meine Enkelin übertreibt.« Sie humpelt an mir vorbei, der Stock klopft auf den Boden. Tock, tock, tock. Sie dreht sich um. »Willst du hierbleiben?«
Ich springe unbeholfen auf die Füße, ich schwanke, aber hierbleiben will ich auf keinen Fall.
Ich folge der Frau den Flur entlang, durch das Treppenhaus, um eine Kurve und plötzlich stehe ich draußen in strahlendem Sonnenschein. Meine Augen tränen, ich halte meine Hand darüber und blinzle.
»Da bist du ja!« Dmitri kommt auf mich zugelaufen. Es ist, als würde mir ein schnaubender Stier entgegenkommen. »Verdammt noch mal, weißt du, was ich am Hals habe, wenn mir hier jemand verloren geht?« Er macht auf dem Absatz kehrt und geht strammen Schrittes in die Richtung, aus der er gekommen ist. »Los komm, die anderen warten!«, brüllt er, ohne mich anzuschauen.
Ich drehe mich zu der alten Frau und stelle fest, dass ich alleine bin. Vorsichtig schaue ich zu dem Haus und flüstere: »Danke.«
Ich sitze im Van und mir ist kalt. Obwohl die Heizung wieder auf Hochtouren läuft, kann ich nicht aufhören zu zittern.
Es wird alles gut. Ich sitze im Bus, fahre Richtung Kiew, ins Leben, in die Wirklichkeit. Zuhause werde ich einen riesigen Blumenstrauß an Omas Grab legen. Sie wird es verstehen. Die alten Sitzpolster schmiegen sich an mich, geben mir Halt und ich versuche, mich zu entspannen.
Eiseskälte durchfährt mich und mit einem Ruck richte ich mich auf. Dort am Waldrand steht sie – die alte Frau. Sie lächelt und winkt. Langsam hebe ich die Hand und bewege sie vorsichtig. Sie hat mich gerettet, oder?
Plötzlich flackert die Frau, wie ein gestörtes Fernsehbild. Sie verschwindet und an ihrer Stelle erscheint ein kleines Mädchen mit einem rosa Haarreif. Es lächelt und winkt.