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Das dicke Ende der Maiburger Würste | Bodo Rudolf

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Von der alten Stadt Maiburg an der Ach zeugen verfallene Mauern, auf dem einstigen Marktplatz sprießt Löwenzahn zwischen den Pflastersteinen und in den Ruinen des Rathauses modert der Pilz. Das Flüsschen Ach floss einst durch eine fleißige Stadt, an beiden Ufern lebten rechtschaffene Leute, und so emsig, wie sie schafften, aßen sie auch – Berge von Wurst vertilgten die Maiburger. Und weil all die links- und rechtsachischen Bürger nichts mehr fürchteten als einen wurstlosen Tag, errichteten sie eine Wurstfabrik auf dem Gelände des städtischen Schlachthofes.


»Katharina’s Grill« am Markt war einer der großen Abnehmer der Wurstfabrik; von morgens bis spät am Abend hing der Duft gebratener Köstlichkeiten über dem Platz und stieg in die Nasen der Passanten. Der eilige Gast ließ sich die Wurst in die Semmel klemmen, beißfaulen Gourmets und Freunden fernöstlicher Küche schnippelte Katharina mundfertige Happen in Pappschälchen, über die sich aus einer Plastikflasche rülpsend eine grützrote Tunke ergoss. Die Liebe zu gebratener und gesottener, gerauchter und roher, kalter und heißer Wurst einte die Maiburger Gesellschaft in kulinarischer Harmonie.

»Vor der Currywurst sind alle gleich!«, sagten die Bürger. Bis zu den wunderlichen Ereignissen, von denen nun die Rede sein wird.


Es geschah an einem späten Samstagvormittag. Um einen der Stehtische hatte sich wie jeden Wochentag ein Freundeskreis rüstiger Rentner versammelt. Der zweite Tisch war von Wochenmarktbesuchern umringt. Ihre gefüllten Taschen und Körbe verstauten sie unter den Tischen und freuten sich auf eine Bratwurst mit Senf und eine Büchse Bier. Kaum hatten die Gäste in ihre Wurst gebissen, verspürten sie ein Zwicken in den Rippen und ein Kneifen in der Brust, ein Ziehen im Nacken und ein Zwacken in den Gedärmen, leise knisterte es in den Ohren, ganz maria-magdalenisch wurde es den Leuten zumute. Verwundert gaben sie dem eiskalten Bier die Schuld, dann aber schrumpften ihre Taillen, die Haut straffte sich über den Bäuchen und Backen und Wangen, ganz zum Vorteil einiger. Die willkommene Verjüngung währte jedoch nur kurz. Mit einem Geräusch, als entweiche ein letztes Quäntchen Luft aus einem Luftballon, hatten sich Katharinas Grillbesucher selbst in Würste verwandelt, in Würste mit Armen und Beinen, Händen mit Wurstfingern, dicken Hälsen und Köpfen. Hochnotpeinlich berührt standen sie nun Wurst an Wurst, blickten betreten gen Himmel und machten sich nach einer Weile wortlos auf den Heimweg. Ob des gespenstischen Anblicks wandelnder Würste leerte sich der Marktplatz im Nu.

Alle noch unverwursteten Maiburger und Maiburgerinnen ereilte am Abend, sei es zu Hause vor den leergeputzten Hausmacherplatten, sei es im Restaurant bei der Metzelsuppe, ausnahmslos dasselbe Geschick. In den Wohnungen der Hundehalter kam es augenblicklich zu mörderischen Kämpfen. Mit Mühe, Not und Glück gelang es Herrchen und Frauchen, ihre geifernden Lieblinge auszusperren. Vielstimmiges Hundegeheul erfüllte die erste Nacht der Maiburger Verwurstung, unbedarfte Nachtschwärmer verschwanden spurlos.

Sonntagfrüh wurden zweiunddreißig gutgläubige Kirchgänger ungeachtet der nächtlichen Kakofonie – »ach, die wollen doch nur spielen« – von den herrenlosen Bernhardinern, Doggen, Schnauzern und Terriern angefallen und aufgefressen. Einige Unglückliche ereilte das Schicksal vor dem Besuch des Gottesdienstes, andere, wohlversehen mit dem Segen, danach.

Die ob des Massakers alarmierte Polizei, nunmehr Landjäger, wusste sich nicht anders zu helfen, als in die mittelalterliche Asservatenkammer derer von Maiburg einzudringen und sich in die Ritterrüstungen zu zwängen. Mithilfe der Hellebarden und Morgensterne gelang es, die Tiere, einschließlich einiger Katzen, aus der Stadt zu treiben. Die Stadttore wurden geschlossen.

Montagfrüh eilten einige mutige Bürger ins Rathaus und erhielten von der Obrigkeit die Empfehlung, Ruhe zu bewahren, im Großen Sitzungssaal tage bereits der Rat, Experten seien geladen, sich zu der Sache zu äußern. Die Bürger waren beruhigt und ließen sich auf den Zuschauerbänken nieder.

Nun hatte sich ja im Maiburger Stadtrat übers Wochenende im politischen Sinne nichts geändert, die Zungenwürste hatten das Sagen und gemeinsam mit den Sülzwürsten die Mehrheit, auf den Oppositionsbänken saßen zwei Rotwürste, ein weißer Schwartenmagen, eine Leberwurst, ein Saurer Zipfel und eine tätowierte Blutwurst.

Zunächst befragte der Rat den bekannten Maiburger Arzt Doktor Boudin. Der Internist erklärte, er habe seine Patienten schon immer eindringlich vor der wurstlastigen Ernährung gewarnt und mediterrane Küche empfohlen. Für den Doktor war die Sache klar: »Die Gründe für die Verwurstung liegen auf der Hand. Körperzellen altern, schrumpfen und gehen den Weg alles Irdischen. Würden die Zellen nicht umgehend ersetzt, schnurrte der Körper in sich zusammen, übrig blieben nur Haut und Knochen. Durch die Nahrung nehmen wir jedoch stets frische Zellen zu uns, in unserem Falle Fleisch, Fett, Zwiebeln und verschiedene Gewürze. Die Innereien sorgen für den Stoffwechsel – neu gegen alt –, als Trägerflüssigkeit dienen Wasser, Bier oder trockene Weine. Ein Späßchen, meine Damen und Herren.«

Niemand lachte.

»Sind die Zellen mehrheitlich ausgetauscht«, führte Doktor Boudin weiter aus, »erreicht der Körper einen kritischen Zustand. Ein Scheibchen Schinkenwurst, ein Fitzelchen Krakauer genügen«, der Doktor spitzte den Mund, »und es macht ›fffft‹, fertig ist die Wurst.«

»Alle am selben Tag?«, zweifelte eine Zungenwurst.

»Zufall«, sagte der Doktor. »Übrigens, es hätte auch schlimmer kommen können. Stellen Sie sich vor, wir hätten uns nur von Kartoffeln ernährt!«

Die Räte fragten sich insgeheim, warum der gute Doktor seine eigenen Ratschläge missachtet hatte, dankten und wandten sich dem gerade erschienenen Literaturwissenschaftler Professor Doktor Aimerling von der Universität Maiburg zu.


Der Professor – mit wurstrelevanten Fragen bis dato nur in der Mensa befasst, immer donnerstags – warnte vor Panikmache. In seiner Wissenschaft seien Verwandlungen aller Art an der Tagesordnung und in der Fachliteratur zuhauf beschrieben: »Frösche und Kröten steigen durch einen Kuss in den menschlichen Hochadel auf. Menschen wachen des Morgens verkatert auf und neben ihnen liegt ein fremder Käfer. Oder sie sind selbst der Käfer.«

Über die unzähligen Metamorphosen in der Mythologie – Gottheit zu Tier, um nur ein Beispiel zu nennen – biete er aus dem gegebenen Anlass eine Vorlesungsreihe an, sagte Professor Aimerling, falls Interesse bestehe …

»Verehrter Professor«, unterbrach ihn der Saure Zipfel, »kennen Sie auch Fälle, bei denen sich Würste in Menschen zurückverwandelten?«

»Nein«, sagte der Professor, wegen der unbotmäßigen Unterbrechung indigniert, von reversiblen Würsten habe er noch nie gehört, und fuhr fort: »Die einschlägige Fachliteratur berichtet ferner von sieben Knaben, die als Raben zum Fenster hinausflogen und von einem wilden Bären, der sich in einen schönen Mann verwandelte, ganz in Gold gekleidet. All dies ist von gescheiten Leuten hundertfach bezeugt und in klugen Büchern nachzulesen. Wer sind wir, dass wir Gedrucktes anzweifeln? Apropos Wurst«, schloss der Professor, »meine geschätzten Vorgänger Wilhelm und Jacob Grimm berichteten einst ›Von dem Mäuschen, Vögelchen und der Bratwurst‹. Alle drei fanden ein schreckliches Ende, die Bratwurst durch einen Hund. Konnte ich Ihnen nicht ersparen, aber zweifelsfrei handelt es sich hierbei um ein Märchen.«

Man hatte keine weiteren Fragen, danke.

Die Mittagspause nahte, aber vor Salatbüffet und eilig beschafften Grünkernbratlingen stand noch die Befragung der Biologielehrerin des Maiburger Gymnasiums im Raum. Eine freudestrahlende Oberstudienrätin stellte sich vor – Doktor Melanie Broeslein –, sie habe über den Mutationismus promoviert, derselbe sei eine anerkannte Evolutionstheorie, bei der diskontinuierliche Mutationen die ausschlaggebende Rolle spielten. Die synthetische Evolutionstheorie sei umstritten, ja, ja, ja, wehrte sie ab, obwohl keiner der Anwesenden einen Muckser gemacht hatte. Das hiesige Ereignis – sie bezeichnete es als die »Maiburger Wurstung« – biete ihr persönlich die Chance, buchstäblich in eigener Sache zu forschen, da sei sie sozusagen in ihrem Element. In ihrer Begeisterung verlor Doktor Broeslein den Faden und verdarb mit ihren zoologischen Auslassungen über Verpuppungen und Larven, Häutungen, Kaulquappen, gefräßige Engerlinge und Maikäfer allen Anwesenden gründlich den Appetit.

»Nein«, bestätigte auch sie auf Anfrage, »dies sind keine umkehrbaren Vorgänge, aus einem Schmetterling wird nun mal keine Raupe mehr.«


Für den folgenden Tag erhofften sich die Räte – von der Ernährungstheorie des Doktors Boudin nicht gänzlich überzeugt – Klärung über die eigentliche Ursache der Wurstwandlung, die Wurstfabrik sollte angehört werden.

Der Leiter der Forschungsabteilung, ein verstörter Lebensmitteltechnologe, sprach im Namen der Geschäftsleitung sein Bedauern über die Ereignisse aus. Die Wurstproduktion habe man aus ethischen Gründen und des eingebrochenen Absatzes wegen selbstredend sofort gestoppt und die Belegschaft vorsorglich freigestellt. Ein Zusammenhang der Verwurstung Maiburgs mit den Erzeugnissen seines Unternehmens könne er kategorisch ausschließen, seiner Firma sei es immer nur um die gesunde Wurst gegangen, nur auf Herz und Nieren geprüfte Rohstoffe und Zutaten seien zur Verwendung gekommen, auch die kürzlich entwickelte, zeitgemäß genfreundliche Turbowurst sei vor ihrer Markteinführung intensiven Versuchsreihen und strengsten Tests unterworfen worden.

Die Leberwurst rief: »Da haben wir es – Turbowurst, Genwurst, Turbo-Genwurst!«

Der Saure Zipfel sprang auf: »Wir sind vergiftet worden!«

Mit dem Ausruf »Verbrecher« sackte er auf seinen Ratsstuhl zurück. Der Bürgermeister schenkte dem schluchzenden Kollegen ein Kirschwässerchen ein.


Die Auslassungen der Schlachthofleitung ergaben ebenfalls keine verwertbaren Erkenntnisse – der zuständige Veterinär versicherte, alle Schweine und Rinder seien auf ihren eigenen vier Beinen in den Hof gelaufen, gesund, aus nachhaltig behüteter und artgerechter Aufzucht, das Fleisch kontrolliere und zertifiziere er selber.

Damit war die Sitzung geschlossen. Zwar hatten die Stadträtinnen und Stadträte ihr Wissen beträchtlich erweitert, waren aber nicht klüger als zuvor.

»Das Leben geht weiter«, sagte der ratlose Bürgermeister unwidersprochen, Nahrungsmittelvorräte habe die Stadt für Monate.

Die Wachen an den Stadttoren wurden verstärkt. Maiburg war fortan von der Welt abgeschnitten, wie die Stadt Oran in den Zeiten der Pest.

Indes kehrte der Alltag in die Stadt zurück. Die vollfetten Würste machten weiterhin gute Geschäfte, vor den Kneipen standen die Rauchwürste und die heimatlosen Bürgerwürste von Katharinas Grill – Katharina hatte »Wegen Umbau’s geschlossen«. Teewürste saßen mit feinen Pinkeln auf den Caféterrassen, Wiener, Frankfurter, Kabanossi und Lyoner, nackte Schwabenwürste und Weißwürste in schmucker Tracht flanierten einträchtig um den Rathausplatz. Die Streichwürste arbeiteten weiterhin als Maler und Lackierer, der Bierschinken braute Maiburger Bock, und in den nunmehr vegetarischen Küchen werkelten die Kochwürste. Die Bregenwürste bekleideten ihrer großen Hirnmasse wegen die gehobenen und höheren Ämter, Landjäger und Schützenwürste sorgten für die öffentliche Ordnung.

Katharina eröffnete nach einigen Tagen wieder, sie hatte umgesattelt auf Tofuklopse. Erleichtert nahmen die Stadtwürste ihren Stammtisch wieder in Beschlag. Das Leben ging seinen Gang, wie es der Bürgermeister vorausgesagt hatte.


Eines Nachmittags umringte eine Schar bunter Würste Katharinas Grill. Eine Gelbe Wurst, zwei Paar Kumpel im Naturdarm, eine Schwarzgeräucherte mit senfgegelten Haaren, drei Rote Würste und zwei Dunkelfarbene im Kräutermantel genehmigten sich ein kühles Pils. In der Rathausgalerie gegenüber lärmte ein Dutzend junger Blutwürste, hörbar vorgewärmt, und schlenderte in Richtung Katharina.

»Hier stinkt’s, euer Verfallsdatum ist wohl abgelaufen!«

»Was wollt ihr Hanswürste!«, erwiderten die Schwäbischen Nackten.

Die Blutwürste schlugen los: »Aus euch machen wir Aufschnitt!«

Spaziergänger mischten sich ein: »Es darf ruhig ein bisschen mehr sein!«

»Wurstfinger weg!«, schrien die Roten.

»Rotwurst verrecke!«, hallte es über den Rathausplatz.

Die Stadtwürste am Nebentisch machten, dass sie wegkamen. Die Bunten wehrten sich erbittert, die Gelbwurst konnte flüchten und die Landjäger alarmieren. Als diese eintrafen, lag eine Rote Wurst mit geplatzter Haut auf dem Kopfsteinpflaster und musste notärztlich versorgt werden.

Die Gelbe Zeugin sagte aus, und so konnten die Landjäger die Schlägerwurst noch am selben Abend im »Wurstkessel«, dem Stammlokal der Blutwürste, verhaften und nach der Entnahme einer Blutprobe im nutzlos gewordenen Kühlhaus festsetzen.

Eine Rangelei unter jungen Leuten sei aus dem Ruder gelaufen, stand im Pressebericht der Landjäger, die Rote Wurst sei bereits auf dem Wege der Besserung. Der oberste Jäger versicherte der Bevölkerung, Maiburg sei und bleibe sicher, trotz vorübergehend geschlossener Tore habe sich die Stadt ihren weltoffenen Charakter bewahrt. Einen rassistischen Hinter- oder Vordergrund der Tat schloss er aus.


Der Chefredakteur des Lokalblattes schickte eine Volontärin auf den Marktplatz, Volkes Stimme zu lauschen – »vox populi«.

»Jetzt macht mal kein Geschiss wegen der paar Fettspritzer!«, ereiferte sich die erste Volksstimme, die ihren Namen nicht nennen wollte.

»Geschieht diesen Roten ganz recht, gell, Herr Nachbar«, meinte die zweite Stimme. »Jawohl«, sagte der, »diese Nullbockwürste liegen den ganzen Tag auf der faulen Haut, alles auf unsere Kosten!«

Eine vierte Stimme rief: »Auf den Grill mit diesen arbeitsscheuen Saumägen!«

Von der Blutwurst könne man sich eine Scheibe abschneiden, meinte eine weitere Volksstimme, die einfache Wurst auf der Straße erlebe den Anblick dieser herumlungernden farbigen Gestalten mit ihren Mayofrisuren als Angriff auf das gesunde Volksempfinden.

»Nehmen uns die Arbeitsplätze weg«, sagte eine gerade hinzugekommene Wurst.

Die erste Namenlose bekam das letzte Wort: »Wer sich bei uns anständig aufführt, dem passiert nix! Schreiben Sie das, junge Frau!« – Beifall.


Die Volontärin kehrte in heller Aufregung in die Redaktion zurück. Der Redakteur vom Dienst sagte: »Vox Rindvieh«, und schickte die Dame unverzüglich ins Rathaus – die Stadtverwaltung hatte eine Notverordnung erlassen. Im Wortlaut: »Angesichts dramatisch zunehmender Unfallraten ist der Gebrauch von spitzen Gegenständen wie Messern, Gabeln, Nadeln, Nägeln, Taschenmessern, Eierpiksern und Bleistiften genehmigungspflichtig.«

»Endlich wird durchgegriffen«, sagte Volkes Stimme.

Maiburg aß nunmehr mit Fingern und Löffeln – Anlass für das Feuilleton, über die Kulturgeschichte des Essens und Trinkens nachzudenken. Als händischer Esser befinde sich der Maiburger nunmehr historisch gesehen in allerbester Gesellschaft, schrieb die Zeitung, schon Ramses III. griff mit den Fingern in die Steingefäße, auch der alte Nero langte mit der Hand in die Töpfe. Noch Ludwig XIV. lehnte die Gabel ab und aß mit den Fingern – seinen eigenen. Ganze Kontinente benützten heutzutage die Finger der rechten Hand, schrieb das Feuilleton, man hüte sich vor postkolonialer Überheblichkeit. Der Artikel schloss mit einem wohl nicht ganz ernst gemeinten Ratschlag, im ehelichen Alltag spitze Bemerkungen zu unterlassen.


Eine Woche nach dem Überfall auf die bunten Würste entdeckten spielende Kinder die gelbe Tatzeugin der Schlägerei am Achufer. Die Autopsie ergab mehrere nadelfeine tödliche Einstiche, die landjägerlichen Ermittlungen verliefen im Sande der Ach. Die in Untersuchungskühlhaft sitzende Blutwurst hatte für den mutmaßlichen Tatzeitpunkt zwangsläufig ein piekfeines Alibi, wurde unter Meldeauflagen freigelassen und im »Wurstkessel« mit tosendem Beifall empfangen. Mit den Rufen »Freibier für alle« und »Maiburg den Maiburgern« gründete der Freiheitsheld noch an der Theke lehnend eine neue Partei, die Blut-und-Bodenwurst-Bewegung – die BBB – und ernannte sich einstimmig zum obersten Blutwurstführer. Die Ratsblutwurst übernahm das schwere Amt für Presse, Propaganda, Schutz und Trutz. Eh man sich versah, marschierten Vorwärts-vorwärts-Jugend-kennt-keine-Gefahren schmetternde Kolonnen des BBB-Zucht- und Ordnungsdienstes durch Maiburgs Gassen. Ehemalige Schlachthöfler, Wurstfabrikler, Arbeiter aus der Zulieferindustrie und dem Wursthandel – halb Maiburg –, strömten zu der straff organisierten ehrenamtlichen Truppe. Unter dem zackigen Kommando von Blutgruppenführern patrouillierte der Ordnungsdienst durch die Straßen und sorgte für Angst und Schrecken unter den bunten Würsten.

»Und für Ordnung!«, sagten die Leute. »Ordnung muss sein!«


Der Bürgermeister betrachtete die Vorgänge um die selbst ernannten und selbstherrlichen Ordnungshüter mit wachsender Sorge und berief eine Dringlichkeitssitzung des Rates ein. Es war nicht unbemerkt geblieben, dass auch mehr und mehr Landjäger und Schützenwürste zu der Schutztruppe übergelaufen waren. Die Leberwurst wiegelte ab.

»Tiefer hängen«, sagte sie, »in wenigen Wochen ist der Spuk vorbei.«

Sie wusste ja nicht, die gute Leberwurst, wie recht sie hatte. Der Sprecher der Sülzwürste wollte im Namen seiner Fraktion nicht gänzlich in Abrede stellen, dass nicht vielleicht doch ein gewisser Handlungsbedarf bestehe, plädierte aber zunächst – in Übereinstimmung mit den Hirnwürsten – für eine sachliche, sich am Inhaltlichen orientierende Auseinandersetzung mit den neuen Gedanken, denen man sich ja nicht von vorneherein aus ideologischen Gründen verschließen dürfe. Man setze sich dafür ein, sagte die Sülzwurst, die berechtigten Sorgen und Nöte der kleinen Wurst auf der Straße ernst zu nehmen und sich lösungsorientiert mit der Thematik zu befassen.

»Meine Rede!«, sagte der Saure Zipfel.

Als die Blutwurst forderte, die bunten Würste zu ihrer eigenen Sicherheit in präventive Schutzkühlhaft zu nehmen, kam es zu einer kurzen Rangelei mit den Rotwürsten.

Der Vorschlag der Zungenwürste, einen interfraktionellen Arbeitskreis einzusetzen, wurde ohne Gegenstimme angenommen.


Zur Gedenkfeier und Einäscherung der Gelbwurst fanden sich Angehörige, Maiburger Honoratioren, bunte Freunde und drei Stadtwürste von Katharinas Stammtisch ein. Eine Hirnwurst als Vertreterin des Rates verurteilte die Tat auf das Schärfste und versicherte den Trauernden das Mitgefühl der Obrigkeit – alles Wurstmögliche werde getan, den Fall aufzuklären. Der Pfarrer, Urgestein der Maiburger Friedensbewegung, erinnerte an den Aufstieg der faschierten Würste: »Wehret den Anfängen!«

»Anfänge, Anfänge«, flüsterte eine der Stadtwürste, »wir sind mittendrin.«

Zum Schluss seiner Predigt fand der Pfarrer doch noch versöhnliche Worte: »Lassen Sie uns weiterhin an das Gute in der Wurst glauben. Amen.«


Nach der Trauerfeier trafen sich die drei Stammtischler auf ein dunkles Bier.

»Gegen die Blut-und-Boden-Pest gibt’s keine Mittel«, sagte der Erste.

»Die befällt urplötzlich das Hirn, aus heiterem Himmel«, meinte der Zweite.

»Das sind kranke Gedanken, ansteckende«, sagte Nummer drei.

»Die Gedanken sind frei!«, bestätigte der Erste. »Da helfen keine Mauern!«

»Eben«, meinte wiederum der Dritte, »auch kranke Gedanken sind frei!«

Eine Rotte blutjunger Zucht- und Ordnungswürste marschierte schneidig über den Platz, die Stiefel dröhnten auf dem Pflaster und ihre Bierfahnen flatterten voran.

»Heil, Blutwurst, heil!«

»Ekelhaft, dieses Gebrüll«, tuschelten die drei hinter ihren Tofuklopsbrötchen.

»Als kleine Wurst kannst du nichts machen«, sagte der dritte Stammtischler und leerte seinen Becher.


Ein Presssack, eine Rote und eine Gelbe Wurst beschlossen, dem Schrecken zu entfliehen, zwängten sich durch eine Schießscharte der Stadtmauer und wurden im trockenen Stadtgraben von einem Rudel Hunde zerrissen und verschlungen.


Die interfraktionelle Arbeitsgruppe hatte unterdessen mehrfach getagt und empfahl, umgehend Neuwahlen zum Stadtrat abzuhalten. Es sei doch offensichtlich, sagten die Experten, und belegt durch Umfragen, dass die Zusammensetzung des Rates nicht mehr den Volkswillen repräsentiere. Es hob sich ein Sturm der Entrüstung. Auf fünf Jahre sei man gewählt, demokratisch, keinesfalls dürfe man dem Druck der Straße nachgeben. Der Saure Zipfel sprach einer Politik der harten Hand das Wort und schlug vor, zur Verstärkung der verbliebenen Landjäger auswärtige Hotdogs anzufordern.

»Ausgerüstet mit Harzer Knüppeln!«, empfahl der Schwartenmagen.

Die Leberwurst hatte die Königsidee: »Blutegel! Blutegel aussetzen, und das Problem ist gelöst.«

Die Ratsblutwurst schwieg, was den Ratskollegen wohl im Nachhinein verdächtig vorgekommen wäre, hätte es denn ein Nachhinein gegeben.

Ob man vergessen habe, dass Hilfe von draußen nicht zu erwarten sei, sagte ein resignierter Bürgermeister.

Die Räte blickten ratlos zur Decke, da flog die Tür auf, der Blutwurstführer stürmte, mit einer Hutnadel fuchtelnd, in den Saal und schrie: »Schluss mit dem demokratischen Wurstsalat, der Rat ist abgesetzt, alle Mann in den Keller.« Ratsblutwurst und Blutwurstführer verriegelten gemeinsam die Kellertür, beorderten eine Zucht- und Ordnungswache vor das Rathaus und eilten in den »Wurstkessel«. Dort harrte eine brodelnde Wurstsuppe ihres Führers, der geplante Putsch war seit Tagen offenes Geheimnis. Der »Kessel« platzte schier aus den Schweißnähten, Freibier floss in Strömen, und gegen den Hunger gab’s Braunkohl und Rouladen.

Endlich ertönte der Ruf – »Heil, Blutwurst, heil« –, der Blutwurstführer schritt unter den Klängen des Filetiermarsches durch ein Spalier von Blutgruppenführern, erklomm das Rednerpult und ergriff das Wort.

»Blutwürste!«, rief er in den ergriffenen Saal. »Nach schweren Kämpfen ist das Rathaus in unserer Hand. Blut- und Bodenwürste! Jetzt wird aufgeräumt, ich dulde kein fremdes Gekröse in meiner Heimatstadt!«

»Heil, Blutwurst, heil!«, brauste der Schlachtruf durch den siedenden »Kessel«, »Rotwurst verrecke!«

Während sich der Führer mit Braunkohl stärkte, peitschte die Propagandawurst die Menge auf: »Kameraden, ab heute stehen wir wie eine Wurst hinter unserem geliebten Führer!«

Krachend stürzten Bierbänke um, die Kameraden riss es empor, voll glühender Begeisterung stürmten sie die Bühne, hinter dem Kohl speisenden Führer wurde es eng. Der Blutwurstführer legte den Löffel ab und erhob sich, augenblicklich herrschte atemlose Spannung.

»Heil euch!«, schrie er in den »Kessel«. Aber statt des erhofften Heils ertönte ein Donnerschlag, unter dem Druck des blähenden Braunkohls zerbarst der Führer in tausend Fetzen. Die Detonationswelle und die herumfliegenden Führerwurstzipfel brachten die Blutgruppenführer in den vordersten Reihen zum Platzen, das Platzkonzert setzte sich fort bis in die hinteren Ränge. Nach dem letzten Rums-Bums ebbte der Lärm ab und nun schwappten die Wurstmassen blubbernd aus den Kaldaunen wie Lava aus dem Inneren der Erde. Geistige Flatulenzen, unverdaute Gedanken und halb vergorene Ideen, Faulgase und Alkoholdämpfe schwängerten die Luft. In einem der Aschenbecher musste wohl noch ein Funke Begeisterung geglommen haben, das gesättigte Gasgemisch entzündete sich und der »Wurstkessel« flog in die Luft. Der glühende Kesseldeckel landete im Dachstuhl des Rathauses und setzte das Gebälk in Brand, die Flammen griffen auf die Nachbargebäude über und fraßen sich durch die engen Gassen. Der Feuersturm ließ die Mauern einstürzen, fette schwarze Wolken und beißender Gestank verkohlter Wurst hingen über dem Tal der Ach.

Kaum waren die Brände erloschen, drangen streunende Hunde durch die Mauerbreschen in die Stadt und stöberten nach Überresten.

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