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Die Welt ist ein merkwürdiger Ort | Oliver Henzler

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Mit dem Fliegen warte,

bis dir Flügel wachsen!

Serbisches Sprichwort


Sarajevo, Malo Polje 2017


Seit ich Anka geheiratet habe, war es ihr Traum, in die Stadt ihrer Kindheit zurückzukehren. Ich verband bis dahin nichts mit Sarajevo, aber nicht mitzukommen, wäre ihr gegenüber nicht fair gewesen. Einen Deal rang ich ihr deswegen gleichwohl ab: Seit vielen Jahren galt mein Interesse dem Wintersport und insbesondere dem Skispringen. Diese Leidenschaft hatte ich von meinem Vater geerbt, mit dem ich schon als Bub vor dem Fernseher unseren Helden Thomas Klauser, Dieter Thoma und anderen die kleinen Daumen gedrückt hielt. Daher lag es für mich mehr als nahe, einigen ehemaligen Olympiastätten von 1984 einen Besuch abzustatten, in erster Linie natürlich der Skisprunganlage am Berg Igman südlich von Sarajevo. Es waren damals erst meine zweiten Olympischen Spiele gewesen, die ich bewusst vor dem Fernseher miterlebte. Der Sieger von der Normalschanze begleitete danach mein sportliches Fernsehleben viele Jahre: Jens Weißflog, auch wenn er damals für die DDR startete und das für mich nichts anderes als Ausland war.

So verließen wir das laute Sarajevo an einem Mittwoch im Herbst zu unserem Ausflug in die Abgeschiedenheit der Berge, der nur für mich der Höhepunkt der Reise sein sollte. Anka konnte sportlichen Entscheidungen nichts abgewinnen, nicht einmal beim Endspiel einer Fußballweltmeisterschaft hielt sie es vor dem Fernsehgerät aus, zumal sich Bosnien noch nie für die Endrunde qualifiziert hatte.

Der von der Verwandtschaft geliehene Peugeot quälte sich untermotorisiert die Straße hinein in das Bergmassiv und deshalb dauerte die Fahrt eine Stunde, bis schließlich das Ziel auftauchte: die Skisprunganlage, von den Einheimischen Malo Polje genannt, einst für kurze Zeit ein Ort überquellenden Lebens und überschwänglicher Freude. Doch der im Jahr 1992 beginnende Bosnienkrieg ließ alle zivile Nutzung hier oben erstarren, weil die Passstraße zeitweilig die einzige Verbindung des von serbischen Verbänden belagerten Sarajevo war. Das Stadion lag daher mitten im Kriegsgebiet. Ehrfürchtig blickte ich vom Parkplatz am unteren Ende des Grasstreifens am Auslauf auf die beiden stählernen Monumente weiter oben am Berg hinauf. Normal- und Großschanze lagen wie niedergestreckte Elefanten in einem sie umschmeichelnden Märchenwald. Der Anblick berührte mich auf eine seltsame Weise, die ich mir kaum zu erklären imstande war. Es lag wohl an der Erkenntnis, dass ich genau diesen Ort, bedeckt von einem weißen Mäntelchen, fast fünfunddreißig Jahre zuvor mehrfach im Fernsehen erlebt und in jenen Februartagen für das Zentrum der Welt gehalten hatte. Nun war der Traum eines Besuches wahr geworden, doch wie anders als damals erschien diese Stätte! Einsam und verfallen gaben sich die noch vorhandenen Gebäude und Schanzen ihrer Existenz in einer naturbelassenen Umgebung hin. Die Tannen hatten sich bereits bedrohlich nahe an die Bauwerke herangemacht, auf einer ehemaligen Naturtribüne am Auslauf der Normalschanze wuchsen ungeniert mehrere von ihnen. Leere Fensterhöhlen glotzten uns von einem futuristisch wirkenden Bauwerk entgegen. Unzweifelhaft war die Anlage zu einer Zeit entstanden, in der die Verwendung von möglichst viel Beton noch schick gewesen zu sein schien.

»Kann ich eine Zigarette haben?«, fragte eine unbekannte Stimme hinter uns. Wir drehten uns um und blickten einem Mann ins Gesicht, der sich unbemerkt von hinten genähert haben musste. Ein schlaksiger Kerl, sein Alter war auf den ersten Blick schwer einzuschätzen, eher jünger, auch wenn tiefe Furchen sein unrasiertes Gesicht durchzogen. Anka fischte nach der Marlboro-Packung in ihrer Handtasche und streckte sie dem Mann hin, der dankbar danach griff. Nachdem auch mein Feuerzeug den Besitzer gewechselt hatte, steckte sich die Person einen Glimmstängel an und nahm einen tiefen Zug. Anka tat es ihm gleich, ich hielt mich wie immer zurück mit dem Laster, das ich mir schon Jahre vorher abgewöhnt hatte.

»Schön hier oben, nicht wahr?«, begann der Unbekannte unaufgefordert ein Gespräch. Anka hatte mir deutlich zu verstehen gegeben, dass ich, wollte ich auf Dauer mit ihr zusammen sein, Bosnisch lernen müsse. Weil ich nichts lieber auf der Welt sein wollte, tat ich ihr den Gefallen und besuchte jahrelang abends die Volkshochschule, was mir nun sehr zugutekam. Dort wurde zwar nur serbokroatisch unterrichtet, aber die Unterschiede zwischen den Sprachen sind nicht groß. Deshalb konnte ich den Mann einwandfrei verstehen, wenn ich mich auf seine Worte konzentrierte, worauf ich eigentlich keine Lust hatte. Aber Anka schien einem Gespräch nicht abgeneigt zu sein und gab dem Fremden durch ein zustimmendes Kopfnicken zu verstehen, fortfahren zu können.

»Aber einsam hier. Sehr einsam. Das war nicht immer so. 1984, Sie verstehen, was ich meine. Wir waren ein so stolzes Volk!«


Sarajevo, Malo Polje 1984


Der Erzähler zog erneut lange an der Marlboro und inhalierte den Rauch tief. Dann setzte er seine Erzählung fort:

»Die Olympischen Spiele. Als das IOC-Komitee seine Entscheidung für Sarajevo bekannt gab, erhob sich im ganzen Land ein wahrer Freudentaumel. Alle, gleich ob Serben, Bosnier, Kroaten, Christen oder Muslime oder wer auch sonst noch alles Jugoslawien bevölkerte, waren stolz, als erstes sozialistisches Land Gastgeber des bedeutendsten Sportereignisses der Welt zu sein. Wir haben damals mehrfach täglich die Wettervorhersage im Radio oder Fernsehen angehört, um zu erfahren, ob der lang ersehnte Schnee endlich fällt. Als er dann kurz vor der Eröffnung kam, sind alle, die konnten, zu den Sportstätten gefahren und haben die Armee bei der Räumung der Tribünen und der Parkplätze unterstützt, denn Gott hatte es gut mit uns gemeint und uns Schnee im Überfluss geschickt. Es war, als ob er uns seinen göttlichen Segen für die Spiele geben wollte. Auch hier oben waren die Menschen unermüdlich im Einsatz, um der weißen Pracht Herr zu werden. Besonders wichtig war es, den Aufsprunghügel zu präparieren, damit die Springen gefahrlos stattfinden konnten. Ich hielt mich in diesen elf Tagen zumeist ebenfalls an diesem Ort auf, wenn ich auch nicht selbst Hand anlegen musste. Damals gehörte ich zum jugoslawischen Springerteam und meine ganze Konzentration galt nur den Wettbewerben.«

Der letzte Satz ließ mich aufhorchen, denn mit einem leibhaftigen Springer hatte ich noch nie gesprochen. Sollte die Geschichte also stimmen, hätte ich einen Zeitzeugen olympischer Spiele, die vor langer Zeit stattgefunden hatten, vor mir, und ich würde damals seine Sprünge von der Couch aus verfolgt haben.

»Der Höhepunkt der Spiele war das Springen von der Großschanze. Ehrfürchtig blickte ich von oben hinab in das weit unten liegende Tal. Die vielen Tausend Menschen erschienen von da oben zu einer einzigen schwarzen Masse verschmolzen, die sich über eine weite Fläche auf dem ansonsten makellosen Weiß der Welt damals hier am Igman ausbreitete. Das Raunen der Zuschauer schwoll zu einem gewaltigen Sturm an, der wie aus einer fernen Sphäre an meine Ohren drang, als ich mich in der Öffnung am Sprungturm zeigte, weil ich als Nächstes dran war. Für das Fahnenmeer, das sich dort unten nun auftat, hatte ich nur einen kurzen Blick, der jedoch ausreichend war, mir tausend kleine Schauer über den Rücken laufen zu lassen. Dann stieß ich mich ab, entschlossen, mein Land, so gut es meine Kräfte zuließen, würdig zu vertreten. Doch mit der erhofften Medaille ist es nichts geworden. Zu stark waren die großen Skisprungnationen. Matti Nykänen, Jens Weißflog und andere waren einfach überlegen. Es war ein Irrglaube der Funktionäre, dass man diesen Ländern mit unseren eher bescheidenen Mitteln würde Paroli bieten können. Dennoch war dieser Tag einer der Höhepunkte in meinem Leben, zumindest bis zu dem Moment, als ich mich in der Luft befand. Rasant nahm ich in der Anlaufspur Fahrt auf, der Luftwiderstand wurde immer größer, gleich einer Wand, gegen die man prallt. Dann stieß ich mich mit aller Kraft vom Bakken ab, wenn auch etwas zu spät, wie man mir später mitteilte. Vielleicht ist Ihnen geläufig, dass ein zu später Absprung Weite kostet.«

Erwartungsvoll sah uns der Mann an. Ich nickte ihm zu, denn über die Symmetrie des Sprunges war ich gut informiert. Dabei sah ich ein Lächeln über sein zerfurchtes Gesicht huschen, offensichtlich vermutete er in mir einen Experten, zumindest aber einen Interessierten. Warum sonst sollte man auch die Abgeschiedenheit dieser Welt betreten, wenn nicht aus Sportsgeist?

»Voll Adrenalin segelte ich meinen Landsleuten entgegen, die so geduldig jeden Springer feierten, doch mich ganz besonders, weil ich einer der ihren war«, setzte der ehemalige Springer seinen Bericht fort. »Ich fühlte mich frei wie ein Vogel und mein Trachten war nur darauf gerichtet, nie mehr landen zu müssen, immer weiter und weiter dem unendlichen Blau des Himmels entgegenzufliegen. Doch vollkommen unerwartet überfiel mich ein Gefühl, das ich nie zuvor bei einem Sprung empfunden hatte. Es war eine entsetzliche Angst vor dem, was mir dereinst nach der Landung meines entrückten Fluges im Kreise der Menschen würde widerfahren können. Keine Worte meiner Sprache sind geeignet, diesen Strom an Empfindungen auszudrücken, der sich meiner in der Luft bemächtigte. Was sich vor meinem geistigen Auge derartig lebendig abspielte, war eine Prophezeiung, die mich davor warnen wollte, jemals an diesen Ort zurückzukehren, wollte ich nicht ernsthaften Gefahren für mein Leben ausgesetzt sein.

So schnell, wie die Vision gekommen war, so schnell verschwand sie wieder und es war Zeit, die Landung anzutreten. Leider zu früh, denn für einen Platz auf dem Podium oder gar nur unter den ersten zehn reichte es nicht.«


Sarajevo, Malo Polje 2017


Unser Gesprächspartner brach seine Geschichte unvermittelt ab, als er sich an das Ereignis während der Olympischen Spiele zu erinnern schien. Die Rückblende war ihm offensichtlich unangenehm, denn er schwenkte nun zur Gegenwart.

»Seht euch um!«, forderte er uns auf. »Was ist mit diesem einst so lebendigen Ort geschehen? Was hat der Krieg mit uns gemacht? Die Anlagen der Olympischen Spiele standen mitten im Zentrum der Auseinandersetzungen. Durch dieses Tal verlief die einzige Nachschublinie in die eingekesselte Stadt. Die Serben beherrschten die umliegenden Hügel und schossen auf alles, was sich im Tal und an den Hängen bewegte. Nur die Nacht bot Schutz, doch war es zu jeder Zeit lebensgefährlich, sich hier aufzuhalten. Die Kämpfe und die ausbleibende Wartung haben den Bauwerken zugesetzt. Überall kann man die Einschusslöcher der Projektile sehen, die Jugendschanzen wurden vollständig zerstört, die großen Schanzen rotten vor sich hin. Seht euch die Anlaufspuren an, der Beton bröckelt und Moos und Flechten versuchen, dort wieder Land zu gewinnen, wo ich einst mit fast neunzig Stundenkilometern und der Beschleunigung eines Sportwagens entlanggehuscht bin. Ein Bild, das mir in der Seele wehtut. Der Sprungrichterturm ist nur noch ein Schatten seiner einstmaligen Eleganz, ohne Fensterglas schutzlos der rauen Witterung ausgeliefert. Hier hielten sich Blauhelme der UN auf, die während ihrer Mission in dem Tal darüber wachten, dass niemand angegriffen wurde. Das Schild mit der Aufschrift »UN« ist noch zu sehen.«

Wir blickten nach oben, wo das Gebäude in einem desolaten Zustand über die Anlage wachte. Zwischen den zersprungenen Platten der Verkleidung prangte unübersehbar das Schild mit den beiden Buchstaben, dessen Aussage sich mir bis zu der Erklärung des Sportlers nicht erschlossen hatte.

»Am schlimmsten aber war die Leblosigkeit, die seit Ende des Krieges 1995 hier eingezogen ist. Nicht einmal mehr Soldaten hielten sich an der Anlage auf und die Menschen waren so sehr mit Überleben beschäftigt, dass sie weder Zeit noch Kraft hatten, den Ort jenes Ereignisses zu besuchen, das uns als Nation viel Bewunderung in aller Welt eingetragen hat. Kein Sprungwettbewerb hat hier seit den Spielen mehr stattgefunden, die Schanzen wurden nur noch hin und wieder zu Trainingszwecken genutzt. Der aufkeimende Nationalismus und das immer knappe Geld machten alle Bestrebungen zunichte, den Skisprungzirkus hier zu etablieren, was ich mir mehr als alles andere gewünscht hätte. Die grausamsten Hinterlassenschaften des Krieges, die Landminen, machten es sogar gefährlich, hierher zu kommen. Doch es gibt Hoffnung, die Minen sind geräumt und Teile der Bevölkerung können es sich wieder leisten, wenigstens hin und wieder die Seele baumeln zu lassen. Sie kommen seit kurzer Zeit erneut hierher, ganze Familienverbünde und Jugendgruppen, und spielen im Auslauf Fußball oder schlagen Zelte auf. Zumeist streng nach Landsmannschaften getrennt, aber fröhlich und friedlich. Mir scheint, der Ort hätte seine Agonie überwunden. Nur die Melancholie ist geblieben.«


Sarajevo, Malo Polje 1993


Unser Erzähler verstummte erneut und schien nachzudenken. Wir wagten beide nicht, ihn zu unterbrechen, und schwiegen daher.

»Könnte ich noch eine haben?«, fragte er schließlich und deutete auf Ankas Handtasche.

»Kein Problem«, erwiderte diese und kramte in den Untiefen des Beutels. Schließlich hatte sie die rote Packung gefunden und streckte sie dem Unbekannten hin. »Wie heißen Sie eigentlich?«, wollte Anka nun wissen und mir wurde bewusst, dass wir uns noch gar nicht vorgestellt hatten.

»Strahilo. Ich bin Strahilo und lebe seit 1993 an diesem Ort!«

Anka und ich tauschten verdutzte Blicke aus. War es möglich, hier oben dauerhaft zu leben? Sicher, er konnte in den großen Gebäuden am Auslauf wohnen, wo zu Zeiten der Olympischen Spiele zweifellos das Pressezentrum eingerichtet gewesen war und das Organisationskomitee seinen Sitz gehabt haben dürfte. Aber die Häuser sahen absolut leblos und verlassen aus. Und ob die Straße hier hinauf auf den Berg Igman im Winter ständig geräumt würde, schien mir fraglich zu sein, nachdem es in Friedenszeiten auch wieder andere Zugänge nach Sarajevo gab. Ein Auto war auf dem großen Parkplatz ohnehin weit und breit nicht zu sehen, wie sollte sich Strahilo also versorgen?

Ich beschloss, die Aussage zunächst so stehen zu lassen, um den Mann nicht davon abzuhalten, weiterzuerzählen. Vielleicht war er auch einfach nur verrückt und niemals Teilnehmer an den Olympischen Spielen gewesen. Das galt es für mich nun, im Laufe der weiteren Unterhaltung herauszufinden. Der Fremde schien ohnehin an einer Fortsetzung seiner Erzählung interessiert zu sein, denn er setzte ohne Aufforderung erneut an:

»1992 kehrte ich hierher zurück. Es war nur bedingt meine freie Entscheidung gewesen, denn ich war Soldat und der Krieg hatte begonnen. Ich bin Serbe und kämpfte für die bosnisch-serbische Armee.«

Anka zog neben mir scharf die Luft ein. Ein serbischer Freiheitskämpfer war so ungefähr der letzte Mensch, den sie treffen wollte. Die drei Jahre andauernde Belagerung Sarajevos nach der Unabhängigkeitserklärung Bosniens hatte sie nie vergessen. Die Angst, jeden Tag beim Einkaufen das Opfer eines serbischen Scharfschützen zu werden, war für ihre Weltsicht prägend gewesen. Noch heute erwachte sie in mancher Nacht schweißgebadet und ich wusste, in ihren Träumen war sie wieder in dem Sarajevo während des Krieges gewesen und hatte um das nackte Überleben gekämpft.

An ihren Bewegungen konnte ich ablesen, dass Anka nun ihrerseits eine Geschichte zu erzählen hatte, doch ich hielt sie mit einer Handbewegung zurück. Ich war auf die Fortsetzung der Biografie des Serben gespannt und ein Streit konnte dafür nicht förderlich sein. Anka sollte danach äußern, was sie von dem Mann und seinem Kampf hielt und so sah sie es wohl auch, denn sie entspannte sich nun wieder und ließ Strahilo ungestört fortfahren.

»Auch wenn es nicht meinem Wunsch entsprach, wieder hierher zurückzukehren, so sah ich doch eine Notwendigkeit hierfür. Ich hing der Auffassung an, Jugoslawien müsse unter der Führung Serbiens erhalten bleiben, wie es von Tito geformt worden war. Genug war es mir schon, dass sich Slowenien ohne Widerstand losgesagt hatte, zumal sich dort die berühmten Schanzen von Planica befinden. Das sollte sich nicht noch einmal wiederholen, nicht zuletzt, weil wir unsere Landsleute von den Muslimen im Land bedroht sahen.«

An dieser Stelle konnte ich förmlich fühlen, wie sich Ankas Körper erneut straffte und sie sich schmerzhaft auf die Unterlippe biss, um nicht auf der Stelle loszulegen. Doch sie schwieg und fraß ihren Ärger in sich hinein.

Unser Erzähler schien Ankas Anspannung entweder nicht bemerkt zu haben, oder sie war ihm gleichgültig, denn er fuhr ungerührt fort:

»Mit dieser Motivation schloss ich mich den serbischen Freischärlern an und war überzeugt davon, das Richtige zu tun. Meine Skisprungkarriere war zu diesem Zeitpunkt längst beendet. Schon kurz nach den Olympischen Spielen stürzte ich schwer und als Serbe war ich sowieso ein Exot. Unsere Springer kamen fast alle aus dem heutigen Slowenien. Dort bin ich auch aufgewachsen, aber es war aufgrund meiner serbischen Abstammung für die Funktionäre nicht wichtig, mir zu einem Comeback zu verhelfen. Doch ohne adäquate medizinische Versorgung und Rehabilitationsmaßnahmen hatte ich keine Chance und meine Wut und Verzweiflung stieg. Die sich anschließende Arbeitslosigkeit führte schließlich zu meiner Überzeugung, dass das serbische Volk benachteiligt wurde und dies ein nicht hinzunehmendes Unrecht darstellte. Deshalb kam ich her und verschanzte mich zusammen mit den Gleichgesinnten dort oben.«

Strahilo brach ab und deutete auf den der Schanzenanlage gegenüberliegenden Hang. Anka und ich folgten seiner Bewegung, doch starrten wir nur auf das unendliche Grün der Tannen. Wenn es die Anlagen noch gab, waren sie vor neugierigen Blicken gut geschützt.

»Oft war mir ein Blick auf die Schanzen vergönnt, der mich an die schönsten Tage meines Lebens erinnerte. Doch nach unten zu gehen, wäre mein Todesurteil gewesen, hatte sich dort doch zunächst die bosnische Armee verschanzt. Fast ein Jahr lang lebte ich zusammen mit den unzähligen dunklen Tannen und den raubeinigen Kameraden in dem tristen Unterstand. Ein größerer Stillstand in meinem Leben hätte nicht eintreten können. Die Gleichförmigkeit der Tage, die Versorgungsengpässe, all das ließ mich schließlich am Sinn der Mission zweifeln. Hinzu kam der Tod unschuldiger Zivilisten, die auf ihren Schmuggeltouren unseren Schützen zum Opfer fielen. Auch verursachten wir bei einem nächtlichen Überfall den Tod einiger Soldaten der bosnischen Armee. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Es war den bosnischen Truppen gelungen, unser Versteck ausfindig zu machen. Die Vergeltung kam für uns vollkommen überraschend. Rasend vor Zorn brachen die fremden Soldaten in unseren Unterstand ein. Niemand meiner Kameraden überlebte. Nur mich zogen sie als Einzigen lebend aus dem Unterstand und brachten mich zur Schanzenanlage. Dort hinten könnt ihr noch heute sehen, wohin. Das Siegerpodest steht da wie vor über dreißig Jahren, verziert nur durch einige Einschusslöcher.«

Wir folgten erneut der Handbewegung unseres Erzählers und erblickten nicht weit entfernt die Ehrungsstätte. Sie hatte augenscheinlich alles Ungemach der Zeiten weitgehend unbeschadet überstanden, nur die Bodenplatten an ihrer Vorderseite waren an einer Stelle zerstört und zu kleinen Steinchen zerfallen. Hinter dem Podest ragten noch die beiden aus Betonstelen errichteten dreiecksförmigen Elemente auf, die aufeinander zuliefen und durch eine runde Plattform verbunden waren, auf der meinem Eindruck nach ein Ableger der olympischen Flamme gebrannt haben dürfte. Auf einem Element waren noch die olympischen Ringe zu sehen, aber nur, wenn man genau hinschaute, denn die Witterung hatte das Symbol fast bis zur Unkenntlichkeit ausgebleicht.

»Ich wurde auf das Podest des Goldmedaillengewinners gezerrt. Was hätte ich dafür gegeben, neun Jahre zuvor dort stehen zu dürfen. Sie verhöhnten mich als den König der Serben, dem die Ehre zuteilwurde, seine Medaille direkt vom Tod in die Hand gedrückt zu bekommen. Als die Soldaten ihre Gewehre anlegten, erinnerte ich mich wieder an die Vision, die mir in der Luft am Berg Igman dereinst erschienen war. Ich sah mich auf dem Siegerpodest am Auslauf stehend, doch meine Miene war verzerrt und meine Gesichtszüge verrieten Todesangst.«


Sarajevo, Malo Polje 2017


Das Einzige, was darauf hindeutete, dass eben noch ein Mann neben uns stand, war ein letzter Rest von Zigarettenrauch in der Luft, der sich immer weiter verflüchtigte, je länger wir uns ansahen und nach einer Erklärung rangen. Intuitiv blickten wir zum Siegerpodest, weil wir Strahilo aufgrund seiner farbigen Schilderung dort vermuteten. Aber die drei unterschiedlich hohen Plattformen für die Medaillengewinner waren leer. Weder stand dort ein strahlender Gewinner noch ein verängstigter Soldat. Anka und ich einigten uns schließlich darauf, anzuerkennen, was wir bis dahin nie für möglich gehalten hätten. Zu plastisch und real war das Geschehene, als dass es ein Produkt unserer Fantasie hätte sein können. Eine Fantasie, die wir zudem beide genau gleich geteilt hätten. Wir kamen überein, mit niemandem über die Geschichte zu sprechen, nicht einmal mit ihren Verwandten unten in der Stadt. Schnell würden wir zum Gespött der Leute werden, die entweder davon ausgehen würden, jemand habe sich einen üblen Scherz mit uns erlaubt, oder dass wir am Igman schlichtweg verrückt geworden wären.

Für Anka wirkt unsere unheimliche Begegnung jedoch bis heute nach. Sie erkannte, dass der unsinnige Krieg auf beiden Seiten nur Verlierer hervorgebracht und auch der Feind gelitten hatte. Mittlerweile engagiert sie sich in einem integrativen Kulturverein in unserer Stadt, denn will Bosnien als Staat eine Zukunft haben, wird dies nur in einem friedlichen Miteinander aller Ethnien und Religionen gelingen!

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