Читать книгу Grado abseits der Pfade - Michael Dangl - Страница 16
ОглавлениеUnd jeder Tag, der vergeht, und jede Stunde
sind voll von Licht und guter Bestimmung.*
Die unbekannteste unter den sehenswerten Straßen Grados ist wohl die Riva Dandolo. Unbekannt, weil sie „nirgends hinführt“, sehenswert, weil sie die Straße der Fischer ist. Hier laufen sie aus und ein, löschen ihre Fracht und verkaufen sie am mercato ittico (Fischmarkt), putzen ihre Netze und präparieren ihre Boote für die nächste Fahrt. Das „Al Pescatore“ ist das authentischste Fischlokal der Insel, nicht nur wegen seiner Lage. Die Osteria „Zero Miglia“, schon fast am Ende der Uferstraße, kocht köstlich – wenn auch prätentiöser und teurer. An zwei Wochenenden im Juli und August gibt die Cooperativa pescatori in der Riva ihre traditionelle sardelada: Die Seefahrer selbst kredenzen allerlei Frittiertes mit Polenta, Wein und Bier, das Volk schmaust mit den Fischerfamilien an Holztischen. Eine Atmosphäre, die man nicht vergisst.
Die Riva Dandolo, die nach der noblen venezianischen Familie Dandolo, die vier Dogen und einen Patriarchen von Grado gestellt hat, benannt ist, heißt vorher, am stadtseitigen Anfang des Hafens, Riva San Marco und beherbergt die Bar „Manzoni“, die friedlichste der den porto mandracchio** beherrschenden Bars. Da dessen östlicher Teil den Gästebooten vorbehalten ist, trifft man viele deutschsprachige Besucher. Die Bar „Manzoni “hat eine recht frühe Morgen- und die längste Abendsonne und macht Tramezzini im alten Stil. Ich sehe nun schon die dritte Besitzergeneration, und es ist, von Opa zu Tochter und von Tochter zu Enkelin, einTemperament und einGesicht, eine Freundlichkeit und eine Ruhe.
Anders die Bar „Bomben“ gegenüber. Auch, dass die Frühsonne hier bald weicht, macht, dass sie der Treffpunkt der Tagesbevölkerung ist. Das Gradeser „Stadttheater“ wird nämlich von verschiedenen Darstellergruppen bevölkert, die alle ihre „Auftrittszeiten“ haben und gleitend ausgetauscht werden. Nach den Joggern und Strandläufern am frühen Morgen, zwischen die sich vereinzelte Hunde mit Menschen an der Leine und Radfahrer mit panini im Gebäckkorb mischen, übernehmen die Rentner das Regiment. Sie stehen nicht, wie am Nachmittag, wo sie ihre zweite Dienstschicht haben, im Freien zusammen, sie sitzen in den Bars und verhandeln das Weltgeschehen der letzten 12 Stunden und 62 Jahre. Die Männer haben ihre Bars, die Frauen ihre. Wo es sich vermischt, wird gebalzt und gescherzt wie ehedem. Um neun gehen sie auseinander, als hätten sie eine Arbeit erledigt, und verschwinden in ihren Häusern bis zum nächsten Auftritt. Neun bis zehn, das ist die Stunde der Hausfrauen und jungen Mütter, die am Weg von den Geschäften und Kindergärten sehr ausgiebigen Halt in der Bar „Bomben“ machen, um mit Freundinnen zu plaudern – was eher so aussieht und sich anhört, als würden sie die Welt einmal komplett zerlegen und wieder zusammensetzen, wobei sie, auch wenn es eine Stunde dauert, winters ihre warmen Jacken und Mäntel nicht ablegen, wie um die Sprunghaftigkeit des Cafébesuchs zu betonen. Vor zehn wird es laut im Ort, als sprängen die Ohren auf. Man hat die Touristen auf die Straße getrieben, wie müde Fliegen fallen sie angegessen und angeschlagen aus ihren unterkühlten Frühstückssälen. Und so geht es weiter …
Die Riva Dandolo – vom Alten Hafen zur Lagune
Die Bar „Bomben“ also ist ganz Geschäft, ganz „Heute“. Der Verkehr rollt an seinen paar Gehsteigtischchen vorüber (während das „Manzoni“ nur durch die schmale Riva vom Wasser getrennt ist). Die Tramezzini sind neuerdings, vielleicht ein Zugeständnis an burgergewöhnte Kiefer, dreistöckig. Flockenleicht vormittags in beiden Bars die warmen Croissants (brioche). Sogar Alice kommt mit dem Fahrrad vorbei, um sie in ihrer Bar weiterzuverkaufen.
Ihre Bar – das ist die dritte am Hafen, vielmehr die erste, weil sie Tag- und Nachtleben Grados bespielt und eine wirkliche Institution ist. Zunächst die Lage: Keine Straße stört, man sitzt am Hafen (gleich hinter dem Wassertaxistand und der Anlegestelle des Lagunen-Ausflugsbootes Christina). Fischer verkürzen sich hier das Warten auf die mitternächtliche Ausfahrt mit cubi – schmalen Gläsern gewässerten Weins. Innen ist die Bar urig, eine Hafenkneipe eben (und als solche im Winter immer kalt, weshalb man sein Getränk gern im Stehen zu sich nimmt), fast schon eine Spelunke, in der man sich Schmuggelgeschäfte und Messerstechereien vorstellen kann. Letztere hätten dann unzweifelhaft mit Alice zu tun, Tochter des sympathischen Barbesitzers Luca, Inbegriff des „Mädchens von der Hafenkneipe“, wie aus einem Simenon-Roman. Gertenschlank, muskulöse, von der Arbeit geformte Arme und Hände, märchenhaft und doch früh vom Leben gezeichnet schön, Augen, tief wie das Meer, sehnsüchtig und traurig zugleich. Spätnachts dringt ein Lachen von ihr nach draußen, so kräftig und voll Lebenslust, dass man hineingehen möchte, um es diesem ernsten Gesicht abgewinnbar zu machen. Nicht wenige Menschenmotten lockt auch das Licht ihres Geheimnisses in diese Bar „Al Porto“, die unter den vier, fünf nachtaktiven Ausschänken der Altstadt die bodenloseste, „grenzwertigste“ ist, die immer letzte Einkehr – vor der stets letzten Ausfahrt.
Hier jedoch würde mir Alice widersprechen. Man bestelle kein „letztes“ Getränk, sagt sie. Denn was käme danach: der T.. ?! – Ähnlich wie Adriano, der Fischer, der vor der Ausfahrt um Mitternacht gerade sein cubo trinkt, abwinkt, wenn ich ihm „buona pesca“ wünsche, „guten Fang“. Das dürfe man niemals sagen! – Was dann? – „Am besten … gar nichts!“
* „E ogni díche passa e ogni ora i xe pini de luse e buona sorte.“ (Biagio Marin)
** Ein porto mandracchio bezeichnet einen Hafen, der hauptsächlich für Fischerboote reserviert ist, die wie eine mandria, eine Herde, zusammengefasst sind, um möglichst wenig Raum einzunehmen.