Читать книгу Orangen für Dostojewskij - Michael Dangl - Страница 11

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Der Weg zur Post war kürzer, als Dostojewskij befürchtet hatte, zog sich aber dadurch in die Länge, dass Beppo wesentlich langsamer ging. Hatte er am Vortag zur Eile getrieben, schien er heute die Ankunft eher hinauszögern zu wollen, verweilte gar auf mancher Brücke und schaute nachdenklich in den Kanal, während der Geführte vorwärtsstrebte, eine Umkehrung der gestrigen Rollenverteilung. Beppo trug einen dunklen Anzug, dabei war nicht Sonntag. Aber warum hatte er den Koffer mitgenommen? Dostojewskij wusste, dass er träumte, aber was er träumte, empfand er als vollkommen realistisch. Vor dem Postgebäude standen Männer, alle in Schwarz, ernst und mit kleinen Gläsern in der Hand. Sie verneigten sich vor dem Näherkommenden, einer hielt ihm die Tür auf. Das Innere war marmorn und kalt wie eine Gruft. Ein alter Herr in weißer Offiziersuniform schritt ihm gemessen entgegen und überreichte ihm feierlich ein zusammengerolltes Dokument. Als er es öffnete, sah er aus den Augenwinkeln, wie die Männer von draußen hereindrängten und, zu viele waren es, die einen Blick auf ihn erhaschen wollten, in der Tür stecken blieben. Er beugte seinen Kopf über die Schriftrolle und entzifferte die in großen, altdeutschen Lettern verfasste Mitteilung, dass sein Bruder Michail im Sterben liege. „Und nun“, stand am Schluss, „da Sie das gelesen haben, ist er gestorben.“ Im nächsten Moment waren die Männer hinter ihm schon daran, sich über den Inhalt seines Koffers, dessen Schloss sie erbrochen hatten, herzumachen, drei hielten Beppo, der sich mit Händen und Füßen wehrte, am Boden fest.

Dostojewskij wachte auf und dachte, ehe er die Augen öffnete, seine alte Angst, lebendig begraben zu werden, habe sich erfüllt. Die Stille um ihn war lückenlos. Nur sein Herz schlug ihm bis in den Kopf, und er wagte nicht, sich einen Millimeter zu bewegen, aus Furcht, sich nicht rühren zu können und dadurch zu begreifen, dass er körperlich tot war. So lag er minutenlang regungslos und dachte, dass er wirklich aufrichtige Beziehungen im Leben bisher nur zu seinem Bruder gehabt hatte. Er musste ihm sofort schreiben: dass er ihn liebe und brauche und baldigst eilen werde, ihn zu Hause – wo auch Michail und seine Familie wohnten und die Redaktion des Wochenblattes „Die Zeit“, das die zwei Brüder zusammen gegründet hatten, untergebracht war – zu umarmen. Als hätte dieser Vorsatz ihm Mut gemacht, schlug er die Augen auf.

Und schaute in tiefe Nacht. Es war die Nacht seines Zimmers. An der Tür stand jemand und schaute ihn an, aber es war sein Koffer auf der Kommode. Dostojewskij lag in einem fremden Zimmer in einem fremden Land und war völlig allein in der Welt. Daran würde sich auch nach den in Gang gekommenen Gewöhnlichkeiten des Tags nichts ändern. Überleben konnte er nur aus sich heraus. Hilfe war von nirgendwo zu erwarten. Überleben konnte er nur durch das, was er schrieb, nur durch das, was er davon verkaufte. Dafür würde es nie eine Garantie geben. Wenn er es nicht lernte, mit dieser Unsicherheit zu leben, wäre es besser, er käme gleich unter die Räder eines Fuhrwerks und verendete an den Rändern eines zufrierenden Kanals. Seltsam, dass er sich seinen Tod nur in Sankt Petersburg vorstellen konnte.

Als er zwei Stunden später wieder erwachte, war es schon hell, aber noch immer still. Er konnte sich nicht erinnern, es jemals in einem Zimmer so ruhig gehabt zu haben. Bestimmt nicht in den vier Jahren seiner Kerkerhaft im sibirischen Omsk. Von vierzig Männern in Ketten in einem Raum ist keine Ruhe zu erwarten. Später, in seiner zur Strafe gehörenden Zeit als beschäftigungsloser Soldat in Semipalatinsk, hatte es, an Wintertagen, Stunden der Lautlosigkeit gegeben, aber die kam eher aus einer Ausgestorbenheit und hatte etwas Zuschnürendes, Angstmachendes. Die Stille hier war einfach friedlich und weniger gestört als getragen von nun vereinzelt hörbaren Schlägen einer Nachtigall, die klangen, als ob sie noch aus dem Schlaf des Vogels kämen, verhaltene Stimmübungen späterer Platzkonzerte. Die seinem Namen Hohn sprachen. Aber im Juni in Paris war er auch tagsüber zu hören gewesen. Nein, wenn, dann fühlte er sich in seine Kindheit zurückversetzt, und weniger in die Stadtwohnung als auf das sommerliche Landgut, wo der größte Frieden für ihn allerdings darin bestanden hatte, dass er der Obhut der Mutter anvertraut gewesen war. Und wie von diesem Gedanken geweckt, fingen zwei kleine Kinder über ihm zu schreien an, gefolgt von einer Männerstimme und trippelnden Schritten auf Parkett. Das Haus kam in Schwung. Nebenan hörte er Wasserplätschern, eine Tür fiel ins Schloss und jemand rannte die Treppe hinab. Der Vater hatte seinen Kindern Spiele verboten, ob mit Karten, Bällen oder am Brett. Aber er schlug sie nicht, und da in den Gymnasien noch die Prügelstrafe üblich gewesen war – eine Praxis, deren Sinnhaftigkeit in Russland erst seit ein, zwei Jahren diskutiert wurde –, ließ er die Geschwister zu Hause unterrichten. Fjodors Russischlehrer war ein Schulkollege Gogols gewesen und erzählte gern, dieser sei schon als Knabe zu den wildesten Späßen aufgelegt gewesen – einem Kameraden hatte er so lange eingeredet, die „Augen eines Stiers“ zu haben, bis man jenen in die Psychiatrie einweisen musste. Seine Mutter hatte Fedjuscha, wie er von ihr genannt wurde, geliebt. Sie starb an Schwindsucht, als er fünfzehn war, und seltsamerweise mischte sich in die Trauer, die er und Michail trugen, auch die um den größten russischen Dichter, Alexander Puschkin, der wenige Tage vorher im Duell gestorben war. Schon im nächsten Frühjahr sollten sie dann die Reise nach Petersburg antreten, wo ihr Vater, der sie im Adelsregister eintragen hatte lassen, für sie Stipendien an der gerade gegründeten Pionieroffiziersschule bekommen hatte.

Er setzte sich auf und öffnete die Fensterflügel. Warme Luft streichelte sein bleiches Gesicht. Im Kopf hämmerte es. Er zündete sich eine Zigarette an und schaute vorgebeugt zum Fenster der Russinnen. Die Jüngere nähte gerade einen Knopf an eine Bluse und sah kurz auf, als sie den Blick des kleinen Herrn, wie sie ihn für sich nennen musste, spürte. Beide schauten rasch wieder weg. Dostojewskij stand auf, machte Gymnastik, wusch sich und putzte die Zähne. Da klopfte es an der Tür. Er zog die Kommode zurück, langsam, ruckweise, es klopfte wieder, „Un moment“, knurrte er und zog weiter, wobei der Koffer zu Boden fiel. Endlich war die Tür frei und er entsperrte und öffnete sie. Draußen stand Beppo und grüßte lächelnd den zerzausten russischen Gast, der, wie es aussah, vom Türöffnen rot im Gesicht und außer Atem war. Er hielt ein Tablett mit einem Teeservice in Händen und trat, ohne zu fragen, ein. Stellte das Tablett auf die Kommode, hob den Deckel der großen Kanne und zeigte, dass sie randvoll war. Dazu sprach er natürlich ununterbrochen, aber Dostojewskij hatte unbewusst beschlossen, ihm nicht mehr zuzuhören. Über den Hinweis auf die volle Kanne war er erstaunt. War der Kleine gestern heimlich im Lokal gewesen? Gestisch gab Beppo – indem er in eine Faust blasend ein Posthorn simulierte und mit dem freien Daumen über die Schulter zeigte – seine Instruktionen, wandte sich zur Tür, stellte kommentarlos den Koffer auf, wobei sein Blick das defekte Schloss registrierte, und ging ab. Dostojewskij gab zwei Stück Zucker in den dampfenden Tee, kämmte die Haare und zog sich bis auf den Rock fertig an. Dazu sang er gar nicht leise: „Na sarje ti jejo ne budi, na sarje ona sladka tak spit …“*, ein zartes Liebeslied aus seiner Jugend vor zwanzig Jahren. Dann setzte er sich an den Schreibtisch, um Gedanken für seine Romane, die ihm in der Nacht gekommen waren, aufzuschreiben. Nach fünf Minuten stand er auf, weil sein Bart vom Waschen noch feucht war und ihn das so ärgerte, dass er nicht denken konnte. Mit trockenem Bart nahm er wieder Platz und schrieb etwa eine Stunde, während er den Tee trank. Dazu rauchte er Zigaretten und hüstelte.

Dann bürstete er das leichte Sakko aus, schlüpfte hinein und stellte sich vor den Spiegel. Ein Fremder blickte ihn an, wie ihm das in Hotelzimmern öfter geschah. Und zeigte ihm plötzlich die Zunge. Sie war belegt, ein böses Zeichen. Konnte der Mensch, die Krone der Schöpfung, so von seiner eigenen Leber abhängen? Vielleicht, dachte er, kommt die belegte Zunge auch vom schwarzen Tee. Einem Übermut folgend, entnahm er dem Koffer seine uralten hellvioletten Handschuhe, hielt sie vornehm in der linken Hand und sah sich das Ergebnis im Spiegel an. Es gefiel ihm nicht. Er legte die Handschuhe in eine Schublade, lehnte die Fensterflügel an und verließ, leise vor sich hinsingend, das Zimmer.

Die Post war wirklich nicht weit, und Beppo wirklich weniger in Hast. Fast konnte Dostojewskij den Gang genießen, über die noch menschenleeren Brücken, durch die engen Gassen, in denen noch etwas von Morgenfrische war, auch wenn auf den Plätzen jetzt, am Vormittag, schon die Hitze buk wie gestern bei seiner mittäglichen Ankunft. Es würde also heute noch heißer werden. Fast konnte er den Gang genießen, aber ihn plagte das Rheuma in den Füßen, das er sich in Sibirien zugezogen hatte, und jeder Anstieg verursachte ihm Hustenreiz. Beppo machte sich einen Spaß daraus, die Brücken, die sie überstiegen, rückwärts abzuzählen, bei „sieben“ fing er an, und als sie die letzte hinabstiegen und schon den Eingang zur Post sahen, drehte er sich um und fragte in schlingerndem Französisch, ob sein Gast wisse, wie viele Brücken Venedig habe. Da keine Antwort kam, gab er sie selbst: „Plus des quattrocento!“

„Saint-Pétersbourg en a plus“, knurrte Dostojewskij zurück, als hätte man ihn persönlich beleidigt, obwohl es ihm egal war, aber er hatte gelesen, dass jemand sich die Mühe gemacht hatte, die Brücken beider Städte abzuzählen und bei der nördlichen auf mehr gekommen war.

Erst als er den Brief seines Bruders Michail öffnete, fiel ihm ein, dass er ihm ja heute früh hatte schreiben wollen, aber Dostojewskij schrieb nicht gern Briefe. Käme er in die Hölle, so scherzte er oft für sich, bestünde seine Strafe darin, täglich zehn Briefe schreiben zu müssen. Bettelbriefe waren die einzige Motivation, die er finden konnte, und dann fand er auch die schönsten, romantischsten Formulierungen. Die Briefe aus seiner Anfangszeit in Petersburg an den Vater in Moskau waren voll davon gewesen: Herzensergüsse gegen Geldfluss. Rührung für Rubel. Sprache als Rechnung. Ein Tauschgeschäft. Ein Leben ohne Schulden kannte er nicht. Immer hatte er Furcht, jemandem zu begegnen oder von jemandem aufgesucht zu werden, dem er Geld schuldete. Immer schrieb er um längst ausgegebene Vorschüsse. Er kämpfte mit den Gläubigern wie Laokoon mit den Schlangen. Manche Weitschweifigkeit in seinen Romanen schoben Bösmeinende darauf, dass sein Honorar von der Zahl der Druckseiten abhing.

Der Wechsel war geringer, als er gehofft hatte, und die Botschaft seines Bruders eindeutig: Er möge bitte raschestmöglich zurückkommen, dies sei das absolut Letzte, was er ihm schicken könne, „Die Zeit“ stecke in ernsten Schwierigkeiten, ein Geldgeber sei abgesprungen und überhaupt wäre es schön, wenn er nach über zwei Monaten seinen Kompagnon wieder an der Seite hätte. Für Michails Verhältnisse waren das ernste Vorwürfe. Aber Dostojewskij dachte an die langen Jahre in Sibirien, in denen er vergeblich auf ein paar Zeilen seines Bruders gehofft hatte, und sein schlechtes Gewissen beruhigte sich, ohne wirklich erwacht zu sein. Dass er „über seine Verhältnisse“ lebe, musste er sich seit jeher anhören, nicht von Michail, aber immer von denen, die selbst um Wahrung eines gewissen Status notdürftig bemüht waren: den Bürgern. Dass er mehr Aufwand treibe, als es ihm Verstand und Vernunft, wie er sie doch ausreichend besäße, eingeben müssten. Das war so, als gäbe es nichts anderes und als müsste nach nichts anderem gestrebt werden als „finanzieller Sicherheit“, und all die vielen anderen Absicherungen und Sicherheiten, durch die sich das bürgerliche Leben definierte, schienen auf diese eine große Weltsicherheit gegründet, die, dadurch zur existenziellen Sicherheit gemacht, in Wahrheit das Unhaltbarste, Kleinste, Ungesichertste und alleine aus sich heraus nichts Verheißende und nie und in nichts Seligmachende war: der Mammon, das Geld. Dostojewskij hatte kein „Verhältnis“ zum Geld, und er ärgerte sich, dass die Menschheit die gleiche Bezeichnung dafür verwendete, mit der sie über Liebesdinge sprach.

In der Bank gleich daneben machte er den Wechsel zu Geld und bat Beppo, ihn zurück zum Hotel zu bringen. Während dieser ihn rechts und links auf Gebäude aufmerksam machte und selbsterheiternde Geschichten dazu erzählte, dachte er über sein Leben nach. Angenommen, ich hätte zwanzigtausend Rubel, sagte er sich. Viertausend wären für Schulden, dreitausend für Schulden, noch mal viertausend für Schulden. Seine Frau und Pascha erhielten dreitausend, Apollinaria zweitausend, dann blieben viertausend zum Leben für ein ganzes Jahr. In Venedig? Beinahe hätte er geschmunzelt über diesen verwegenen Gedanken.

Als er in ein Café treten wollte, weil ihm einfiel, dass er auf das Frühstück vergessen hatte, drängte Beppo ihn weiter – es war voll österreichischer Soldaten. Dafür führte er ihn in eines, wo er wieder mit lautem Hallo begrüßt wurde, und hielt, als Dostojewskij Platz genommen hatte, an der Schank stehend schon ein kleines Weinglas in der Hand.

Die gekochten Eier waren angenehm weich, die Aprikosenmarmelade gut und mit ganzen Fruchtstücken durchsetzt, der Kaffee aber zu wenig heiß und das mondsichelförmige Gebäck, das er in Paris geschätzt hatte, kam hier in einer traurigen, glatten, unknusprigen venezianischen oder vielleicht auch Wiener Version, zudem kleiner, was dadurch nicht besser gemacht wurde, dass es im Mund mehr zu werden schien. Da im hinteren Teil des leeren Cafés eine Tür und vorne ein Fenster offen standen, zog es genau zu seinem Tisch hin, und er war froh, nach fünfzehn Minuten wieder draußen zu sein, ohne sich erkältet zu haben. Eine französische Zeitung von gestern nahm er vom Nebentisch mit.

Auf einem Platz, zu dem sich die Straße kurz vor seinem Hotel vergrößerte, standen vier Bänke jeweils am Fuß einer alten Platane, zu dieser Stunde drei in deren Schatten, eine in der Sonne. In der Mitte des Platzes ein großer Brunnen. Dostojewskij entließ Beppo, der ihn gern noch zu einer „Galleria dell’Accademia“ mitgeschleppt hätte, die seinem Fuchteln zufolge am Ende der Straße lag, mit einer ähnlichen Münze wie beim letzten Mal und ließ sich müde auf eine der schattigen Bänke fallen. Wie kann man in einer derartigen Hitze leben und arbeiten, dachte er. Er schlug die Zeitung wie üblich aufs Geratewohl auf, und sein Blick fiel auf den Namen Pierre-François Lacenaire. Er hatte schon in Paris von diesem spektakulären Fall der jüngeren französischen Kriminalgeschichte gelesen, in dem ein Sohn aus bürgerlich gut situierter Familie, der früh Zurücksetzung und Lieblosigkeit erfahren hatte, zu einem gewaltigen Schlag gegen die Gesellschaft ausholte und mit zweiunddreißig unter der Guillotine starb. Die ersten Raubüberfälle beging er anscheinend nur, um ins Gefängnis zu kommen, das er die „Hochschule der Kriminalität“ nannte, und dort das Handwerk des Schwerverbrechers zu lernen. In Freiheit beging er mehrere Raubmorde, unter anderem an seiner Mutter, später im Gefängnis schrieb er Gedichte und empfing Journalisten, im Warten auf die Hinrichtung verfasste er seine Autobiographie. Er erklärte seine Verbrechen zu einem „Duell mit der Gesellschaft“, deren Ungleichheit und Ungerechtigkeit, Egoismus und Verlogenheit ihn dazu gezwungen hätten.

Dostojewskij wollte sich eben in den Artikel vertiefen, als der eruptive Schrei eines Mannes, dem ein Ziegelstein auf den Kopf gefallen sein musste, ihn herumfahren ließ. Doch es war nichts geschehen, als dass der Mann im Gehen einen Freund erkannt hatte, der ihm entgegenkam, und diese Freude lautstark kundtat. Der Andere echote ähnlich euphorisch und schon fanden sich die beiden im lebhaftesten Gespräch und direkt hinter seiner Bank. Zwar verstand er kein Wort, aber die Heftigkeit des Wortwechsels machte konzentriertes Lesen unmöglich. Auch, dass er sich mehrmals mahnend umdrehte, half nichts, einer von den beiden sah sogar im Reden auf ihn hinunter und lächelte ihn an, es gab nicht den Funken einer Ahnung, dass sie stören könnten. Da sie weit auseinander-liegende Stimmlagen hatten – einer im rauen, gequetschten Falsett, der zweite im sonoren und beinahe noch durchdringenderen Bass –, deckten sie alle Frequenzen ab und hackten gleichsam von zwei Seiten auf den armen Kopf des vor ihnen Sitzenden, der keine andere Hilfe sah, als auf die andere schattige Bank auf derselben Seite des Platzes zu flüchten, wo er, ein paar Meter entfernt, wenigstens sein Trommelfell in Sicherheit wusste. Doch kaum hatte er den ersten Absatz des Artikels gelesen – neue Schriften des Verbrechers waren gefunden worden –, kamen die beiden Schreihälse, deren einer offenbar beschlossen hatte, den anderen, der in größerer Eile war, ein Stück seines Wegs zu begleiten, an seine neue Bank heran und blieben exakt hinter ihr stehen. Als sich der verzweifelt an seine Zeitung Klammernde nun sehr energisch umdrehte, hielt der Bass gerade im Reden inne, weil er einen Namen suchte, der ihm entfallen war, und in diesem Innehalten schaute er auf den Fremden, und im Suchen des Namens suchte sein Blick die Bank, auf der er den Zeitungsleser doch eben noch hatte sitzen gesehen, aber bevor noch eine Verwunderung darüber aufkommen konnte, fand sein Blick den entfallenen Namen auf der leeren Bank, und beides, Gespräch und Aufmerksamkeit, kehrten aus noch vollerem Hals zum Partner zurück, der über der Brisanz des Themas seine Eile vergessen hatte und mit verschränkten Armen und offenem Mund dastand.

Das darf nicht wahr sein, dachte Dostojewskij und sah auf die zwei Bänke der gegenüberliegenden Seite. Hatte er es nicht geschafft, im Lärm Dutzender Männer, die an den langen Winterabenden in der sibirischen Katorga einander ihre Verbrechergeschichten erzählten, sich, wenn er deren müde war, auf seine Bibel zu konzentrieren, das einzige Buch, das ihm in der Haft erlaubt war? Er zwang seine Augen auf die Zeilen über den französischen Gesellschaftsfeind, der, das hatte er schon früher dunkel geahnt, Züge seiner neuen Romanhauptfigur trug, wie sie sich in ihm seit Jahren des mehr oder weniger bewussten Konzipierens gestaltete und zusehends konkretisierte. Oder war Raskolnikow – dieser Name hatte sich ihm aufgedrängt – stärker von Lacenaire beeinflusst, als es sich der Autor zugestand?

Ein zweistimmiges donnerndes Lachen fuhr wie eine Axt in seine Gedanken und hieb sie auseinander. Die zwei Männer hinter ihm lachten wie seit Jahren nicht und schmückten schreiend das was immer Komische aus und lachten noch mehr, einander an Ausschmückungen überbietend, sie grölten wie Betrunkene auf hoher See und standen doch nur in einer Plauderei auf einem Platz. Was sind das für Menschen, dachte Dostojewskij, ging geradewegs am Brunnen vorbei auf die dritte schattige Bank zu und setzte sich, nunmehr mit Blick auf seine Peiniger und in wohltuender Distanz.

Lacenaire hatte acht Wochen vom Todesurteil bis zur Hinrichtung gehabt, dachte er. Bei ihm waren es fünf gewesen. Er nahm sein Notizbuch aus der Tasche, da wurde er wieder von den zwei Freunden abgelenkt, diesmal aber, weil sie sich nun doch zur Trennung entschieden und begonnen hatten, sich in kleinen Etappen voneinander zu entfernen, immer wieder stehen bleibend und aufgehalten durch einen neuen Gedanken, etwas noch dem Gespräch Hinzuzufügendes und wiederum eine Replik darauf und so fort. Natürlich wurden sie dadurch, wenn das möglich war, noch lauter, und da man nun dauernd die Hoffnung hatte, jetzt und jetzt ginge die Sache zu Ende, geradezu flehend an den Lippen der sich Verabschiedenden hing und gar nichts anderes mehr denken konnte, war es, als hätte die Störung erst so richtig begonnen. Dostojewskij blätterte die Zeitung durch. Die Südstaaten hatten eine Schlacht im amerikanischen Krieg gewonnen. Der rumänische Ministerpräsident war ermordet worden. Der Waffenerfinder Samuel Colt gestorben. Die Männer standen nun an je einem Eck des Platzes und setzten ihre Unterhaltung über gute vierzig Meter rufend und dabei mühelos fort. Passanten störten sich daran nicht im Geringsten. Die Stimmen hallten von den Hauswänden wider und füllten das Geviert wie ein Theater mit guter Akustik. In der Zeitung stand weiter, dass Saigon jetzt Hauptstadt der französischen Kolonie Cochinchina war. In diesen Tagen wurde in Italien die Lira endgültig zum einzigen Zahlungsmittel in allen zum Königreich vereinten Gebieten gemacht, in allen also außer Venedig, dachte Dostojewskij und schaute auf, weil eine neue Irritation eingetreten war: völlige Stille. Die Männer waren verschwunden und hatten den Platz in tiefsten Frieden entlassen.

Eine Minute lang hörte man gar nichts außer den Flügeln und Krallen der am Boden nach Nahrung scharrenden Tauben. Es war heiß und windstill. Dostojewskij atmete durch. Und streckte die Beine aus. Ausgestreckte Beine ergaben ganz andere Gedanken als angewinkelte. Mit der Stille war eine Spur Traurigkeit in ihn gekommen, und mit ihr ein Hauch Glück. Alleingelassen, brauchte er keine Rechtfertigung mehr für sein Sitzen und Sein. Etwa zehn Minuten saß er so. Oder waren es dreißig? In Stille und Alleinsein verging die Zeit auf eigene Art. Er erinnerte das ungläubige Gesicht Michails, als dieser ihn während seiner Festungshaft – den langen acht Monaten vor seiner Hinrichtung, die im letzten Moment in Zwangsarbeit umgewandelt wurde – besuchte und seinen Bruder nicht niedergeschlagen vorfand, sondern bester Laune: Das Eingesperrtsein erlaube ihm endlich, sich auf sein Schreiben zu konzentrieren, nichts in der Einzelzelle lenke ihn von sich ab. Auch wenn er sich zu Unrecht eingesperrt fühlte, schlecht schlief und Angst vor einer Verurteilung zum Tod hatte. Für den „Homme isolé“, wie ein Schullehrer ihn genannt hatte, war die Isolationshaft eine Art Zuhause. Eigentlich mehr als jedes andere zuvor.

Eine Gruppe Halbwüchsiger in Matrosenuniform ging an ihm vorbei und über den Platz in Richtung des großen Kanals, an dem er gestern Abend die österreichischen Offiziere gesehen hatte und an dem österreichische Kriegsschiffe lagen und der doch nicht, hatte er inzwischen von Beppo erfahren, der Canal Grande war, sondern einer mit einem Namen, der wie „Zudecke“ klang. Hatten selbst die Kanäle schon einen österreichischen Pass bekommen? Da der Kaiser Venedig zum ersten Marinestützpunkt der Monarchie erklärt hatte, war alles möglich. Die uniformierten Knaben bogen ums Eck, einer büxte kurz aus, um eine kleine Gruppe Tauben aufzuschrecken, was ein kurzes Ausbüxen in eine verbotene Kindheit sein mochte, wurde aber schnell von seinen Kameraden in den Ernst des Lebens zurückgemahnt. Ein Kanonenschuss vom jenseitigen Ufer ließ die Tauben auffliegen und, wie es schien, die alten Mauern erzittern. Dostojewskij erschrak nicht, er kannte den mittäglichen Salut von der Petersburger Peter-und-Paul-Festung. An der Pionieroffiziersschule von Zar Nikolaj vor fünfundzwanzig Jahren herrschte ein strengeres Regiment, dachte er. Derart freier, unbeaufsichtigter Ausgang in Uniform wäre nicht denkbar gewesen. Und bei schlechten Noten gab es sogar am Sonntag Ausgangsverbot. Verstöße gegen die Anstaltsordnung wurden mit Karzer bestraft. Die Hauptübungen neben dem Lernen waren Gymnastik, Fechten, Schießen und Marschieren: allesamt Schwachstellen des sehr dünnen, krankhaft blassen Fünfzehnjährigen mit den hellen, dünnen Haaren, den eingesunkenen Augen und dem Blick, der durchdringend und tief war, wiewohl er nicht wirklich zu schauen, sondern eher, während er sah und registrierte, mit etwas Anderem beschäftigt zu sein schien. Die untersten Klassen wurden „Sibirien“ genannt. Die Freizeitvergnügungen der Mitschüler – Ballspiele, in den folgenden Jahren Zechgelage –, ihre obszönen Witze und Lieder stießen ihn ab, ihre Mut- und Kraftproben fand er dumm und mied sie wie das gemeinsame Baden am Newa-Strand. Der junge Fjodor verkroch sich lieber in einer Dachnische mit Blick auf die Fontanka, einen das Zentrum Petersburgs umlaufenden Kanal, und las. Die Literatur befreite ihn. Schiller und Byron verzauberten sein bedrücktes Dasein. Bücher waren die Rettung. Die einzige. Und der Literaturzirkel, den der Einundzwanzigjährige gründete, nachdem er die Schule – der Vater war seit vier Jahren tot – hingeschmissen hatte, war ein freier Fluss von Ideen und Utopien, ein Ort für Gefühle statt Gewehre, für Menschlichkeit statt Menschenverachtung. Und der Blick ging nach Westeuropa, wohin sonst? Dort war der Schriftsteller seit dem achtzehnten Jahrhundert ein anerkannter Beruf, während der Dichter in Russland heute noch in erster Linie Staatsdiener zu sein hatte, um leben zu können. Der Blick, die Sehnsucht: nach Europa!

Die Sonne fiel durch die hohen Platanenblätter auf sein blasses gedankenverschlossenes Gesicht. Er schnellte, die Beine noch immer ausgestreckt und die Füße überkreuzt, die Arme nach oben wie in einer Sitzturnübung oder zum Sieg und streckte dabei den Rücken durch, dass es knackte, wobei ihm das Blut in den Kopf schoss und er sich schnell mit beiden Händen an der Bankkante festhalten musste, um nicht vor Schwindel umzukippen. Und vielleicht auch ein bisschen vor Euphorie. Nach zwei Monaten in Europa schien es ihm auf diesem friedlichen, mittäglich heißen Platz so, als wäre er endlich auf dem ersehnten Kontinent angekommen.

Eine weitere Zeitungsmeldung besagte, dass Frankreich etliche bedeutende Kunstschätze, die Napoleon geraubt hatte, an Venedig zurückgegeben habe und diese nun in der Kunstschule für Malerei und Skulptur, der „Galleria dell’Accademia“, ausgestellt seien. Sie war durch die Sammlung von Kunst aus den von Frankreich säkularisierten Kirchen und Klöstern entstanden. Und da einige Frauen sich mühten, mit Eimern Wasser aus den Tiefen des Brunnens zu ziehen, und das ganz und gar nicht lautlos taten, was ihn nicht mehr wunderte, ließ er die Zeitung liegen und ging in die Richtung, die Beppo ihm gewiesen hatte.

Amüsiert dachte er an eine Begebenheit, über die er sich geärgert hatte, als er in Dresden einen Mann auf der Straße gefragt hatte, wo die Gemäldegalerie sei.

„Was?“, war dessen Nachfrage gewesen.

„Wo ist die Gemäldegalerie?“

„Gemäldegalerie?“

„Ja, Gemäldegalerie.“

„Die Königliche Gemäldegalerie?“

„Ja, die Königliche Gemäldegalerie.“

„Ich weiß nicht, ich bin hier fremd.“

Die Straße säumte ein Spalier von Bäumen ungewöhnlich roten Oleanders, und er ging gerade in der Mitte durch wie ein General, der solche Ehrenbezeugungen gewohnt ist, ernst und mit gesenktem Kopf, und sog den Duft heimlich durch die Nase ein. Das Gebäude erinnerte ihn in der Eingangshalle noch unglücklich an die Florenzer Uffizien, doch schon nach den Treppen zum ersten Stock konnte er den Blick nicht von der Decke des prächtigen Saales wenden, aus deren Vertäfelung Hunderte Köpfe auf ihn herniedersahen, und er stellte sich vor, dass sie lebendig wären und die dazugehörigen Menschenkörper flach am Bauch lägen und ihre Gesichter durch die ovalen Öffnungen nach unten steckten. Wurden sie alle paar Stunden von anderen abgelöst?

Im Saal selbst waren Ikonen ausgestellt, italienische von vor zwei- bis fünfhundert Jahren, und er blieb lange vor jeder stehen. Die Gesichter der Heiligen hatten einen ganz anderen Ausdruck, als er es von den altrussischen Ikonen kannte, weniger streng, offener, man konnte sagen: vermenschlichter. Und er wusste nicht, ob ihm das so gefiel. Die Madonna von da Bologna sah lächelnd, geradezu keck auf den Betrachter, während sie Gottes Sohn stillte, und der Heilige Markus von Veneziano erinnerte ihn mit seiner routinierten Freundlichkeit an den Rezeptionisten im Hotel. Als er die weiteren Säle durchschritt, merkte er, dass er wahrscheinlich zu viel Zeit und Energie für den ersten verbraucht hatte, denn schon war er, wie rasch in Museen, müde. Der Heilige Hieronymus von della Francesca schaute skeptisch und eigentlich recht hochmütig auf den ihn anbetenden devoto, wie ein alter Krämer, der die Kaufkraft einer um Ware heischenden Kundschaft anzweifelt. Doch drei sehr unterschiedliche Madonnen von Bellini und deren Knaben ließen ihn lange nicht aus ihrem Bann. Wiewohl – oder weil – sie recht hoch hingen und er sie nicht gut sehen konnte. Als er einen in der Ecke des Raums stehenden Stuhl nahm und sich darauf einer Madonna in Augenhöhe stellte, kam ein Saaldiener und sagte, das sei verboten. Kaum war der Saaldiener draußen, stieg er vor einer anderen Madonna auf den Stuhl, der Saaldiener kam wieder und wies ihn nun schärfer zurecht. Dostojewskij schimpfte auf Russisch: „Lakaienseele!“ und verließ erzürnt den Raum.

In einem Saal mit einer langen Bank in der Mitte setzte er sich dankbar auf deren Rand und verschränkte die Beine. Die „Ankunft der englischen Gesandten am Hof des Königs der Bretagne“, wie sie Carpaccio in einem großen Gemälde vor ihm schilderte, schien ihm eine Veranstaltung, bei der er nicht so gerne dabeigewesen wäre, von hohem politischen Ernst und Angst vor der falschen Geste, dem falschen Gesicht. Eine Figur zu seiner Rechten zog seine Aufmerksamkeit auf sich, es war seine eigene, reflektiert von einem in eine Tür eingelassenen Spiegel. Dostojewskij staunte. Er fand es seltsam, dass sein Inneres noch immer so wenig Einfluss auf sein Äußeres genommen hatte. Nach außen schien er nach wie vor ein sittsamer Bürger, ein aufgeräumter, biederer, pflichtbewusster Beamter zu sein, und war doch ein verurteilter Revolutionär, ein entlassener Sträfling, ein Spieler, Freigeist und Lebemann – zumindest war er das alles phasenweise gewesen. Nichts davon manifestierte sich in seinen Zügen und in seiner Haltung. Selbst in Uniform, er wusste es, verlor sich das Beamtische seiner Positur nicht, nur weitete das Militärische die leichte Entrüstung, die – worüber auch immer – für gewöhnlich in seinem Gesicht saß, auf seinen Oberkörper aus, als würde die Uniform dem Kriegerischen in ihm irgendwie Mut machen. Seine im Sitzen übereinandergeschlagenen Beine aber, fiel ihm auf, schienen von all den vermeintlichen oder echten Entrüstungen der höheren Körperpartien nichts zu wissen, sie wirkten frei und unabhängig, ein selbstständiges, selbstbewusstes, im Leben stehendes Beinpaar, das den offensichtlichen Verunsicherungen der Menschenhälfte über ihnen eine verlässliche Stütze bot. So zerfiel seine Erscheinung, dachte er, an seinem eigenen Bild eine Art Kunstkritik übend, zumal im Sitzen in zwei, wenn nicht drei Teile: einen gedrungenen, schutzlosen, sich vergeblich stark gebenden Torso mit einem wie halslos daraufgesteckten mürrisch in die Welt gereckten Kopf einerseits – und zwei unaufgeregten, geradezu eleganten und, vergaß man den Rest, eigentlich aristokratisch unbekümmerten schlanken Beinen, die in fast schon kokett schmalen Schuhen und also Füßen ausliefen. Er fand, er sah aus wie eine Zeichnung in diesem Kinderbuch, in dem man die Körperdrittel unterschiedlichster Figuren zueinanderklappen und die groteskesten Erscheinungen kreieren konnte. Wobei in seinem Fall der Kopf durchaus zu den Beinen zu passen schien und nur ein in der Relation zu klein geratener Oberkörper eingeschoben war, die Arme eng angelegt, dessen große, beinahe fleischigen Arbeiterhände wie unterbeschäftigt auf dem feiertäglich ruhenden Oberschenkel lagen. Im Ganzen war er sehr unzufrieden mit seinem Anblick.

Auf der Suche nach dem Ausgang hielt ihn noch ein Bild fest, auf dem ein Geistlicher in einem Kanal schwamm; der Titel des Bildes von Bellini erklärte, dass nicht der Priester von der Brücke San Lorenzo – auf der, wie an den Ufern, Hunderte Schaulustige standen – gefallen war, sondern eine Reliquie des Heiligen Kreuzes, und das titelgebende „Wunder“ bestand wohl darin, dass sie nicht untergegangen, sondern auf der Wasseroberfläche geblieben war, da der sie jetzt stolz zur Schau stellende, schwimmende Geistliche am Oberkörper trocken und also nicht nach ihr getaucht war.

Vor der Galerie stand Dostojewskij am Fuß einer steil nach oben führenden eisernen Brücke über einen breiten Kanal. Sie lag in praller Sonne, und da er die Anstrengung des Aufstiegs fürchtete, bog er im Schatten des Gebäudes nach rechts und ließ sich von seinen Beinen mehr oder weniger von selbst durch das Spalier der Oleanderbäume in sein Quartier führen, wo er sich, seiner Schwäche nachgebend, ohne Rock und Weste auf sein Bett warf und etwa zwei Stunden versuchte, sein heftig heraufschlagendes Herz mit ruhigem Denken und schlummerähnlichen Zuständen gewissermaßen zuzudecken, hinunterzudrücken. Dabei hüpfte ihm der Affe im roten Kapuzenmantel, der ihm vom unteren Bildrand Carpaccios vorhin bei seiner Selbstbespiegelung zugesehen hatte, kreuz und quer durch seine Halbschlafbilder, die von leisen elegischen Melodien einer Ziehharmonika unterlegt waren.

Er saß schon länger über seinen Skizzen am Schreibtisch, als es an der Tür klopfte. Statt des erwarteten Beppo stand ein kleiner dunkelhäutiger Junge da, barfuß, mit kurzen Hosen und nacktem Oberkörper, und zuerst dachte Dostojewskij, der Affe sei aus dem Bild gesprungen und zu ihm gekommen. Der Junge, bei dem nicht klar war, was Sonnenbräune, Naturfarbe oder Schmutz war, hatte einen Hammer in der Hand und rief aus einem Mund, der aus mehr Lücken als Zähnen bestand:

„Validsa!“

Durch die Ähnlichkeit mit dem französischen Wort verstand Dostojewskij, dass Beppo ihn geschickt haben musste, um seinen Koffer zu reparieren, und ließ ihn ein. Der Kleine erspähte das Gepäckstück, begutachtete das verbogene Schloss und schlug dreimal mit dem Hammer so fest darauf, dass es vollends in Stücke brach. Dann stellte er sich daneben, hielt die Hand auf und sagte:

„Zwanzig, s’il vous plaît.“

Dostojewskij hob die Hand zu einer gestischen Ohrfeige und jagte den Kerl hinaus.

* „Am Morgen, da wecke sie nicht, am Morgen, da schläft sie so süß …“

Orangen für Dostojewskij

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