Читать книгу Orangen für Dostojewskij - Michael Dangl - Страница 9
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ОглавлениеDraußen bereute er, seinen wärmeren Abendrock angezogen zu haben, denn die Hitze hatte um nichts nachgelassen. Er musste als Erstes etwas trinken gehen. An einem Baumstamm gegenüber saß Beppo, sprang auf, als er seinen neuen Herrn sah, klopfte sich den Staub von der Hose und lief los, mit groß einladenden Gesten nach hinten wie ein Fischer, der sein Netz einholt. Automatisch ging Dostojewskij in die andere Richtung. Beppo rief ihn an: „Signore!“ Der Signore erschrak und ging weiter. Beppo rief lauter. Dostojewskij ging schneller.
„Si – gno – re!“
Er blieb stehen und drehte sich um, nur um dem Rufen ein Ende zu machen, die Leute schauten schon.
„La Posta!“, schrie Beppo aus der Ferne und bewegte die Arme wie ein Albatros seine Flügel. Mit einer kleinen eckigen Handbewegung verneinte Dostojewskij. Es musste auch noch etwas anderes in Venedig geben, als hinter dieser Kugel herzulaufen. Er kannte die Anhänglichkeit solcher Dienerseelen, wie er sie bei sich nannte, gut. Wenn er jetzt nicht hart blieb, hätte er ihn die nächsten zwei Tage am Hals. Zerhackte noch zweimal verneinend mit der Hand die Luft und ging weiter. Doch da hatte ihn Beppo schon eingeholt und redete auf ihn ein, etwas von der Uhrzeit und chiusura, da blieb Dostojewskij stehen, schaute ihn so streng wie möglich an und sagte in seinem besten Italienisch: „No.“
Beppo duckte sich weg, als wiche er einem Hieb aus und fragte, die Hände ineinander verschränkend wie zum Gebet: „Più tardi?“
„Demain“, brummte Dostojewskij und ließ ihn stehen.
„Deh, pensa che domani!“, sang Beppo in seinem Rücken im Falsett und winkte, als der Weitergehende kurz zurückschaute, wehmütig wie eine zurückgelassene Geliebte.
Dostojewskij bog die nächste Straße links ab, um aus seinem Blick zu sein. Nach fünfzig Metern kam er an einen Kanal, an dessen noch sonnenbeschienenen Ufer Männer vor einem Lokal in Gruppen Schlange standen. Sie hatten alle Gläser in der Hand. Doch sie standen nicht an, sah er nun, sie waren der aus dem Lokal sozusagen herausquellende Teil einer darin noch viel größeren Menge, und sie taten nichts als debattieren, trinken und rauchen. Einige lachten auch, doch die Stimmung war gespannt, geladen wie bei einer politischen Versammlung oder gar dem Treffen von Aufwieglern, wie er sie gut kannte. Aber auf der Straße? Es waren allesamt Italiener. Als er näher kam, verstummten die ersten, als er fast an der Türe war, über der Schiavi stand, schwiegen die meisten und sahen ihn prüfend an. Er fand es besser, sie nicht herauszufordern und seinen Durst zu unterdrücken, brummte eine Entschuldigung und ging den langen Kanal hinunter in die Richtung, aus der er Segel in der Sonne blitzen sah. Am anderen Kanalufer lagen Gondeln im Trockenen wie gestrandete schwarze Wale, und er staunte, wie groß sie außerhalb des Wassers waren. Es mochte ein Dock oder eine Werkstatt sein, ein Mann stand im Unterhemd und trug Farbe auf. Das Haus daneben wirkte eher wie eines in den Schweizer Bergen.
Der Kanal mündete in einen ungleich größeren, der eine Hauptwasserstraße Venedigs sein musste. Das Ufer war eine breite Promenade, auf der es zuging wie in einer deutschen Kleinstadt am Sonntag: Offiziere saßen in langen weißen Mänteln an Tischchen im Freien, aßen Kuchen und Eis und tranken Likör, andere Uniformierte patrouillierten steif Freizeit spielend auf und ab. Die meisten sprachen Deutsch in langgezogenen, irgendwie gepressten oder geknautschten Vokalen und mehr durch die Nase als durch den Mund. Das waren wohl die Österreicher. Dostojewskij wusste, dass Venedig seit Längerem zu deren Monarchie gehörte und staunte, welch andere Welt sich hier behauptete als einen Kanal weiter vor dem Lokal der Italiener. Aber gespannt war die Atmosphäre auch hier, obgleich sie von der selbstgefälligen Sicherheit einer generationenalten Herrscherdynastie überdeckt war. Wie lange schon war Venedig nicht mehr frei? Und war nicht das übrige Italien seit einem Jahr geeint? Tatsache war, dass Russland den Österreichern gegen die Aufständischen geholfen hatte. Dafür hatte sich dann Österreich im Krimkrieg gegen Russland gestellt. Und aus der Freundschaft der beiden Staaten war etwas Feindseliges geworden. Er hatte keine Lust, in dieser Gesellschaft, die ihn an eine der von ihm verabscheuten Operetten erinnerte, etwas zu trinken und ging auf die Sonne zu.
Die brannte, wenn auch tiefer stehend, unvermindert auf die Boote und Gondeln der breiten Wasserstraße zwischen Venedig und einer großen Insel, von der nicht klar war, ob sie noch dazugehörte. Schutz suchend, bog Dostojewskij in eine Gasse und ging, wieder weg vom Wasser, stadteinwärts. Aber gab es hier überhaupt ein Zentrum? Irgendwo musste der berühmte Markusplatz sein. Einmal abgebogen, war man sofort allein mit den „Steinen von Venedig“, über die er bei Ruskin so viel gelesen hatte. Für dessen Satz, dass die schönsten Dinge auf der Welt die nutzlosesten seien, würde er ihm ewig dankbar sein. Passend dazu schickte eine Lilienhecke ihren betörenden Duft voraus, noch bevor er sie sah. Vor einem Haus saßen alte Frauen und schnitten Gemüse. Dostojewskij grüßte sie stumm. Sie erwiderten mit verhaltenem Staunen. Dann wieder stille Kanäle, fragile Brücken, Wäsche, Lichtreflexe in Fensterscheiben. Eine Kirchenglocke von weither. In einem winzigen Geschäft, in dem es nach Schokolade roch, kaufte er Kerzen, Streichhölzer, Zucker und Tee. Und, dem Geruch nachgebend, eine kleine Tafel Schokolade. Ein Trupp Soldaten kündigte ihm den Eintritt in eine belebtere Gegend an. Vielleicht würde er hier etwas zu trinken bekommen. Ein weiter Platz öffnete sich vor ihm, doch konnte das nicht der Markusplatz sein, den kannte er von Darstellungen, auch fehlte der Dom. Der „Campo Santa Margherita“ – diesen Namen las er nun auf einer Tafel – war weniger repräsentativ als volkstümlich und schien eher den Italienern zu gehören. Es gab weniger Uniformierte, dafür viele Kinder, die mit zu Bällen gebundenen Lederfetzen spielten oder Scharen von Tauben nachliefen, sie fütternd und verjagend in einem. Die Menschen hatten alle Stimmen wie Sänger, mit dem Zwerchfell gestützt und selbst auf Abstände von zwei, drei Metern so „gesendet“, als müssten sie damit den vierten Rang eines Opernhauses erreichen. Da sie das von klein auf taten – die Kinder schrien ihre Eltern so an, dass sie in Russland dafür Ohrfeigen bekommen hätten –, waren ihre Stimmen offen und sangesrein und zugleich rau, rau wie es die Stimmen der Russen vom ungestützten, im Rachen sitzenden Reden und, manchmal, vom Wodka wurden.
Obgleich sein Durst inzwischen schwer erträglich war, ging Dostojewskij an den nicht wenigen Lokalen vorbei, über den Platz hinaus und über eine Brücke und stand auf einmal vor dem Portal einer vollkommen schmucklosen Kirche. Vergeblich drückte und zog er an der Tür, sie war verschlossen. Und würde es wohl zumindest für heute bleiben. Außer, es gäbe später noch eine Messe. Er beschloss, sich den „Campo San Pantalon“ einzuprägen und wiederzukommen. Von einem Heiligen dieses Namens hatte er noch nie gehört, Pantalone kannte er bloß als eine Figur aus der italienischen Komödie. Und es war das französische Wort für „Hose“. Er ging zurück auf den großen Platz. Ein herrenloser Fußball kam ihm entgegengerollt. Als er sich bereits freute, ihn zu den spielenden Kindern in zwanzig Meter Entfernung, die ihn verschossen hatten, zurückzubefördern, ja schon stehen blieb und sein Gewicht auf das linke, das Standbein verlegte, rannte ein Junge schnell auf ihn zu, als liefe er um sein Leben, um den Ball nur ja nicht der Berührung durch den fremden Mann preiszugeben, und im allerletzten Moment stoppte er die Kugel mit der Schuhspitze und versetzte ihr gleich darauf, als Dostojewskij schon den rechten Fuß zum Schuss gehoben hatte, einen Stoß mit dem Absatz und brachte ihn so zu den Mitspielern zurück und Dostojewskij, der durch die fehlende Schussbewegung das Gleichgewicht verlor, ins Taumeln und fast zu Fall. Eine Gruppe junger Mädchen ging vorbei, alle schwarzhaarig und hübsch, eine sagte etwas auf Italienisch und alle lachten. Nun war es genug. Er musste einkehren. Da er in Florenz ein einziges Mal gut gegessen hatte und das in einer Osteria gewesen war, trat er in ein Lokal dieser Bezeichnung auf der Schattenseite des Platzes.
Es war noch früh, und das Gasthaus fast leer. An der Schank stand ein alter Mann mit Klappe über einem Auge. Mit dem anderen schaute er den Gast neugierig an. Der fragte, ob er Tee bekommen könne. „Tè“, wiederholte der Alte ohne Ausdruck. Und wies mit einem Spültuch auf die langen ungeschmückten Holztische, die parallel zueinander, von lehnenlosen Bänken getrennt, vom Fenster neben dem Eingang bis in die Tiefe des Lokals aufgestellt waren wie zu einem Volksfest. Dem Fenster zugewandt saß ein Mann alleine mit einer Flasche und einem Glas. Ein Zopf geflochtener Haare fiel ihm über den Rücken. Dostojewskij setzte sich drei Tische dahinter und schaute an dem Mann vorbei auf die milchige Scheibe, die keinen Blick durchließ und wenig Licht. Das kleine Päckchen aus dem Geschäft legte er neben sich. Er fühlte sich schwach und fürchtete, seine Schlaffheit könne einen neuen Anfall ankündigen. Morgen musste er zur Post. Den Markusplatz besuchen und übermorgen nach Hause abreisen. „Ich eile aus den Alpen in die Ebenen Italiens“, hatte er vor ein paar Wochen Strachow geschrieben. „Ach! Ich werde Neapel sehen, nach Rom gehen, eine junge Venezianerin in der Gondel liebkosen …“ Diese von Puschkin gestohlenen Aussichten hatten den Freund wohl veranlasst, sich der Reise anzuschließen. Von der Euphorie war wenig übriggeblieben. Herrgott, dachte er, und wie viel ich mir von dieser Reise versprochen habe. Auf den Tee wartend, trommelte er leise mit den Fingern auf der Tischplatte.
„Die Kirche bleibt heute geschlossen“, hörte er eine Stimme auf Russisch sagen. Er erstarrte. Sie konnte nur von dem Mann vor ihm kommen, der regungslos mit dem Rücken zu ihm saß. „Trinker haben Augen nach hinten“, hatte er vor Wochen in London notiert (wo es mehr als genug Anschauungsmaterial gegeben hatte). Der Mann drehte sich abrupt um. Das längliche Gesicht war vollkommen weiß mit roten, glühenden Backen und schwarzen, glasigen Augen. Der wie zu einer Fratze verzerrte grinsende Mund trug kaum Zähne, und die waren beinahe schwarz, einer golden. Die zum Zopf geflochtenen Haare entsprangen den letzten bewachsenen Stellen über den Ohren, ansonsten war der Schädel kahl.
„Woher wissen Sie …?“
„Man kennt sich doch“, sagte der Mann nur. Der Tee kam. Dostojewskij hatte längst gelernt, dass in Europa keine Samoware benutzt wurden. Der Tee, das merkte er gleich, war dünn und lauwarm, die Kanne nur wenig über halbvoll. Dafür konnte er den schlimmsten Durst sofort stillen. Der Mann hatte sich wieder seiner Flasche zugewandt.
„Die Verpflegung in Gefängnissen ist nicht besser“, sagte er jetzt zum Fenster hin, doch wieder so, dass es für den hinter ihm gemeint war. Sein Russisch war gut, nur die zu deutliche Artikulation verriet den Italiener.
„Vor allem, wenn die Herrscher keine Kultur haben.“ Er schenkte sein Glas voll. „Haben sie Kultur? Nein. Die Deutschen haben die Kartoffel, sonst nichts.“ Er kicherte und trank einen kleinen Schluck Wein. Dostojewskij schaute ernst, was bei ihm vieles heißen konnte, viel Gegensätzliches, manchmal, dass er etwas zum Lachen fand. Auch in Russland war die Kartoffel Synonym für deutsche Küche und deutsches Wesen. „Fad wie eine Kartoffel“ war eine beliebte Redewendung.
„I tedeschi“, deklamierte der Mann. „Ein Trauerspiel in keinem Akt.“ Und kicherte wieder. „Die Totengräber Venedigs“, sagte er auf einmal sehr ernst. „Die Schergen Napoleons. Napoleon hat Venedig umgebracht, die Deutschen begraben es. Noch nie haben sie eine so schöne Kulisse für ihre schrecklichen Pompes funèbres gehabt. Haben Sie gewusst, dass sie Venedig beschossen haben?“, damit drehte er sich wieder um. „Venedig beschossen“, wiederholte er mit der italienischen Geste, die drei Finger jeder Hand wie zu einer Blüte formt, um das Gesagte hervorzuheben. „Auch aus der Luft!“ Eine Hand fuhr in die Höhe. „Natürlich erst von der terraferma aus, von Mestre, dreiundzwanzigtausend Geschosse, drei Wochen lang. Bumm – bumm! Auch die Rialto-Brücke: bumm – getroffen. Aber dann kamen sie aus der Luft. Das hat es noch nie in der Geschichte gegeben. In der Weltgeschichte! Ein Luft-Angriff! Auf einmal zogen am Himmel, am heitersten venezianischen Himmel wie von Canaletto gemalt, Ballone auf mit Flammen, sichtbaren Flammen, hundert Heißluftballone, die Brandbomben mit Zeitzündern über die Stadt trugen, Bomben für die Kirchen von Palladio, für die Bilder von Tintoretto, Bomben! Was für Barbaren! Und rechnen können sie auch nicht. Sie haben die Explosionszeit falsch eingestellt. Keine einzige der hundert Bomben wollte über der Stadt zerplatzen. Sie flogen über unsere Köpfe dahin ins Meer, und einige nach Osten aufs Festland und da fielen sie auf ihre eigenen Leute. Che farsa!“ Er klatschte in die Hände wie zu einem gelungenen Schauspiel. „Werr andern aina Gruba gräbt“, sagte er in gespreiztem Deutsch und lachte. „Trotzdem haben sie Venedig erobert. Und wie?“
Dostojewskij schaute verloren in die verlebte Gesichtslandschaft.
„Sie haben uns ausgehungert. Belagert und ausgehungert. Alte Frauen haben angefangen, ihre Katzen zu essen. Im Arsenale hat man von Menschen angefressene Leichen gefunden. Was sollten wir tun? Der Hunger und die Seuchen hätten uns alle getötet. Also haben wir uns der ‚Kulturnation‘ ergeben. Die schöne Utopie von achtundvierzig war vorbei, der Aufstand niedergeschlagen und Venedig wieder in Ketten.“
Er kehrte sich zu seinem Wein, hob das Glas und rief ein deutsches „Prost“ mit rollendem „r“ und durch die Nase gepresstem langen „o“ dem Fenster zu und trank sein Glas leer.
Dostojewskij hätte gerne noch Tee bestellt, aber der Einäugige war in einem Nebenraum verschwunden und er allein mit dem zornigen Mann, der sich nun wieder ganz seinem Wein hinzugeben schien. Während seiner Erzählung hatte er ihn an Petraschewskij erinnert, den Anführer jenes Petersburger Zirkels, mit dem er wegen „antizaristischer Umtriebe“ verhaftet und verurteilt worden war. Zar Nikolaj hatte Angst gehabt, dass die revolutionären Strömungen Europas von achtzehnhundertachtundvierzig auf Russland übergreifen könnten und war mit aller Härte gegen Gruppierungen wie die Petraschewskijs vorgegangen, wo man verbotene Bücher und Zeitungen las und Ideen einer sozialeren, humaneren Gesellschaft diskutierte. Manchmal war Dostojewskij einer der hitzigsten gewesen. Als er gefragt worden war, was geschehen solle, wenn etwa die Bauern nicht anders als durch einen Aufstand befreit werden könnten, hatte er gerufen: „Dann eben durch einen Aufstand!“ Und war dabei so erregt gewesen, dass er mit einer roten Fahne hätte auf die Straße rennen können. Später erfuhren sie, dass ein Spion ein Jahr lang alles mitgeschrieben hatte, Wort für Wort, in langen Berichten, auch die harmlosesten Schülerscherze. Aber natürlich waren ihre Zusammenkünfte nicht harmlos gewesen. Die Abneigung der russischen Intellektuellen jener Zeit gegen die bestehende Ordnung war radikal gewesen. In den Theatern sahen sie „Die Räuber“ und „Wilhelm Tell“ und trugen den Freiheitsruf auf die Straßen und in die Paläste und an die Ohren des um seine Macht fürchtenden Zaren. Und aus dem Kadetten der Pionieroffiziersschule Fjodor Michailowitsch Dostojewskij war erst ein bummelnder Student, dann ein freier Schriftsteller und revolutionärer Freidenker und schließlich ein Gefangener in der Peter-und-Paul-Festung geworden, der acht Monate auf seine Verurteilung wartete.
„Tausend Jahre!“ Der Zopfträger vor ihm war wieder so weit, dass sein offenbar fortwährender innerer Monolog nach außen schwappte. „Tausend Jahre Glanz und Glorie. Beherrscherin des Mittelmeers. Weltmacht. Dabei hat Venedig Politik im Grunde nie interessiert. Ja, unsere Flotte war stark, aber im Wesentlichen dachten wir: Sollen die anderen sich gegenseitig die Köpfe einschlagen, die Waren, die wir aus der Welt holten und umverteilten, brauchen diese und jene. Venedig handelte mit allen, die zahlen konnten, immer schon, und es war ihr völlig egal, ob es um Pfeffer, Safran, Baumwolle, Perlen, Käse, Stockfisch oder Sklaven ging, das Geschäft blühte, und die Gesellschaft blühte mit. Alle hatten Arbeit, alle hatten zu wohnen, zu essen, zu trinken, Venedig war der reichste und zugleich humanste Staat der Welt! Und regiert wurde sie … von uns!“
Damit drehte er sich wieder zu Dostojewskij – der überlegte, gegen die Bezeichnung „human“ für eine Gesellschaft, die mit Sklaven handelte, Einspruch zu erheben – und zeigte zum ersten Mal eine reine Schönwetterphase seines Gesichts, das dadurch ohne Falten war, glatt, strahlend und heiter wie die Geschichte der „Heitersten“, der „Serenissima“, von der er erzählte. „Wir waren Venedig. Die Nobili. Eine Handvoll adeliger Familien. Unsere palazzi prägten die Stadt, wir holten die besten Baumeister für unsere Kirchen, die größten Künstler, sie auszuschmücken. Und eigentlich gab es etwas, das uns wichtiger war als der Handel mit Indien, China und der uns immer weit entfernten, fremden ‚Neuen Welt‘, wichtiger selbst als das enorme Geld, das aus unseren Geschäften floss: das Vergnügen! Wofür arbeitest du, außer um dich mit dem Verdienten zu vergnügen. Etwas, das die Deutschen nie verstehen werden. Sie werden, je reicher sie sind, umso noch griesgrämiger. Wir hatten die ersten Kaffeehäuser – sie waren die ganze Nacht offen –, mehr Theater als in Paris, Karneval von Oktober bis zur Fastenzeit, und mehr Spieltische als in jeder anderen Stadt. Il banco und Il casino – beide in Venedig entstanden. Aus dem Tisch zum Geldwechseln wurden die großen Bankhäuser, aus dem „kleinen Haus“ der Adeligen für private Plaisirs die prächtigen Spielhallen. Und die schönsten und gelehrtesten Frauen wurden als Kurtisanen geachtet und verehrt – und bezahlt. Oh, es war so, wie es mein Großonkel Charles aus Vincennes einmal betont hat: Wer nicht vor der Französischen Revolution gelebt hat, weiß nicht, was Glück ist.“
Dabei hielt er beide Handflächen offen vor sich, als habe er nicht mehr zu bieten als diese schlichte Weisheit – oder als wolle er seinen Zuhörer zum Tanzen einladen.
„Im Karneval war alles erlaubt“, fiel er auf einmal in ein verschwörerisches Wispern, „Männer in Frauenkleidern, Frauen in Männerkleidern … samt den dazugehörigen Konsequenzen …“
Dostojewskij sah betreten in seine leere Teetasse und dachte wieder an Petraschewskij, der einen Gottesdienst in der Isaakskathedrale in Frauenkleidern besucht und kichernd Kerzen entzündet hatte – er selbst konnte bei aller revolutionären Gestimmtheit solchen Spott nicht dulden und hatte sich sehr darüber geärgert.
„Fünfzig Jahre haben gereicht, um alles zu zerstören. Erst kam Napoleon und hat den Karneval verboten. Die Aristokraten entmachtet, den Dogen vor Gericht gestellt und das prächtige Staatsschiff, auf dem dieser sich symbolisch mit dem Meer vermählt hatte, verbrannt. Als die Österreicher anrückten, atmeten viele auf, aber es kam noch schlimmer. Sie schlugen die Menschen mit der Wehrpflicht und rigiden Steuern. Und da der Karneval schon abgeschafft war, verboten sie das Glücksspiel. Anders als Napoleon brachten sie ihre Gegner einfach um. Venezianische Intellektuelle waren verdächtig und wurden reihenweise zum Tod verurteilt. Und wie sich Folterknechte abwechseln, um dem Delinquenten keine Ruhe zu geben, schritt daraufhin wieder Napoleon ans Werk. Kastrierte den Adel noch mehr, machte aus Kirchen Exerzierplätze und schloss die scuole, die wohltätigen Häuser der Bruderschaften. Damals konnten die Venezianer ihre Stadt noch ohne österreichischen Pass verlassen, Häuser und Paläste verfielen, die meisten Geschäfte wurden geschlossen, dafür stand die Statue des kleinen Korsen groß auf dem Markusplatz. Er selbst überließ uns, nachdem er alles vernichtet hatte, wieder den Deutschen. Er hatte Wichtigeres zu tun. Er ging Russland abschlachten.“
Mit einer dramatischen Pause ließ er das auf seinen russischen Zuhörer wirken. Der nickte. Der Feldzug, zehn Jahre vor Dostojewskijs Geburt, der rund eine Million Russen das Leben gekostet hatte, saß tief im Bewusstsein. Die Familie seiner Mutter war durch den Brand von Moskau völlig verarmt. Dennoch hatte der Name Napoleon für ihn, wie für jeden Russen, einen unerklärlichen Nimbus.
„Dritter Akt, Rückkehr der Kartoffelgesichter. Die Deutschen räumten die Statue weg und gaben uns die Jesuiten zurück. Nun ja.“
„Die Deutschen?“
„Deutsche … Österreicher … allesamt tedeschi. Die Deutschen haben nur die Kartoffel, die Österreicher haben noch den Walzer dazu. Und sie lächeln mehr.“ Er schenkte sich Wein nach und schüttelte den Kopf. „Ihr Lächeln ist nur eine Maske. Mit Masken kennen wir uns aus. Hinter den lachenden steckt oft Angst, hinter den freundlichen Brutalität. Ja, sie haben auch Goethe und Mozart. Aber dem gewöhnlichen Frankfurter oder Salzburger merkt man das nicht an. Genies sind kein Maßstab für eine Nation. Die Österreicher tun ihr Bestes, um Europa mit ähnlichem Schrecken zu überziehen wie Napoleon. Eines Tages wird es ihnen vielleicht gelingen. – Hat man Sie kontrolliert?“
„In Mestre.“
„Würde mich nicht wundern, wenn Sie schon einen Spitzel auf den Fersen hätten.“ Er sah sich im Lokal um, aber da war nur der Wirt, der gerade ein Weinfass hereinrollte. „Die Ordnung“ – das Wort kam auf Deutsch – übersieht keinen. Venedig ist ein Überwachungsstaat geworden. Viele kleine Teufel liefern ihre täglichen Berichte an den Beelzebub in Wien. Und wieder wandern ein paar ‚subversive Objekte‘ in die Bleikammern. Es heißt, dass sich der Polizeidirektor schon einmal gezwungen sah, sich selbst zu denunzieren.“ Er trank, und der Finger, den er zum zuletzt Gesagten an die Stirn gelegt hielt, wurde so zu einem grotesken Trinkgruß.
„Achtzehnachtundvierzig. Der Aufstand. Österreichische Soldaten wurden auf dem Markusplatz mit Steinen beworfen. Im Arsenale revoltierten die Arbeiter, verschafften sich Waffen und Munition. Tapfere Männer. Giaccopo!“, rief er zum Wirt, der aufschaute, und prostete ihm zu: „Viva San Marco!“ Der antwortete leise, fast mechanisch: „Viva San Marco!“ und arbeitete weiter. „Die tedeschi kapitulierten, und auf der Piazza wehte die tricolore. Aber dann kamen die Belagerung, der Luftangriff, das Aushungern. Dreizehn Jahre ist es nun her, es war ein Augusttag, heiß wie dieser, dass zwei Vertreter der neuen ‚Repubblica di San Marco‘ in einer Gondel nach Mestre fuhren und die nun ihrerseitige Kapitulation unterschrieben. Doch die Belagerung hielt an bis vor sieben Jahren. Wissen Sie, was es für einen Gefangenen bedeutet, wenn er kurz die Freiheit gesehen, die Freiheit gekostet hat – und dann wieder eingesperrt wird?“
Dostojewskij reagierte nicht. Er wusste es. Der Andere redete weiter. „Es ist schlimmer als vorher. Du weißt: Jetzt haben sie dich wirklich.“
Plötzlich stand er auf, wodurch zum ersten Mal seine altertümliche, geradezu höfische und erbarmungswürdig abgerissene Kleidung sichtbar war, setzte sich aber sofort wieder und sprach leise auf sein Glas hinunter, das er in den feinen, langfingrigen Händen hielt wie eine Kerze im Gebet: „Meine Familie reicht weit zurück und über den ganzen Kontinent, von den Pyrenäen bis an den Ural. Unsere palazzi waren die festlichsten am Canale. Heute siehst du meinesgleichen als Gondolieri arbeiten. Gräfinnen verdingen sich als Putzfrauen. Um uns irgendwie bei Laune zu halten, schenkt uns der Kaiser in Wien täglich zwei ‚Svanzica‘, diese neue Habsburger Währung in Venedig. Gnadenbrot für die Nobili! Eine Schande!“
Dostojewskij verstand nun Beppos Reaktion auf die Münze. Sie war nicht zu wenig, sondern zu viel gewesen. Und vor allem: ein falsches Symbol.
„Wir hassen die Österreicher aus vollem Herzen.“ Nun schaute der Redende gerade vor sich hin, weniger eine Mitteilung als ein Bekenntnis formulierend. „Sie sprechen kein Italienisch. Wir kaum Deutsch. Es gibt keinen Austausch zwischen uns und den Kroaten, Ungarn, Böhmen, aus denen ihre Garnisonen bestehen. Keine Berührung. Sie leben in derselben Stadt, aber als unsere Herrscher. Jeden Tag, jeden Moment begegnen wir ihnen auf den Plätzen und streifen an sie in den engen Gassen, aber wir sind getrennt von ihnen wie der Sträfling von seinem Kerkermeister. Wir hassen sie. Kein Venezianer, der nicht den Tag ersehnt, an dem Venedig wieder frei wird. Eine italienische Stadt.“
Nun drehte er sich um, seiner Flasche zu, dem milchigen undurchsichtigen Fenster, seinem Alleinsein. Dostojewskij nahm an, dass er ihn wahrscheinlich jetzt schon vergessen hatte. Doch da schickte er ihm noch einen Satz über die Schulter: „Schafe und Wölfe sollen nicht aus einem Fluss trinken“, sagen wir in Italien. Und kichernd wie zu Beginn schenkte er den Rest aus der Flasche in sein Glas, roch daran, als wäre es sein erstes und nippte wie ein Mann, der Maß zu halten gewöhnt ist.
Als Dostojewskij in die Hitze des Abends trat, befielen ihn Übelkeit und Magenschmerzen. Im nächstbesten Restaurant, in das ihn ein draußen paradierender Kellner nötigte, aß er ein Stück Fleisch mit goldbrauner Ummantelung, das aussah wie eine unter Wagenräder gekommene Kiewer Hühnerbrust ohne Füllung, einen ungenießbaren Pudding und ein Stück schimmeligen Käses und trank ein Glas zu warmen Weißwein. Zudem unterhielten sich die Gäste an den Nebentischen derart laut, dass er sich fortwährend ärgerte und die ganze Zeit nur darauf wartete, wieder wegzukommen. Die Rechnung war unverschämt hoch. Schimpfend verließ er das Lokal.
Am Platz, der noch immer voll Menschen war, sah er sich automatisch nach einem Wagen um, der ihn hätte nach Hause bringen können. Natürlich gab es keinen. Also ging er los in die Richtung, aus der er gekommen war. Dostojewskij ging nicht gerne zu Fuß. Was ist hier nur los?, dachte er. Es ist zehn Uhr, und das Leben tobt in den Straßen so ausgelassen wie in Petersburg in den weißesten Nächten nicht. Als keine Ausnahme nämlich, sondern als etwas Grundsätzliches, das keinen Widerspruch und keine Infragestellung duldet. Auf einmal fand er sich auf der anderen Seite des Kanals, an dem sein Abend begonnen hatte, gegenüber dem Lokal Schiavi, das jetzt mit Holzklappläden verschlossen recht abweisend aussah. In einiger Entfernung erkannte er das Haus der Gondelwerkstatt, hinter sich im Dunkeln die Fassade einer Kirche. Erst jetzt fiel ihm der Campo San Pantalon ein, nun war er zu weit. Auch die Kirche hier war versperrt. Auf dem grasbewachsenen Vorplatz setzte er sich auf eine Bank. Büsche von Oleander verströmten ihren süßen Duft und mischten sich mit dem Geruch der Algen aus dem Kanal. Ihn irritierte, dass es so spät noch so warm und dabei schon so dunkel war. Nächtliche Wärme war für ihn automatisch mit Helligkeit verbunden. War es wirklich Sehnsucht nach Sankt Petersburg gewesen, was er heute Mittag im Schwall der Salzluft empfunden hatte? Er war Russe, da war der Verdacht auf Heimweh schnell bei der Hand. Aber nach Sankt Petersburg? Für ihn war es – wie oft hatte er es sich gesagt, seit er dort lebte – die finsterste, mürrischste, grämlichste Stadt der Welt. Ihr Klima gebar Halbverrückte. Selten wo fand man so viel schwermütigen Einfluss auf die menschliche Seele wie dort. Auf Sumpf gebaut war sie, und der Sumpf quoll im Winter durch die Straßenpflaster und holte sich, als harmlose tauende Eispfütze getarnt, seine Opfer und zog sie unrettbar in die Tiefe. Die Architektur der größten russischen Stadt drückte für Dostojewskij ihre ganze Charakterlosigkeit und Unpersönlichkeit aus. Kein Drittel der halben Million Einwohner war von dort gebürtig. Und es starben jedes Jahr mehr, als geboren wurden. Von Oktober bis April herrschte Winter, der nicht bloß kalt war wie in Sibirien, sondern feucht und beißend. Der ewige Wind trieb heimtückische, aggressive Luft in jede Fenster- und Mantelritze, vom zu leicht bekleideten Betreten eines frisch gelüfteten Zimmers konntest du dir den Tod holen. Dieses klamme Verließ des Winters zeugte skeptische, verschlossene, griesgrämige Naturen; an einem halben Tag in Venedig hatte er mehr offenes Lachen in den Gassen gehört als zu Hause in einem halben Jahr. Und dorthin sollte er sich sehnen? Wegen seiner Frau etwa?
Er seufzte, öffnete sein Päckchen und zog die kleine Schokoladentafel heraus. Sie war vollkommen aufgeweicht. Trotzdem gelüstete ihn danach, und er schälte das Papier von der cremigen Masse. Seine Frau konnte, des Klimas wegen, den Großteil der Zeit nicht in Petersburg leben. Sie war krank, die Tuberkulose war kurz nach ihrer Hochzeit ausgebrochen, bald nach ihrer grauenvollen Hochzeitsnacht, in der er sie mit einem gewaltigen epileptischen Anfall zu Tode erschreckt und für immer von ihm entzweit hatte. Seit fünf Jahren lebten sie nun als sich zusehends entfremdendes Paar mit Pascha, ihrem Sohn aus erster Ehe mit einem Mann, der sich in Sibirien zu Tode getrunken hatte. War ihre Ehe nun ein Irrtum? Marija Dmitrijewna, ein wenig jünger als er, extravagant und launenhaft, war zweifellos dieser Ansicht. Mit Mühe hatte er sich gegen einen Rivalen durchgesetzt, den sie in der ersten Zeit nach der Heirat als Geliebten behalten hatte. Der Ehe hatte sie erst zugestimmt, als sicher war, dass Dostojewskij aus der sibirischen Verbannung nach Petersburg zurückkehren und sie durch ihn in die Hauptstadt ziehen dürfe. Dort war sie dann enttäuscht gewesen, dass sie wie neben einem Geist spazieren ging, den keiner kannte. Nach zehn Jahren Abwesenheit musste er sich selbst erst wieder einleben und in Erinnerung bringen. Wie hatte er diese Frau geliebt und begehrt. Doch bald war ihm klar geworden, dass für ihn als Dichter das Familienleben eine Last war. Und heute, während er unter südlichem Himmel auf einer Bank saß und die schmelzende Schokolade aus ihrer Papierhülle leckte, musste er sich zum ersten Mal eingestehen, dass er die falsche Frau geheiratet hatte. Und wie um sich zu trösten, lenkte er, als er mit spitzer Zunge gierig die letzten Ritzen der Verpackung auf Schokoladenreste untersuchte, die Gedanken auf die erst zweiundzwanzigjährige Dichterin Apollinaria Suslowa, Kämpferin in Frauenfragen und für viele der Inbegriff einer femme fatale, die seit zwei Jahren, seit sie ihm bei einer Lesung zugehört hatte, seine Geliebte war.
Dostojewskij hätte gerne noch Tee getrunken, aber im Hotel war alles finster und in seiner Dependance schien es kein eigenes Personal zu geben. Er musste morgen um eine Kanne mit Spirituslampe fragen. In seinem Zimmer fühlte er sich äußerst niedergeschlagen und fürchtete einen Anfall für die Nacht. Am liebsten hätte er sich so, wie er war, aufs Bett geworfen. Aber gewohnheitsmäßig hatte er noch ein paar Dinge zu erledigen. Er zog den Rock aus und bürstete ihn gründlich durch, ehe er ihn mit der übrigen Kleidung in den Schrank hängte. Er machte seine jeweils dreimal fünf Kniebeugen und Liegestütze. Er wusch sich und putzte die Zähne. Er zog das Nachthemd an. Er prüfte, ob die Türe gut verschlossen war, schob ächzend die schwere Kommode in kleinen Rucken davor und stellte den Koffer darauf. Er setzte sich aufs Bett und betete. Er öffnete das Fenster weit und schaute in die Nacht, die auch hier ein wenig nach Salz und sehr nach Oleander roch. Alles schien zu schlafen. Er zündete die Kerze an und setzte sich an den Schreibtisch, wählte die härteste, schärfste seiner Schreibfedern, legte sich ein dickes Blatt Papier mit Linien vor, öffnete das Tintenfass, tauchte die Feder ein und schrieb in kleinen, wohlgesetzten Lettern: „Heute kann ich in einen lethargischen Schlaf fallen, deshalb soll man mich nicht vor drei Tagen beerdigen.“
Nachdem er noch etwa eine halbe Stunde in seinen Skizzen geblättert und gelesen hatte, stellte er die Kerze auf den Nachttisch und legte das beschriebene Blatt daneben. Da er es gewohnt war, auf dem Sofa hinter seinem Schreibtisch mit dem Kopf auf der Armlehne zu schlafen, türmte er so viele Kissen, wie er finden konnte, auf, legte sich hin, wickelte sich zweimal in die freie Hälfte des Leintuchs, bedeckte seine Füße mit der zusammengelegten Tagesdecke und zog das Leintuch zuletzt über den Kopf wie eine Kapuze. Dann lehnte er die Fensterflügel aneinander und blies die Kerze aus.