Читать книгу Orangen für Dostojewskij - Michael Dangl - Страница 8

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Anfang August, gegen Mittag, bei großer Hitze, fuhr ein Zug der lombardisch-venezianischen Eisenbahn mit hoher Geschwindigkeit auf Venedig zu. Am Fensterplatz eines vollbesetzten Sechserabteils saß in Fahrtrichtung ein Mann mit bleichem, unausgeschlafenem Gesicht, ein Schriftsteller, der einmal als literarische Hoffnung seines Heimatlandes Russland gegolten hatte und manchen noch galt, wiewohl seine ersten Erfolge nun schon einige Zeit zurücklagen, er im Westen völlig unbekannt und nicht mehr ganz jung war. Er war vierzig und hieß Fjodor Michailowitsch Dostojewskij.

Den Alleinreisenden mit ordentlich frisierten, an der Stirn sich lichtenden und an den Ohren widerspenstig abstehenden Haaren und krausem Vollbart plagte schon seit Längerem ein Hustenreiz, dem er durch wiederholtes Hüsteln in die Faust Herr zu werden suchte, und er lechzte danach, auszusteigen und etwas zu trinken. Der Tee am Mailänder Bahnhof war so heiß gewesen, dass er ihn aus Angst, den Anschlusszug zu versäumen, stehen gelassen hatte. Bahnreisen waren ihm langweilig, und am liebsten wäre er hinausgesprungen und seitwärts neben dem Waggon einhergelaufen. Die Fahrt von Florenz bis Mailand und nun hierher war umständlich gewesen, doch trotzdem und trotz der stickigen Hitze war sein weißer Kragen hochgeschlossen, saß die halstuchartige kurze Krawatte, wo sie zu sitzen hatte, waren graue Weste und schwarzer Gehrock zugeknöpft und wirkte die helle Hose an den korrekt übereinandergeschlagenen Beinen wie frisch gebügelt.

„In Omsk die Sonne geht auf um vier Uhr.“ Überflüssige Bemerkungen seiner Reisegefährten über die Fülle der Sonnenstunden in Italien hatten ihn zu diesem Satz veranlasst, seinem ersten auf der mehrstündigen Fahrt, den er, um besonders dem Berliner Ehepaar ihm gegenüber eins auszuwischen, auf Deutsch formulierte. Trotz langen vorhergehenden Nachdenkens und des Durchspielens verschiedener Varianten wusste er, dass irgendetwas an der Wortstellung falsch war, wie immer, wenn er sich zu einem Satz im Deutschen, das er nur schlecht beherrschte, aufschwang. Im Russischen war alles möglich: „In Omsk um vier Uhr geht die Sonne auf“, „Um vier Uhr in Omsk die Sonne geht auf“, sogar „Aufgeht die Sonne um vier Uhr in Omsk“ war möglich, doch das Deutsche verlangte wie alles in Deutschland Pünktlichkeit und Genauigkeit, und es gab nur eine Lösung, und wer die nicht traf, war blamiert und hatte verloren.

Er wusste nicht, ob die Stille, die dem Satz folgte, dem Inhalt oder der Grammatik galt, und zum Glück wurde sie durch einen lauten Pfiff des Zuges beendet. „Venezia-Mestre“ stand draußen; „Mestre“ bedeutete sicher so etwas wie „Zentrum“, dachte Dostojewskij, sprang als Erster auf, nahm seinen Koffer aus dem Gepäcknetz und verließ das Abteil, wobei er einem Engländer, der an der Tür saß, auf den Fuß trat. Auf dem Perron musste er feststellen, dass niemand außer ihm aus-, vielmehr einige in den schon vollen Zug einstiegen, und er wandte sich an einen neben ihm stehenden Uniformierten.

„Venezia?“, fragte er heiser und zu leise, denn der Beamte musterte ihn argwöhnisch und antwortete mit einer Gegenfrage, überraschenderweise auf Deutsch und noch dazu mit einer seltsamen Vokalfärbung:

„Wos?“

„Venezia?“

„Venezia-Mestre.“

„A Venezia?“

Der Uniformierte, der, wie er jetzt sah, kein Bahnbeamter, sondern ein Polizist war, da er einen Säbel an der Seite trug, zeigte in die Richtung, in die der Zug weiterzufahren sich eben anschickte, und stieß dazu ein „Do!“ aus. Dostojewskij sprang im letzten Moment wieder auf. Die neu Eingestiegenen, allesamt Herren in dunklen Anzügen, entpuppten sich als Polizisten in Zivil und forderten von den Reisenden Einsicht in deren Pässe. Auch der leise vor sich hin schimpfend in den Zug zurückgekehrte Russe musste seinen vorweisen, ehe er das Abteil wiederfand, den Koffer schwer atmend ins Netz hob und etwas Unverständliches in sich hineinbrummend Platz nahm. Beim Betreten des Coupés war er dem Engländer erneut auf den Fuß gestiegen, und nun konnte man nicht ausschließen, dass es ihm nicht nur nicht entgangen, sondern – und schon beim ersten Mal – Absicht gewesen war.

Mürrisch blinzelte er auf die sonnenfunkelnden Wasserflächen, die sich bald rings um den Zug auftaten. Während die Anderen sich die Hälse verdrehten, in Begeisterungslauten ergingen und die zwei Deutschen sich mit dem Wissen großtaten, dass es in Venedig seit drei Wochen nicht geregnet hätte und das Wasser knapp würde, blieb er die ganze Fahrt über den Damm regungslos und dachte an die vergangenen zwei Monate seiner Reise, seiner allerersten nach Westeuropa, die mit Venedig ihre letzte Station erreichte. Am siebten Juni von Petersburg nach Berlin gekommen, war er erst wie besessen durch Deutschland gerast, jeden Tag in eine andere Stadt, bis sich seine Aufenthalte in Paris, London und Genf verlängerten und er erst vor eineinhalb Wochen Italien betreten hatte. Dabei war die ganze Zeit, verstand er beim Schauen auf die Sandbänke der seine Augen blendenden Lagune, Venedig als geheimes Ziel vor ihm gestanden, und jetzt, da es immer näher kam, schien es, als habe er der Sehnsucht nach diesem Ort, die von frühester Jugend, ja seit seiner Kindheit in ihm gewesen war, einen Verweis erteilen wollen mit den neun Wochen des Kreuz-und-Quer durch Europa, um ihr nicht die Macht zuzugestehen, die sie vielleicht in ihm hatte, und um bei sich selbst nur ja den Verdacht nicht aufkommen zu lassen, sie, die Sehnsucht nach Venedig, sei der eigentliche Antrieb, der heimliche Grund dieser ersten Auslandsreise seines Lebens. Die Hinauszögerung hatte ihm sogar einen gewissen Kitzel bereitet, eine kleine wollüstige Selbstbestrafung war es gewesen, als er nach dem Grenzübertritt aus der Schweiz den Umweg über Florenz genommen hatte, statt geradewegs auf Venedig zuzurasen. Nun bereute er fast, sie – da die Stadt auch im Russischen „Venezia“ hieß, hatte er seit je wie an etwas Weibliches an sie gedacht – für den Schluss aufgehoben zu haben, denn es war gut möglich, dass die vielen schlechten Eindrücke und Enttäuschungen aus vier Ländern und mehr als einem Dutzend Städten, in denen noch dazu fast ständig schlechtes Wetter gewesen war, wie eine dicke Schicht Staub zwischen ihm und dem heimlichen Höhepunkt der Reise seinen Blick trübten, ja verunmöglichten.

Zudem war jede letzte Station einer Reise von den Bekümmernissen um die Heimkehr beschwert. Privat und beruflich hing der streng wirkende zugeknöpfte Herr mit dem sacht ausufernden Bart nämlich völlig in der Luft. Sein sogenannter literarischer Durchbruch, der Roman „Arme Leute“, lag sechzehn Jahre zurück, und nach dem Veröffentlichungsverbot, Teil der zehnjährigen Haftstrafe in Sibirien, war es schwer gewesen, an diesen Erfolg wieder anzuschließen. Immer wenn er daran dachte, verschlimmerte sich das Stechen in seiner Seite, das von der Leber kam und ihn daran erinnerte, dass es gesundheitlich mit ihm in mehrfacher Hinsicht im Argen stand. Abrupt und mit einer Energie, dass alle fünf Augenpaare im Abteil zu ihm sprangen, zog er ein dünnes Heft aus der Rocktasche und schlug es auf. Vor einem guten Jahr hatte er begonnen, über seine epileptischen Anfälle Buch zu führen. Dauer und Heftigkeit waren verzeichnet (leicht/mittel/schwer) sowie die Abstände zwischen ihnen, die von einem halben Tag bis zu einem halben Jahr reichen konnten. Jedem Anfall ging eine längere Phase der Niedergeschlagenheit voraus, den schweren folgte tagelange Arbeitsunfähigkeit. Der letzte Eintrag („mittel“) nannte den einunddreißigsten Mai, eine Woche vor der Abreise. Schon vor Jahren, noch in Sibirien, hatte ihn der Arzt, der die Erkrankung zum ersten Mal diagnostizierte, gewarnt, bei einem der Anfälle werde er an dem Schaum, der ihm aus dem Mund stieg, am Rücken liegend ersticken. Inzwischen hatte er eine gewisse Übung darin bekommen, das Aufsteigen einer neuen Eruption in sich zu verspüren und sich, vor allem wenn er alleine war, wie immer möglich darauf vorzubereiten.

Der Zug hatte die Lagune überquert und fuhr in den Bahnhof ein. Unter großem Rascheln und Poltern rafften die Reisenden ihre während der Fahrt um sich verstreuten Gegenstände zusammen, und Dostojewskij dachte daran, wie ihm der Schaffner in Mailand dieses Coupé, in dem nur ein junges, sehr hübsches Mädchen gesessen war, zugewiesen und sich dafür Trinkgeld erhofft hatte. Da hatte er sich getäuscht. Und das Mädchen war an der nächsten Station ausgestiegen. Diesmal ließ er den Anderen den Vortritt, nickte zu ihren Verabschiedungen und blieb in Gedanken verfangen sitzen, als ginge die Fahrt für ihn allein weiter. Sein Reisegeld, Vorschuss auf einen ungeschriebenen Roman, war längst aufgebraucht, und als Erstes, dachte er, würde er nachsehen müssen, ob auf der Post schon der nächste Wechsel seines Bruders Michail lag. Der deutsche Ehemann kam noch einmal zurück, vom Korridor aus krähte er durch die offene Tür: „Ich weiß, warum die Sonne dort so früh aufgeht.“ Er machte eine kleine Kunstpause und sagte belehrend: „Weil es so weit östlich liegt.“

„Ja“, gab der Russe zur Antwort und schaute ernst zu Boden. Womit der einzige Dialog seiner Bahnfahrt zu Ende war.

Italien kannte er bislang nur aus Zügen und Equipagen heraus. In Florenz hatte er sich schlecht gefühlt und war wenig ausgegangen, außerdem war es regnerisch und seltsam kühl gewesen. Sodass ihm nun, als er aus dem Bahnhof Santa Lucia auf den Vorplatz trat, zum ersten Mal in seinem Leben die volle Glut eines mediterranen Sommertags entgegenschlug. Und die war anders als jede andere bisher, ein weiches, freundliches Meer, in das man eintauchte, ein alle Sinne vereinnahmendes Spektakel aus Farben und Licht, Stimmen und Bewegung, als wäre man in ein zum Leben erwecktes Gemälde getreten und zum ersten Mal nicht mehr dessen Betrachter, sondern Akteur. Und wie es den Augen war, als hätte man ihnen einen Schleier abgenommen, schienen die Ohren von Pelzklappen befreit und wunderten sich über die Symphonie von Rufen, Reden, Singen und Schreien in einem Dutzend von Sprachen, aus denen das Italienische herausklang und -schmetterte wie eine fröhliche Trompetenmelodie aus aufgeregtem Orchesteraccompagnement.

Noch hatte der Angekommene keinen Faden der Anknüpfung an dieses bunte Gewebe gefunden und stand starr in der um ihn wehenden, ihn schubsenden Menge von Händlern, Wasserträgern, Reisenden und spielenden, herumlaufenden Kindern, hielt den Griff seines Koffers fest umklammert, schaute mit schmalem Blick auf den breiten Kanal, der sich um den Bahnhofsvorplatz schlängelte und Boote mit roten und schwarzen Segeln auf seinem unverschämt leuchtenden Blau trug, und fühlte sich so schwach, dass er am liebsten umgekehrt und in irgendeinen Zug gestiegen wäre, Hauptsache weg. Richtungslos, nur, um einen Anfang zu machen, bewegte er sich ein paar Schritte nach links, wo ihm ein Lokal in den Blick kam, das scharenweise Menschen ausspuckte und einsog und ihm seinen dringenden Wunsch nach etwas zu trinken erfüllen würde. An einen Laternenmast vor dem Lokal gelehnt, stand ein kleiner Mann mit kugeligem Bauch, in dem zwei Arme und Beine steckten, und kugelrundem kahlen Kopf, aus dem zwei lebendige, feurige Augen blitzten.

„Ciao!“, rief er, und der auf ihn Zugehende drehte sich halb um, um den Freund hinter sich zu sehen, der offenbar mit diesem Ruf begrüßt wurde, doch da war niemand, „Ciao!“ kam es dafür noch einmal und nun ganz unzweifelhaft auf ihn hin und schon sprang der Fremde mit einem „Benvenuto a Venezia!“ auf ihn zu und griff nach seinem Koffer. Vor Diebstählen in Italien mehrfach gewarnt, legte Dostojewskij auch die zweite Hand um den Griff und sah den Angreifer finster an, als wollte er ihn kraft seines Blicks in die Flucht schlagen. Doch der hob beide Arme weit über die Schultern und gab mit dieser Gebärde und einem lauten Ausbruch von Vokalen, die aus seinem Mund quollen, seiner guten Absicht Ausdruck. Die Suada kam offensichtlich mit einer Frage zu Ende, der ein Schulterzucken folgte. „Indirizzo“, wollte der Kugelmensch wissen und „Albergo“, und der Russe, der sicher war, dass der Andere Geld forderte, sah sich betreten um. „Address“, verstand er nun endlich, und zugleich, dass der Kleine ihm den Koffer tragen und ihn führen wollte. Er zeigte ihm einen Zettel, auf dem Name und Anschrift des Hotels geschrieben standen. Das ermutigte den Fremden zu einer neuen Koloraturarie von Vokalen, mit der er den Reisenden so verblüffte, dass er ihm geschwind den Koffer aus den Händen nehmen konnte und schon, heftig mit dem freien Arm bedeutend, ihm nachzukommen, davonlief. Der vielleicht nicht Ältere, aber ungleich Schwerfälligere, der zudem von der Reise ganz steife Beine hatte, protestierte und sah doch keine andere Möglichkeit, als dem flinken neuen Besitzer seines Koffers nachzugehen. Da blieb der unvermittelt stehen und drehte sich um.

„Scusate, Signore“, sagte er und verneigte sich leicht, „sono Pepi.“

„Pepi?“ Da erhellte sich das blasse, bis dahin ausdruckslose Gesicht, auf dem die Sonne zuvor unsichtbare Sommersprossen aufblühen hatte lassen, und die grauen, tief liegenden Augen bekamen einen seltsamen weichen Glanz.

„Beppo!“, rief er nun fast, und der Andere, wie um nicht kleinlich zu sein und seine gute Laune nicht zu verlieren, stieß lachend und schulterwerfend aus „Pepi … Beppo …“ – und erklärte sich mit der Namensveränderung einverstanden.

„E lei?“, zeigte er auf den Herrn.

„Je m’appelle Dostojewskij.“

Beppo/Pepi schickte mit den Augen ein Stoßgebet zum Himmel und sagte etwas, das wahrscheinlich „Das merke ich mir nie“ hieß, lachte wieder herzlich und setzte seinen Weg fort.

Dostojewskij warf einen Blick auf das Lokal, in dem er Menschen mit Getränken sitzen sah, doch da lief sein Kofferträger schon über die ersten Stufen der Steinbrücke über den Kanal. – Beppo! Dostojewskij schüttelte den Kopf. Dieses Sinnbild seiner venezianischen Sehnsucht, der Name des Byron’schen Gedichts, das ihm die ersten Phantasiebilder seiner jugendlichen Schwärmerei eingegeben hatte, hier war es Fleisch und Blut, sprang ihm auf den ersten Metern vor die Füße, trug sein Gepäck, wurde sein Cicerone … die „Steine aus ‚Beppo‘“ hatte er, so lange er denken konnte, zu sehen, zu berühren begehrt, und folgte nun einem leibhaftigen Nachfahren dieser literarischen Erfindung auf Stufen aus Stein, die sicher auch Byron betreten hatte.

Auf der Anhöhe der Brücke hielt er kurzatmig an und ließ Beppo aus den Augen. Sein Name – und sein Lachen – hatten ihm Vertrauen gegeben. Die Brise, die hier oben in sein Haar fuhr, war um nichts kühler als die stehende Luft und dennoch oder deswegen wohltuend, als streichle jemand mit zärtlicher Hand sein Haupt. Er schaute auf den Kanal. Bunter waren die ihn säumenden Häuser als in Petersburg, vielfarbiger, mit rötlichen Dächern. Die Pfähle im Wasser waren rot-weiß oder blau-weiß bemalt wie in einer italienischen Theaterkomödie, von den Balkonen wehten Fahnen, alles ergab ein heiteres Bild, als wäre irgendein Festtag.

Ein Hustenanfall schüttelte ihn, und er hielt sich an der Steinbrüstung fest, weil ihn schwindelte, und er kurz befürchtete, vornüber in den Kanal zu stürzen. Wahrscheinlich wäre er auf einem Bootsdeck zerschellt oder ein Segelmast hätte ihn aufgespießt, und das wäre dann das Ende gewesen. Dostojewskij starrte auf das munter bewegte Wasser wie auf den Eingang zur Unterwelt, bis Beppo ihn vom Fuß der Brücke her anrief: „Signore!“ Und als dieser zu ihm sah, machte er eine wiegende Geste mit dem Kopf, die unmissverständlich „weitergehen“ hieß.

Sie gingen eine lange, gerade Gasse entlang, in die, ausgerechnet, senkrecht die Sonne fiel. Dostojewskij sah nach oben und schimpfte. Beppo lief fünf Meter vor ihm, er war so klein, dass der Koffer fast am Boden streifte, und so rund, dass der Koffer vielleicht das Einzige war, das ihn daran hinderte, zu kugeln statt zu gehen. Dabei drehte er unentwegt den Kopf zurück und rief Italienisches über die Schulter zu seinem neuen Herrn, der aber dadurch wirkte, als wäre er der Knecht und nähme Befehle zur Eile entgegen. Rechts und links waren Läden und Geschäfte, Handwerker saßen davor und arbeiteten, aus allen Türen, die durchwegs offen standen, drangen Lärm und verschiedenartigste Gerüche. An einer Ecke, wo es penetrant nach Katzenurin stank, bog Beppo überraschend nach links in eine noch schmalere Gasse ab, noch länger als die erste, und nun schien die Sonne den beiden auf den Hinterkopf. Eine Bettlerin hielt Dostojewskij eine offene Blechdose hin. Er blieb stehen und griff in seine Hosentasche, aber da kam Beppo sogleich angelaufen, rief etwas offenbar Unanständiges zur Bettlerin – denn die wurde rot –, hielt den ausgestreckten Arm zwischen sie und den verhinderten Wohltäter und machte mit der Zunge einen schnalzenden Laut wie ein Kutscher zu seinem Pferd. Weitergehend hauchte der Zurechtgewiesene ein „Pardonnez-moi!“ zurück, mehr durfte er der Armen nicht geben. Sie gingen über eine kleine Brücke und einen sehr langen Kanal entlang, an dem ein Gondoliere auf Kundschaft wartete. Schon von Weitem krakeelte Beppo ihm entgegen, sodass dieser seinen Versuch, den Reisenden zu einer Fahrt einzuladen, schnell aufgab und dafür aus vollem Hals auf den mit dem Koffer Dahinstrebenden losfluchte. Kennen die einander?, dachte Dostojewskij. Die anderen Fußgänger achteten weder auf den Streit noch darauf, dass der Kleine im Weitergehen seinen Monolog über die Schulter nach hinten fortsetzte, ohne im mindesten verstanden zu werden. Immer liefen sie in praller Sonne. Auf menschenleeren Balkonen wehten Markisen. Wieder querte Beppo den Kanal über eine kleine Brücke. Ob er etwas essen wolle, fragte er den zusehends Erschöpften hinter sich mit einer Geste. Auf die Pantomime einsteigend, antwortete er mit einer Trinkbewegung, worauf Beppo zum Himmel jauchzte, als hätte er in der Lotterie gewonnen. Und den Marsch im Laufschritt fortsetzte. Durch enge, verwinkelte Gassen, der von ihm Geführte konnte ihm kaum folgen, verlor ihn immer öfter aus den Augen, und schließlich tat sich hinter einer Ecke eine menschenleere Sackgasse auf, die an einem Kanal endete. Oben wehte Wäsche im Wind, es war vollkommen still.

Der Friede des Orts ergriff Dostojewskij mehr als der Schreck, möglicherweise gerade sein Hab und Gut verloren zu haben. Da schnellte eine glänzende Kugel von unten aus einer Hauswand, Beppos schweißnasser Glatzkopf lugte aus einem niedrigen Durchgang, der nicht zu sehen war, bis man direkt davorstand. Der Dichter bückte sich und ging dem Wiedergefundenen nach, der wie zum Hohn über seinen eigenen Kleinwuchs in die Höhe sprang und, trotz Koffer, die Hacken seiner Pantoffel in der Luft aneinanderschlug. Genau an einer Lokaltür kamen sie in eine breitere Gasse. Doch der fragende Blick des Einen bekam nur ein „No, no, no!“ mit erhobenem Zeigefinger zur Antwort, denn der Andere schien ein bestimmtes Ziel zu haben.

Sieben Gassenecken und drei Brücken weiter standen sie vor einer großen Kirche auf der anderen Seite eines Kanals. „Santa Maria Assunta“, stieß Beppo aus und bekreuzigte sich, aber nicht ohne Ironie, denn er ermunterte Dostojewskij feixend, dasselbe zu tun – wenn er jedoch dessen Gesicht bis dahin als ernst empfunden haben mochte, wurde er eines Besseren belehrt, denn nun verfinsterte es sich sprichwörtlich, und was ihn anblickte, war kein ernstes Gesicht, sondern die Personifikation des Ernstes, wenn auch, wie ihm schien, ohne Vorwurf. Mit einem Lachen erlöste Beppo die Situation und wies mit großer Geste auf eine offene Tür hinter ihnen.

Es war eine Gaststätte, von außen kaum als solche erkennbar und innen nachtdunkel. Es roch stark nach Wein und Schnaps. Der Italiener wurde von zwei Männern hinter der Theke, Hünen mit zerfurchten, zerschnittenen Gesichtern, laut begrüßt wie nach Jahren der Abwesenheit, dabei war er vielleicht nur ein paar Tage weg gewesen, gar nur Stunden, dachte der Ortsfremde und ließ sich dankbar auf einem harten Stuhl nieder. Die Gesellschaft von Männern wie diesen, Lokale wie dieses waren ihm vertraut. Das Spasskij-Viertel in Petersburg rund um die größte Geschäftsstraße, die Sadowaja, wo er in verschiedenen Wohnungen gelebt hatte, war die Gegend der Märkte, der Fuhrknechte, Bauern und Kaufleute. Die wilden Jaroslawler lebten dort, Nachfahren der tatarischen Steppenvölker. Es wimmelte von Taschendieben, zwielichtigem Gesindel, billigen Prostituierten. Die Gassen waren voll Betrunkener und Obdachloser, die Häuser schmutzig und überfüllt. Menschen aus allen Teilen Russlands und jeder Nationalität Europas konnte man dort finden. Einer der Riesen stellte sich vor ihm auf, er reichte fast bis zur Decke. Beppo, am Tresen stehend, hatte schon ein Glas Weißwein in der Hand, klein und bauchig, als wäre es seiner Figur zugeschnitten. Dostojewskij bestellte auf Französisch ein Bier. Keine Minute später stand es vor ihm.

Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, erkannte er, dass die Wände zur Gänze mit Darstellungen von Rokoko-Idyllen bemalt waren. Ausgelassene Gesellschaften junger Menschen in leichten, sommerlichen Kleidern tanzten auf Wiesen, lagen, spielten und musizierten an Bachufern, neckten sich, scherzten, gaben sich verschwiegene Stelldicheins in Gondeln und Gärten … sie erinnerten ihn an Szenen aus Stücken von Goldoni und Büchern von Goethe und de Laclos, in denen er als Kind in Moskau zum ersten Mal eine Ahnung von Venedig bekommen hatte, und einen Auslöser seiner Sehnsucht. Vorrevolutionäre Szenen, wie ihm jetzt auffiel – die in seiner eigenen revolutionären Jugend in Sankt Petersburg von den Freiheitsgedanken in den Stücken Schillers, der mitreißenden Aufbruchsenergie in den Opern Rossinis abgelöst oder transformiert wurden und zusammen mit den Werken von Hugo, Flaubert, Balzac einen so zauberischen Eindruck in ihm hinterließen, dass es war, als rufe dieses Westeuropa nach ihm, dem Russen, dem die Heimat alles war und dem doch schien, als wäre alles, was es in Russland an Entwicklung, Kunst, Bürgersinn und Menschlichkeit gab, von eben dort hergekommen, aus Westeuropa, aus Europa eigentlich, denn Russland war nicht Europa, Russland war Russland, aus Europa also, diesem „Land der heiligen Wunder“, wie er es früher gerne genannt hatte. Früher, und definitiv vor seiner ersten Reise dorthin.

Im Sitzen, im Dunkeln, im Kühleren war es in ihm friedlicher geworden. Und bei den ersten Schlucken Bier. Das musste er sich für seinen Roman – dessen Pläne er schon lange in sich trug und für die er auf seiner Reise nichts zustande gebracht hatte als Skizzen –, für den Roman „Die Trinker“ merken: Im ersten Schluck lag’s. Bis dahin hatte jeder, auch der gewohnheitsmäßigste Trinker, immer wieder eine Chance. Danach nicht mehr. Der erste Schluck Bier, Wein, Wodka verwandelte dich und zog dich in seine Macht. Als das Glas leer war, befiel ihn bleierne Müdigkeit und eine unangenehme Mischung aus Hunger und schlechter Laune. Was hatte diese Herumreiserei für einen Sinn? Was tat er in dieser lauten, unübersichtlichen Stadt? Die Woche in Florenz war er die ganze Zeit in einer Lesehalle gesessen und hatte russische Zeitungen studiert. War die Lesehalle zu, hatte er sich in seine Pension, eine muffige Absteige mit dem prätentiösen Namen „Suisse“, gesetzt und „Les Misérables“ gelesen. Eine literarische Neuerscheinung, die ihm gefiel, weil sie ihn an seine eigenen „Erniedrigten und Beleidigten“ erinnerte. Dessen Honorar längst aufgezehrt war. Strachow, ein Freund, den er in Genf getroffen und der ihn nach Florenz begleitet hatte, war im Duomo gewesen, auf dem Ponte Vecchio, in den Boboli-Gärten, beim Abendtee hatte er davon erzählt und nur einmal Dostojewskij in die Uffizien geschleppt, ein in dessen Augen unfassbar hässliches Gebäude, mehr Amt als Museum, er war davongelaufen, noch bevor sie zur Venus von Medici gekommen waren. Danach hatten sie auf der Piazza della Signoria Eis gegessen und gestritten.

„Du bist ein schlechter Reiser“, (Strachow) „dich interessieren weder die Natur – als wir an den Schweizer Seen vorbeigefahren sind, hast du nicht einmal aus dem Zugfenster geschaut –, noch historische Sehenswürdigkeiten, noch Kunstwerke.“

„Vielleicht.“ (Dostojewskij.) „Mein Interesse geht im Wesentlichen auf den Menschen. Was gibt es Faszinierenderes? Was Widersprüchlicheres?“

Im selben Moment war ein Buckliger an ihrem Tisch vorbeigegangen, und Strachow hatte gelacht, und Dostojewskij war böse geworden und hatte Strachow angeschrien, dass er ihn nicht ernst nähme, außerdem sei das Eis ihm zu kalt und er ziehe es vor, ins Hotel zu gehen und „Les Misérables“ zu lesen. Jetzt war er froh, wieder allein zu sein. Strachow war wohl schon in Russland. Der hatte es gut.

Beppo und die zwei Hünen hielten in ihrem „Gespräch“ – das daraus bestand, dass sie einander in bester Laune anschrien – inne und prosteten vom Tresen her dem stummen Gast zu, der aber betreten zu Boden sah. Schon immer, selbst in seinen ausgelassensten Stunden, war es ihm unangenehm gewesen, wenn Gläser gegen ihn gehalten wurden, und auch er selbst führte die Bewegung ungern aus. Welche Gottheit wurde da hochgehalten und hofiert? Und auch in der katholischen Kirche, wenn der Priester den Kelch hob, um das „Blut Christi“ zu preisen – und damit sozusagen seiner Gemeinde zuprostete –, empfand Dostojewskij das als verunglücktes Ritual, eine peinliche Äußerlichkeit eines im Wesen tieferen Gedankens.

Am Kirchenvorplatz schoss ihm das Bier aus allen Poren. Zum Glück bogen sie jetzt in schattige und gleich erfrischend kühlere Gassen ein. Aus den Häusern hörte man das Klappern von Geschirr, Fetzen von Tischgesprächen, Babyweinen, Lieder, gesungen von Frauen aus wer weiß welcher Freude, wer weiß welcher Not. Auf der Anhöhe einer der unzähligen Brücken war es dann, dass ihm auf einmal Salzluft in die Nase stieg, vom Wind hergetragen aus der Lagune oder vom Meer. Das Meer hatte er in Europa zweimal, auf der Überfahrt nach und von England kennengelernt. Doch wie hier der Salz- und Tanggeruch in die Stadt wehte, das kannte er nur von einem Ort: von Sankt Petersburg. Je näher sie nun ihrem Ziel und damit dem Wasser kamen, desto mehr stieg ihm dieser Duft nicht nur in die Nase, sondern ins Gemüt und schürte, zugleich mit dem tieferen Eintauchen ins Venezianische, Fremde, mehr als je zuvor in den zwei Monaten seiner Reise die Sehnsucht nach Zuhause.

Das Hotel Belle Arti war ein eleganter Palazzo mit Garten, und sofort ärgerte sich Dostojewskij, dass ihn seine Pariser Bekannten, die er um Empfehlung für ein „günstiges Quartier“ in Venedig gebeten hatte, hierher schickten. Doch der Rezeptionist erklärte ihm in schlechtem Französisch, dass sich seine Reservierung auf das „andere Gebäude“ beziehe, und das hieß auf ein schlichtes Wohnhaus auf der anderen Straßenseite, wo das Hotel einfachere Zimmer vermietete. Den Schlüssel händigte er ihm mit den Worten aus: „Benvenuto, Signor Dostojewitsch!“ Dieser korrigierte sachlich und fragte nach dem Postamt, der Beschreibung hörte er nach dem sechsten à gauche und à droite zu folgen auf, außerdem winkte Beppo, der mit dem Koffer an der Tür zwischen Garten und Foyer wartete, heftig fuchtelnd ab, was heißen sollte, er würde ihn hinführen. Die Frage nach einer „Lesehalle“ fiel auf Unverständnis, die Umschreibung „wo man hier Zeitungen lesen“ könne, beantwortete der Portier mit einem verlegenen Deuten auf ein Fauteuil. Beppo ließ es sich nicht nehmen, den Koffer auch über die Straße und in den ersten Stock zu tragen. Als er ihn abgestellt hatte, sich den Schweiß von der Stirn wischte und anfing, sich im schlichten, doch praktikabel eingerichteten Zimmer umzusehen, fand Dostojewskij, dass es Zeit zum Abschied wäre. Mit der Bezahlung des Weins vorhin war es nicht getan, aber mit der venezianischen Währung, die er in Mailand eingetauscht hatte, kannte er sich nicht aus, sodass er ihm nur zu wenig oder zu viel geben konnte, und Protest gäbe es wahrscheinlich nur im ersten Fall. Er zog die erstbeste Münze aus der Tasche und hielt sie ihm hin. Beppos Gesicht lief rot an, er streckte beide Arme von sich und stieß aus: „Ma no!“ – Natürlich, zu wenig. „Ma è uno Svanzica!“, rief Beppo und zeigte auf Dostojewskijs Hosentasche. Der holte alle Münzen heraus und präsentierte sie in der flachen Hand. Beppo stocherte darin herum und pickte sich die zwei, drei heraus, die ihm für seine Dienste angemessen schienen, wies noch einmal auf die erste Münze und sagte lachend und mit drohendem Finger: „Ma non uno Svanzica!“ Ging zur Tür und statt hinauszugehen, hielt er sie mit einer leichten Verbeugung auf: „Alla Posta?“

Der Gedanke, dem unermüdlichen Spaßvogel, der ohne Koffer sicher noch schneller wäre, gleich wieder hinterherzulaufen, war dem erschöpften Reisenden unerträglich und er schickte ihn mit einem „plus tard“ eilig weg. „Plus tard“, wiederholte Beppo, „va ben.“ Und bevor die Tür hinter ihm im Schloss war, machte er sie noch einmal einen Spalt weit auf, steckte seinen Kopf durch und sang: „Ah che più tardi ancor?“, opernhaft klang es, als wäre er ein ganzer Chor, und fügte hinzu: „In Italiano: più tardi. Plus tard – più tardi.“ Und mit einem breiten Lachen beendete er seinen Auftritt, doch hörte man ihn noch lange singen, „Ah che più tardi ancor“ – am Korridor, die Stiegen hinab, bis er aus der Haustür war.

Dostojewskij ging zum einzigen Fenster an der Längsseite des Bettes. Es stand halb offen, und als er es ganz öffnete, überflutete ihn eine Welle heißer Luft. Er sah in einen begrünten Innenhof mit Palmen, Olivenbäumen und einem kleinen Gemüse- und Kräutergarten. Nach der Hektik der letzten Stunden tat die Stille gut. Nur zwei Tauben scharrten auf einem Fensterbrett und gurrten ihr internationales Lied. Die Fenster der anderen den Hof umfassenden Häuser trugen die Zeichen gewöhnlicher Wohnungen: Blumen, an einem eine Katze, Wäscheleinen. In Petersburg hatte der Dichter stets in Eckhäusern gewohnt. Warum, wusste er nicht. Auf jeden Fall waren sie an Straßenkreuzungen und mehr oder weniger laut. Auf der Reise hatte er mit blindem Geschick sowieso die lautesten Zimmer bezogen. In Paris ausgerechnet über einer Schmiede. Um vier Uhr früh, als er sich nach qualvollen Stunden über seinen Skizzen ins Bett legte, fingen sie unten gerade an, an einem Rad zu hämmern. In Dresden wurde die ganze Zeit die Fahrbahn gepflastert, ab fünf war an Schlaf nicht mehr zu denken gewesen. Ein wenig verunsichert sah sich Dostojewskij um, von wo hier Störungen zu erwarten waren. Er fand nichts. Seufzend ging er zu seinem Koffer. Das Schloss war verbogen, und erst nach langem Hantieren brachte er ihn auf. Ordentlich verteilte er seine Sachen im Raum: Das frische Tageshemd und den zweiten Rock hängte er in den Schrank, die Zugstiefel stellte er daneben, Wäsche, Handschuhe und Halstücher kamen in die Schubladen, das Nachthemd legte er aufs Bett, Papiere, Federn, Tinte, Aschenbecher und sein Zigarettenetui hatten ihren Platz auf dem Schreibtisch, die Bibel legte er auf die Kommode, die Flasche Emserwasser stellte er daneben. Dann entnahm er dem Koffer die Kleiderbürste, zog den Rock aus, entstaubte ihn gründlich und hängte ihn auf. Drehte den Schlüssel zweimal in der Tür und stellte sich wieder ans Fenster. In den wenigen Minuten war die Sonne so über das Dach gewandert, dass sie jetzt einen Teil des Kräutergartens beschien. Der Ausblick erinnerte ihn an die Kindheitswohnung in Moskau. Vom Vorraum weg hatte es da einen Korridor mit Fenster zum Hinterhof gegeben. Im hinteren Teil des Ganges, abgetrennt durch eine Bretterwand, lag das finstere Kinderzimmer. Eng und arm hatten sie gelebt in der Dienstwohnung des Marienspitals, wo der Vater als Arzt angestellt gewesen war. Der niedere Adel, der Familie seit dreihundert Jahren von Vaterseite inne, hatte nur mehr auf dem Papier existiert. Und in den Genen vielleicht. Ihn schwindelte und er gab dem leichten Druck, den er vom Bett in den Kniekehlen spürte, nach und setzte sich. Nun musste er sich strecken, um über das Fensterbrett hinunter in den Hof zu sehen. Eng sollte der Held seines neuen Romans leben, eng und dunkel, wie in einem Sarg, dachte er. Er sah zum Schreibtisch und überlegte, sich an die Arbeit zu setzen. Doch da überkam ihn die Müdigkeit erst recht, und in einer wie ihn selbst überrumpelnden schnellen Bewegung legte er die Beine auf das Bett und den Kopf auf das Kissen. Er wollte nicht schlafen, nur ruhen und nachdenken. Sommer musste sein, am Beginn des Romans, ein schwüler, drückender Sommerabend, an dem der Student, um den es ginge, ziellos durch die Gassen und über die Brücken Petersburgs wandert. Oder die Venedigs? Warum nicht. Den „venezianischen Roman“ zu schreiben, hatte er schon mit fünfzehn vorgehabt.

Er schloss kurz die Augen. Nicht um zu schlafen, nur um besser nachzudenken. Ah che più tardi ancor. Nun hatte er Beppos Melodie im Kopf. Immer wieder klang sie in seinem Inneren, wuchs und schwoll an zu dem Chor, den er die Arie wirklich schon einmal auf einer Bühne hatte singen hören. Ihm fiel nicht ein, aus welcher Oper sie war noch von welchem Komponisten. Wahrscheinlich Rossini, dachte Dostojewskij und schlief ein.

Im Traum lief er wieder durch Venedig. Aber er selbst trug den Koffer, und Beppo war hinter ihm und trieb ihn an, immer schneller, brückauf, brückab, bis die Stadt sich in eine ländliche Gegend verwandelte, die Brücken zu Hügeln wurden, die Plätze zu grünen Wiesen, über die Dostojewskij, auf einmal nicht mehr mit Koffer, sondern mit einem Birkenzweig als Speer bewaffnet rannte, der kleine Fjodor, ein zehnjähriger untersetzter Junge mit hellem blonden Haar, rundem Gesicht, hoher Stirn und vorstehender Nase, denn irgendwo, wusste er, hielt sich der Feind versteckt, der weiße Mann, der ihn Indianer töten wollte. Da sprang er aus einem Gebüsch, sein zwölfjähriger Bruder Michail, und hielt den Haselnussstecken als Gewehr auf ihn. Geschickt ließ sich der kleine Fjodor fallen und rollte eine Böschung hinab, wo ein Kanu, bestehend aus zwei aneinandergebundenen Holzlatten, ihn aufnahm. Er stieß sich vom Ufer ab, und als Michail nachkam, war er schon in die Mitte des Teichs gerudert. Trotzdem legte der andere das Gewehr an, markierte einen Schuss, und Fjodor ließ sich in einer großen theatralischen Bewegung rücklings ins Wasser fallen. Da trieb er dann reglos als „toter Mann“, und die Sonne schien auf sein blasses Gesicht mit den vielen Sommersprossen und auf seine geschlossenen Augen. Als er sie aufschlug, blinzelte er ins Licht, aber er lag dreißig Jahre später in einem Zimmer weit von seiner Heimat in einem Hotelbett und die Sonne schien ihm mitten ins Gesicht. Sie war während seines Schlummers über die Kante des gegenüberliegenden Dachs gerückt und schaute nun direkt durch sein offenes Fenster auf ihn.

Dostojewskij dachte an Darowoje. So arm die Familie am nördlichen Stadtrand von Moskau gelebt hatte, war es dem Vater nach einer Beförderung und Nobilitierung – mit der die Familie ihren angestammten Adelsstatus wiederbekam – gelungen, zwei ganze Dörfer südlich der Stadt zu kaufen, wo sie fortan die Sommermonate auf einem Gut verbracht hatten, die einzigen wirklich unbeschwerten Perioden seines Lebens bisher. Wie zur akustischen Untermalung dieser Erinnerung drängten sich nun russische Laute in die Nachmittagsstille, Stimmen vom Hof her. Dostojewskij setzte sich auf. Langsam bewegte er den Kopf nach vorne, streckte ihn ins Freie, drehte ihn nach rechts und blickte in die Gesichter von zwei Frauen, Mutter und Tochter offenbar, die an einem halb offenen Fenster an der Querseite des Hauses – in dem das Hotel vielleicht auch Zimmer hielt – standen und verstummten, als sie den bärtigen Mann sahen, der nur über das Fensterbrett zu reichen schien und für sie, da sie nicht wussten, dass er saß, wie ein Zwerg wirken musste. Schnell zog der den Kopf zurück. Direkt nach dem Aufwachen angeschaut zu werden, war ihm immer schon peinlich gewesen, als ob sein Gesicht vom Schlaf noch irgendwie „offen“ wäre und die Leute in ihn hinein- oder ihm gar alles „wegschauen“ könnten. Nach ein paar Sekunden nahmen die Russinnen ihr Gespräch (es drehte sich um die Frage, welche von beiden vergessen hatte, zu Hause die Marmelade in den Koffer zu packen) wieder auf. Und er erhob sich, wusch sich, kleidete sich an, diagnostizierte Herzflimmern und Kopfschmerzen und ging aus.

Orangen für Dostojewskij

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