Читать книгу Orangen für Dostojewskij - Michael Dangl - Страница 13
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ОглавлениеZuerst dachte er an eine Maus oder Ratte. Nächtlich verlassene Märkte und deren Bewohner waren ihm vertraut. Doch das Knacken oder Klopfen wiederholte sich, und als er sich umdrehte, sah er einen Schatten zwischen zwei Läden. Es konnte ein Dieb sein, und seine Kräfte zur Abwehr im Fall eines Angriffs wären gering gewesen. Doch er hatte keine Furcht und ging einen Schritt näher. Hörte er es hinter dem Verschlag einen Meter vor ihm atmen? Auch war es, als würde ihn etwas durch die Zwischenräume der Bretter anschauen. Ein Plumpsen im Kanal ließ ihn herumfahren, ein Mann stand am Ufer und sah etwas Hineingeworfenem oder -gefallenem nach, vielleicht einer Flasche, denn er wankte. Als Dostojewskij wieder zurückschaute, huschte seine Erscheinung die Stufen hinunter zur anderen Seite als der, von welcher er gekommen war, immer so an den Läden entlang, dass die schattenwerfende Figur selbst unsichtbar blieb. Er ging ihr nach. Am Fuß der breiten Steintreppe gluckste Wasser vom Kanal, kurz davor, auf die Gasse zu steigen, was hinsichtlich der langen Trockenheit doch erstaunlich war. Die Ladenreihe setzte sich in einer Geraden fort und führte zu einem Platz, dessen Geruch keinen Zweifel darüber aufkommen ließ, was tags auf ihm verkauft wurde: Fisch. Ein Mann in abgerissener Kleidung durchsuchte eine Mülltonne, und Dostojewskij dachte an die Frauen und Männer, die jeden Morgen zum Sennoi-Markt kamen, um Fleisch, Fisch und Gemüse für die Obdachlosenheime zu erbetteln. Die meisten Händler gaben ihnen von ihren Waren. Ein kleines Geschäft war eben daran, zuzusperren, die alte Verkäuferin kam aber dem Wunsch des ausländischen Kunden nach einem Stück Käse und einem Viertel Laib Brot nach und richtete ihm beides sehr umständlich in einem Päckchen zusammen. Von den Münzen, die er ihr hinhielt, wählte sie die kleinste und beschenkte ihn zudem mit einem, wie er es empfand, zutiefst mädchenhaften Lächeln von ihrem greisenhaften Mund. Draußen riss Dostojewskij das sorgfältig Verschnürte auf und biss gierig ins harte Brot, wobei ein Zahn heftig schmerzte und wackelte. Ein schlechtes Zeichen, dachte er, und überlegte, in welche Richtung er sich auf die Suche nach seinem Zimmer machen sollte, wo er Käse und Brot – Tee würde er wohl noch bekommen – verzehren, zwei bis drei Stunden arbeiten und sich nicht zu spät schlafen legen wollte, um den frühestmöglichen Zug nach Triest und dann über Wien, Dresden und Berlin nach Hause zu nehmen. Da sah er an einer Ecke des Marktes wieder eine Bewegung, diesmal die einer kleinen rundlichen Figur, die ihn an Beppo erinnerte, den er ganz vergessen hatte. Winkte sie, ehe sie um die Ecke bog? Er ging ihr gesenkten Hauptes nach und kaute kleine Bissen Brots und mochte sich selbst überhaupt nicht in dieser Situation und auf dieser Reise, deren Niederlage er sich eben auf der Brücke eingestanden hatte und die er sein weiteres Leben mittragen würde als fehlgeschossene Utopie seiner Jugend, deren stationsweise Demontage er rekonstruieren und den russischen Lesern in einem Reisebericht seiner Zeitschrift übermitteln müsse.
Musik drang zu ihm aus nicht weiter Ferne. Er hob den Kopf und sah nun ziemlich sicher, dass es Beppo war, der in eine Gasse tauchte. Je näher er kam, desto deutlicher klang die Musik aus ihr, ein lebhafter italienischer Gesang einer Gruppe Feiernder, von einer sehr kräftigen Männerstimme angeführt und von den Trommel- und Schellenschlägen eines Tamburins begleitet. Er blieb stehen und las „Calle de la Madonna“. Keine zwanzig Schritt weiter kündeten eine Laterne und durch eine offen stehende Tür fallendes Licht von Leben in der sonst dunklen und in die Tiefe völliger Finsternis gehende schmale Gasse. Als er einen Fuß in sie setzte, umfing ihn kühle Feuchtigkeit, die er als wohltuend empfand. Der Gesang wurde mit jedem Schritt lauter und schwoll, als er unter der Laterne an einem zur Gänze abgedunkelten Fenster stand, zu solcher Wucht an, dass er seine Energie in den Haarspitzen und die geballte Lust der vielfältigen, männlichen wie weiblichen, alten wie jungen, Stimmen in seiner Brust zu spüren meinte, als wollte sein müdes Herz mithüpfen zu dem stampfenden, zuversichtlichen Rhythmus dieses heiteren, volkstümlichen Liedes, dieser hymnischen und dabei zutiefst eingängigen, einfachen Melodie, deren Vortrag den Charakter einer professionellen Aufführung hatte und doch vom Lachen, den Übertreibungen und kleinen Unsauberkeiten, wie sie einer ausgelassenen Schar lebhaft Feiernder zu eigen ist, durchsetzt war. Über der Tür stand in fast nicht mehr lesbaren Lettern Acquasanta.
Der Gastraum war leer. Und wenig beleuchtet. Einzig die Schank im Hintergrund war hell und in Betrieb. Flaschen, Becher, Gläser türmten sich auf ihr. Alles Leben spielte sich hinter einer angelehnten Flügeltüre ab, durch die der Gesang gedämpfter drang als vorhin durch das Fenster auf die Gasse. Die ging auf und ein gebückter Mann mit Schürze, der zu sich selbst sprach, brachte zwei leere Weinkrüge. Im Vorbeigehen sah er kurz hoch, und Dostojewskij wusste nicht, ob eine seiner vor sich hin gemurmelten Äußerungen ein Grußwort war. Der Wirt – um den musste es sich handeln – stellte die Krüge unter den Hahn eines Fasses und nützte die Zeit ihres Volllaufens dazu, sich aufstützend zu verschnaufen. Er blieb weiter im intensivsten Dialog mit sich, stellte sich Fragen, gab sich Antworten, zuckte die Schultern, lachte, schaute nun aber den Unbekannten vor sich so intensiv an, als spräche er zu ihm. Kein Befremden über seine Anwesenheit. Als die Krüge voll waren, machte er sich mit einer lauteren Suada Kraft und trug sie durch die Flügeltüre, die er nun einen Spalt weiter offen ließ und so einen Blick hinein gewährte. Eine bereits in beträchtliche Unordnung gebrachte gedeckte Tafel stand über die ganze Länge des nicht großen Raumes, an der sich die meisten der Feiernden wie in Darstellungen des letzten Abendmahles an einer Seite zusammendrängten, in deren Zentrum ein stattlicher Mann mit beträchtlicher Leibesfülle, breitem Kopf und kunstvoll gewellten schwarzen Haaren saß, der wie ein Familienvater aus voller, breiter, kräftiger Brust singend den Ton angab und mit einer riesigen Schöpfkelle dirigierend den Takt schlug. Die Gesichter der um ihn Sitzenden waren markant und charaktervoll, als wären die Typen einer italienischen Komödie, von Jung bis Alt, an einem Tisch versammelt, was auch die gewisse Brillanz ihres Gesangs erklären mochte. Die Kerzenbeleuchtung verstärkte das Gemäldehafte der volkstümlichen Szene, zu der nur die feinen Kristallgläser, in die der Wirt aus seinen derben Krügen perlenden Wein schenkte, in Kontrast standen. Die Augen des Familienvaters fielen durch den Türspalt auf die Gestalt des draußen stehenden einsamen Herrn und blitzten auf, der breite, sinnliche Mund ging noch ein wenig mehr in die Breite und ein Teil der taktgebenden Kopf- und Schöpfkellenbewegungen wurde zu einem freundlichen Gruß, den ein geselligeres Gemüt als das Dostojewskijs erwidert hätte. Er aber stand regungslos mit seinem Päckchen Brot und Käse und wusste nicht, was ihn abhielt, in die Nacht zu schlüpfen und nach Hause zu gehen. Da sah er, wie der Sangesvorstand sich zum einschenkenden Wirt neigte und ihm etwas ins Ohr flüsterte, worauf dieser mit seinem gebeugten Rücken, der jeder seiner Handlungen etwas Geflissenes gab, um den Tisch und durch die Tür eilte, sich vor Dostojewskij aufstellte und in Italienisch gefärbtem Französisch sagte: „Der Maestro lädt Sie ein, hineinzukommen.“
Dreifach überrascht – über die französische Anrede, die Einladung und das „Maestro“ – schaute er über den Wirt auf den fülligen Mann, der aber eben im Begriff war, im Singen mit einem neben ihm sitzenden, auffällig hübschen jungen Mann zu scherzen und seine Taktschläge mit der Schöpfkelle auf dessen imaginäre Brüste anzudeuten, was diesen veranlasste, seinen Kopf mit den langen, brünetten Haaren in den Nacken zu werfen und im heftigen Auflachen zwei blendend weiße Zahnreihen und einen kräftigen, wenngleich mädchenhaft blassen Hals zu entblößen, eine einfache Reaktion und zugleich eine Demonstration, ein Ausbruch jugendlicher Vitalität, die Dostojewskij sofort ergriff.
Zurück auf den Wirt schauend, fragte er: „Der Maestro?“
„Nun“, hob der Gebeugte die Arme und sagte, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres: „Maestro Rossini.“ Lachte, ging weg, drehte sich noch einmal um und sagte mitten in den versteinertsten und doch fragendsten Blick: „Gioachino Rossini. Er lädt Sie herzlich ein.“
Dostojewskij musste sich einen Augenblick an der Schank festhalten. Träumte er? Zweifelnd schaute er auf den vitalen, singenden, kraftstrotzenden Mann. Es konnte sich natürlich nur um einen Namensvetter handeln oder um irgendeinen Musiker, der sich so nannte, denn Rossini … kam doch tief aus dem achtzehnten Jahrhundert … wohl hatte er nie von dessen Tod gehört oder gelesen, aber er konnte sich nicht recht vorstellen, dass er jetzt, achtzehnhundertzwei- undsechzig, noch lebte. Der Uraufführung des „Barbier von Sevilla“ in Sankt Petersburg hatte Dostojewskijs Großvater beigewohnt. Und seit wahrscheinlich dreißig Jahren hatte es keine neue Rossini-Oper mehr gegeben. Rossini war eine Legende, ein Klassiker, den man sich im elysischen Kreise Bachs und Mozarts dachte, nicht im Hinterzimmer einer venezianischen Weinstube.
„Bitte! Zögern Sie nicht!“, schob ihn da der Wirt, der einen neuen Krug gefüllt hatte, mit der freien Hand zur Türe, durch sie hindurch, und schon stand Dostojewskij an der Tafel, die fast den ganzen Raum ausfüllte, und weil das Lied in diesem Moment zu Ende war und die Darbietenden sich selbst akklamierten, schien der Eingetretene eine Art Auftrittsapplaus zu bekommen. Der Rossini genannte Mann stand auf und sagte: „Buona sera. Siate mio ospite, per favore. Sono Gioachino Rossini e questi sono i miei amici.“
Dostojewskij dankte, sagte seinen Namen und setzte sich auf den ihm angebotenen Platz auf der Bank gegenüber. Die anderen waren vom Singen in die lebhafteste Unterhaltung geglitten, tranken, riefen durcheinander und lachten, der vollhalsige Gesang war dagegen leise gewesen. Auch die Aufmerksamkeit des Gastgebers auf ihn schien fürs Erste beendet und wieder auf den Jungen neben sich gelenkt, was ihn nicht daran hinderte, die eine oder andere Bemerkung zu irgendeinem entfernter Sitzenden zu machen, dem Wirt, der nun an einer weiteren Türe, die vielleicht zur Küche führte, stand, Anweisungen zu geben und zwischendurch die ganze Runde mit einer scherzhaft gesungenen Phrase zum Lachen zu bringen. Es schien, als wären seine Augen und Ohren überall, und alle aus seiner Freundesschar, sosehr sie miteinander beschäftigt waren, hatten immer wenigstens ein Ohr und ein Auge bei ihm, um nichts von seinen Äußerungen zu verpassen und sofort zu reagieren, sollte er sie in die Unterhaltung einbeziehen. Der stattliche Mann mit dem berühmten Namen war der natürliche Mittelpunkt der Tafel, ihre Sonne, und stand mit jedem der ihn umkreisenden mitfeiernden Gestirne in energetischer, sympathetischer Verbindung. Dostojewskij trank aus dem Kristallglas, das man ihm hingestellt hatte, der schäumende Wein rann kühl und erfrischend über seine Kehle und belebte, wärmte und erregte sein Inneres wie ein Zaubertrank. Zugleich sah er die Augen des jungen Mannes auf sich, sie waren blau wie Veilchen mit übergroßen pechschwarzen Pupillen, die vollen, geschwungenen Lippen lächelten, was die starken Backenknochen über den schmalen Wangen des spitz zulaufenden Gesichts betonte, das Gesicht war schön, engelhaft, und beinahe kindlich jung, aber die Formung der Mundwinkel, der Ausdruck des Lächelns und besonders ein irgendwie lauerndes Wissen in den Pupillen konterkarierten den Engel und das Kind, und als er aufstand und zum Wirt ging, um ihm etwas zu sagen und dann durch die Tür hinauszuschlüpfen, sah man auf einmal ziemlich deutlich, dass der junge Mann mit den schulterlangen Haaren und der tänzerhaft schlanken Figur in Wirklichkeit ein junges Mädchen war.
Dostojewskij fühlte sich an etwas erinnert, doch hatte er keine Zeit, nachzudenken, weil er angesprochen wurde. „Victoria kommt zurück“, sagte der Mann ihm gegenüber und zwinkerte ihm freundlich und ohne Anzüglichkeit zu. „Ich nehme an, Sie bevorzugen die französische Sprache? Sie kommen aus Russland, nicht wahr?“
Dostojewskij nickte – im Französischen war er sicher – und betrachtete das fremde Gesicht. Alles an diesem Mann schien in die Breite zu zielen. Und doch hätte man ihn nicht dick nennen wollen. Die Schultern waren mächtig, der Kopf grandios, nur die Haare lagen gescheitelt und zur Seite frisiert seltsam flach, wie angeklebt, auf ihm und fielen in sich leicht wellenden Büschen über die Ohren hinab. Die scharfe, raubvogelhafte Nase akzentuierte das flächige, großwangige Gesicht, die schwarzen, kleinen Augen über den ausgeprägten Tränensäcken waren müde und wach zugleich. Die dunklen Augenringe erzählten von durchwachten Nächten und reicher Lebenserfahrung. Der Mund wusste um Leid und Sinnlichkeit.
„Sie wundern sich, dass ich noch am Leben bin“, kam aus ihm, und die Lippen schürzten sich neckisch. „Nach allen Gesetzen der Logik dürfte ich das auch nicht mehr sein. Vielleicht werde ich so alt, weil ich nur alle vier Jahre Geburtstag habe. Am neunundzwanzigsten Februar dieses Jahres wurde ich siebzig. Ich bezweifle, dass ich den nächsten neunundzwanzigsten Februar erleben werde.“
Heftiger Widerspruch kam von den Umsitzenden, und von zwei Seiten wurde ihm eingeschenkt, wie um damit sein Leben zu verlängern. Dostojewskij rechnete angestrengt nach. Etwas passte nicht zusammen.
„Die Uraufführung Ihres ‚Barbier von Sevilla‘ war in Sankt Petersburg“, sagte er zögernd, „das war …“
„Siebzehnhundertzweiundachtzig. Zehn Jahre vor meiner Geburt“, fiel ihm der andere lachend ins Wort. Nun, damit hat er sich selbst entlarvt, dachte Dostojewskij und wunderte sich, wie leichtfertig er einem Schwindler aufgesessen war. Doch da nahm der sein Glas und stellte es, seine Worte unterstreichend, in die Tischmitte: „Siebzehnhundertzweiundachtzig schrieb Giovanni Paisiello seinen ‚Barbiere di Siviglia‘ für Sankt Petersburg. Er war dort Hofkomponist. Ein Süditaliener! Die Oper war lange erfolgreich. Ich habe den sterbenden Paisiello in Neapel besucht und ihn gebeten, den Stoff neu vertonen zu dürfen.“ Damit stellte er ein zweites Glas in die Mitte und nahm das erste weg. „Das ist nun auch bald ein halbes Jahrhundert her. Ich habe den Nerv der damaligen Zeit getroffen. Der Erste, der Beste zu sein, war das Ziel der neuen bürgerlichen Welt. Mein Figaro war ihr Herold. Und ich der gefeiertste Komponist Europas. Zum Wohl“, hob er sein Glas. „Sie sind Musiker?“
Dostojewskij brauchte einige Zeit, um das Gehörte in sich aufzunehmen. Der Mann war kein Schwindler. Der Mann war tatsächlich der, den Stendhal den „Napoleon der Musik“ genannt hatte, der geniale Erfinder des „Wilhelm Tell“, der „Cenerentola“, der geschichten- und sagenumwobene, der beinahe schon mythologische Gioachino Rossini.
„Schriftsteller“, entfuhr es ihm automatisch.
„Ah!“, riss ihn der andere aus seinen Gedanken. „Ein russischer Schriftsteller. Ich kenne Turgenjew aus Paris. Kennen Sie Turgenjew?“
Dostojewskij nickte. Er kannte Turgenjew. Und wurde nicht gern an ihn erinnert. Erstens schuldete er ihm noch Geld, und dann konnte er es dem nur drei Jahre Älteren, doch um so viel Berühmteren nicht vergessen, dass er ihn in seiner Anfangszeit in Petersburg einen „aufgeblasenen Provinzdichter mit Genie-Attitüde“ genannt hatte.
„Wir warten hier in Europa schon lange auf den neuen Puschkin. Sind Sie es?“
Bevor Dostojewskij rot werden konnte, legte ihm Rossini die Hand auf den Arm und lachte gewinnend. „Entschuldigen Sie. Wir Italiener sind schrecklich direkt. Sie haben eine erstaunliche Physiognomie. Ich habe im ersten Moment geglaubt, ich kenne Sie. Sie sehen aus wie jemand, den man kennen sollte. Sie sind noch jung?“
„Vierzig.“
„Mit vierzig habe ich aufgehört, Opern zu schreiben. Und mich dem Genuss des Lebens hingegeben. In meinem Landhaus bei Paris koche ich für Freunde. Auf Reisen lasse ich kochen. Aber nach meinen Angaben und Bestellungen.“ Er zeigte auf den Wirt und drei Küchenhilfen, die große Platten mit Wurst, Käse, Tomaten, Trauben und Brot brachten. „Oliven aus Kalabrien, Gorgonzola aus der Lombardei, Schinken aus Sevilla. Und unser Hauptstück.“ Mit der Andeutung einer großen Operngeste zeigte er auf eine gut zwei Meter lange Wurstrolle mit dem Durchmesser eines Wagenrades, die am Ende der Tafel auf einem hölzernen Gestell stand. Der Wirt zog sich gerade weiße Handschuhe über und fing an, mit einem langen, feinen Messer dünne Scheiben des rosafarbenen Kolosses abzuschneiden. „Mortadella aus Bologna. Aber in ihrer ursprünglichen Form als Myrtatella, mit Myrtenbeeren statt mit Pfeffer gespickt.“
Damit bekam er die erste Scheibe direkt vom Messer des Wirts, hob sie mit den Fingern hoch und sog tief ihren Geruch ein. „Im Mittelalter war ein Viertel der Bevölkerung Bolognas ausschließlich damit beschäftigt, Mortadella zu machen.“ Er öffnete den Mund und ließ die gefaltete Scheibe sehr langsam von oben hineingleiten, was die Runde mit einem gedehnten „Aaah!“ untermalte. Er kaute und beschrieb den Genuss gestisch mit kreisenden Bewegungen der rechten Hand, während die linke zum Glas griff. „Der Papst erließ ein Gesetz, in dem die Zubereitung festgeschrieben war. Wer noch vor hundert Jahren ohne Befugnis Mortadella herstellte, musste dreimal auf die Streckbank. Heute zahlt er eine enorme Strafe.“ Dies sagte er mit erhobenem Zeigefinger zu Dostojewskij, wie um diesen, sollte er je auf die Idee kommen, unerlaubt Wurst zu produzieren, vor den Folgen zu warnen. Dessen Gesichtsausdruck verriet in seinem gleichbleibenden staunenden Ernst, dass dies nicht in seiner Absicht gelegen hatte, erhellte sich aber, weil das Mädchen zurückkam, Rossini einen Kuss auf den Hinterkopf drückte, sich neben ihn setzte und dem russischen Gast das strahlendste Lächeln schenkte.
„Victoria ist der Glanz der hiesigen commedia“, erklärte der Komponist. „Ich möchte sie gerne zur comédie nach Paris entführen, aber sie hängt schrecklich an ihrem Venedig. Ich verstehe sie.“ Er nahm einen tiefen Schluck Wein. „Ich hatte die glücklichsten Zeiten meiner Jugend hier. Mit achtzehn komponierte ich meine erste Oper für das Teatro San Moisè. Mit achtzehn ein Opernauftrag für Venedig! Ich habe damals gar nicht verstanden, was das heißt. Ich schrieb eine farsa in einem Akt. Einige weitere Opern folgten. Der Erfolg war nicht riesig, aber das Honorar war gut. Meine Musik hat viele irritiert, die Lieblicheres gewohnt waren. Noch war ja die Oper die Königin der Musik. Aber sie war für den Augenblick gedacht, nicht für die Ewigkeit. Ich bin mein Leben lang beim Success ruhig geblieben … wie beim Fiasko. Ein fiasco“, deutete er ans untere Ende der Tafel, „ist im Italienischen auch die ‚Weinflasche‘. Schrieb ich meinen Eltern nach einer Premiere, deutete ich auf dem Couvert bereits das Ausmaß des Fiaskos an, indem ich eine mehr oder weniger große Weinflasche darauf zeichnete.“
Da lachte Dostojewskij zum ersten Mal, abgehackt und kurz, aber ehrlich. Rossini freute sich darüber und hob sein Glas, doch ohne ihm, was er befürchtet hatte, zuzuprosten. „Der ‚Tancredi‘ hier im Fenice war dann, was man meinen Durchbruch nennt. Ein Siegeszug der Oper folgte durch ganz Italien. Dann München, Wien, Dresden, Berlin, London, Paris, New York. Jetzt spielen sie mich gerade wieder im Fenice. Aber deswegen bin ich nicht hier.“ Er schaute seinem Gegenüber direkt in die Augen und sagte ohne eine Spur von Sentimentalität, eher heiter und wie nebenbei: „Ich wollte Venedig noch einmal sehen, bevor ich sterbe.“ Darauf tranken die beiden fremden Herren aus ihren Kristallgläsern und behielten einander im Blick.
Dostojewskij hatte sich von der Art Schock, plötzlich einem der größten Genies der Musikgeschichte, einem Helden seiner Jugend, gegenüberzusitzen, noch nicht erholt. Er musste seinen Schnitzer von der falschen ‚Barbiere‘-Oper wettmachen und sagte heiser: „Ich habe eben Ihr Stabat Mater in Wiesbaden gehört.“ Er hatte das Gefühl, im Lärm der Tischgesellschaft unhörbar zu sein, aber Rossini schien ihn anstrengungslos zu verstehen, denn er nickte lächelnd. Doch das war nicht genug, er musste etwas von seiner Begeisterung, von seiner tiefen Ergriffenheit zum Ausdruck bringen. „Ich glaube, dass …“ Er machte eine Geste mit der Hand und schämte sich sofort dafür, im Kreise dieser sich so geschmeidig und ungezwungen bewegenden Menschen wirkte sie hölzern und steif, und Rossini und das schöne Kind hingen an seinen Lippen und warteten darauf, zu hören, was er denn nun „glaube“, außerdem hatte er einen belegten Hals und trockene Lippen und kam sich unmöglich vor, doch ein Blick in die Augen der beiden gegenüber zeigte ihm, dass sie ihm das, auch wenn sie es natürlich empfinden mussten, nicht übel nahmen, und er raffte seinen Mut zusammen und sagte schließlich: „Ich weiß nicht, ob es in der Musik so viele schöne Stücke gibt.“ Und schämte sich schlagartig auch dafür. Aus lauter Angst, etwas Laienhaftes zu sagen, hatte sein Ton etwas Nüchternes, Besserwisserisches gehabt, als spräche irgendein trockener Musikologe; von einem Schriftsteller wäre wohl eine weniger plumpe Formulierung zu erwarten gewesen. Rossini lachte leise auf, aber nicht, um ihn auszulachen – dafür hatte Dostojewskij ein feines Gespür –, sondern mit wiegendem Kopf und, ja tatsächlich, aus aufrichtiger Bescheidenheit.
„Danke“, sagte er, und es klang wie von einem, der zum ersten Mal Lob über sein Werk hört, nicht wie von einem, der seit Jahrzehnten daran gewöhnt ist. „Das war vor dreißig Jahren. Meine Stücke liefen überall. Ich brachte gerade den ‚Barbiere‘ nach Madrid. Ein Triumph. Am Tag der Premiere kam ein Geistlicher und gab mir den Auftrag zu einem Stabat Mater. Ich komponierte, wurde krank, es dauerte lang. Von da an …“, er hob die Schultern und wischte auf dem Tisch ein paar Brotkrümel herum, als suche er zwischen ihnen die Erklärung für etwas, das er selbst nicht verstand, „… habe ich nie wieder einen Opernauftrag angenommen. Ich zog in eine einfache Mansardenwohnung im Théâtre-Italien in Paris, obwohl ich gut situiert war. Ich wollte unter meinesgleichen sein, unter Musikern, Theaterleuten.“ Er zeigte in die Runde, deren Gesichter jetzt alle auf ihn gerichtet waren. „Der fünfte Stock war gut für mich, denn ich fing an, dick zu werden.“ Er lachte und wischte wieder die Brotkrümel umher. „Ich hatte seit jeher die Passion der Faulheit. Meine zweite Lebenshälfte begann. Ich brauchte Ruhe … später zog ich mich nach Bologna zurück, und … così finita la comedia …“
Das Letzte sagte er schon mit Blick auf eine weitere Wurstplatte, die der Wirt an seiner massigen Schulter vorbei auf den Tisch hievte. „È arrivata la nuova mortadella“, dozierte er mit gespieltem Ernst, als käme mit der neuen Wurst das Eigentliche des Lebens ins Spiel. Er zeigte auf verschiedene Sorten. „Hier haben Sie Mortadella aus Schweineleber, hier die besonders zarte Mortadellina, die Österreicher würden sie ‚Fräulein Mortadella‘ nennen …“ Und in das Lachen der Gesellschaft erhob zum ersten Mal Victoria ihre Stimme: „È la mia amata mousse!“ Sie nahm einen Tontopf, fuhr mit dem Mittelfinger in die rotbraune cremige Masse, hob eine kräftige Portion in die Höhe, roch daran, steckte sie sich mit dem Finger tief in den Mund, sog und zog ihn völlig sauber wieder heraus. „Mmh“, stöhnte sie laut, und wieder lachten alle.
„Unartiges Kind“, schmunzelte Rossini zu seinem Gast, der vor einem noch unberührten Teller mit Mortadellavariationen saß und das junge Mädchen fassungslos und irgendwie eigenartig ansah. Wie alt mag sie sein, dachte er. Neunzehn? Zwanzig?
„Einundzwanzig“, sagte Rossini, als hätte er die stumme Frage gehört, und verschlang zwei Scheiben Schweinelebermortadella auf einmal. „Mein Magen wird morgen wieder beleidigt sein, aber morgen ist morgen. Essen Sie. Der Magen ist der Kapellmeister, der das große Orchester unserer Leidenschaften regiert und in Tätigkeit versetzt.“
Da merkte Dostojewskij auf einmal, wie hungrig er war. Und als er das erste Stück gekostet hatte, konnte er, wiewohl er sich sonst aus Wurstwaren nicht viel machte, schon nicht mehr aufhören. Zudem ermunterte ihn Victoria, die nur wenig Französisch sprach, mit Blicken, von allem ausreichend zu probieren, und schenkte ihm nach, sobald sein Glas leer war.
„Bologna ist meine eigentliche Heimat“, sagte Rossini wurstkauend, es war nicht klar, zu wem. „Dort herrscht ein gemütliches, ungezwungenes Treiben. Florenz ist schon mehr ein Hofstaat.“
Dostojewskij nickte, obwohl seine Abneigung gegen Florenz ganz andere Gründe und er von der Stadt keine Ahnung hatte. Aber der compositore freute sich, dass der Fremde seine Meinung teilte, und feierte das mit einem herzhaften Schluck. „Das ist ein Sauvignon frizzante aus Lugo bei Ravenna. Mein Vater war dort als Stadttrompeter angestellt. Und als Aufseher eines Schlachthauses.“ Er zeigte lachend auf die Wurstplatten. „Und ich bekam meine ersten Unterweisungen in Spiel und Gesang. Mit vierzehn wurde ich Mitglied der Akademie in Bologna.“
„Wie Mozart!“, rief ein älterer Mann, der mit seinem spitzen Bart und seiner markanten Nase im Halbdunkel aussah wie der leibhaftige Pantalone.
„Nun ja“, sagte Rossini milde.
Pantalone insistierte: „Mit zwölf haben Sie schon Ihre sechs Streichquartette komponiert. In drei Tagen!“
„Die schrecklichen Sonaten“, konterte der Maestro leise. „Meine Mutter war Sängerin“, sagte er zu Dostojewskij, „auf der Suche nach Engagements waren sie und Papa – er war Orchesterhornist – viel auf Reisen, ich war viel allein.“
„Er war schon als Kind eine Berühmtheit“, sprang Victoria auf Französisch ein. Ihre Stimme war kräftig und rau wie nach heftigem Schreien oder unmäßigem Zigarettengenuss, etwas Verletztes, Verletzliches lag darin, eine große Zartheit und zugleich eine rüde Widerborstigkeit, eine Art gebrochener Unschuld, die aber den Ton angab und sich behaupten wollte. Kind und Kurtisane klangen aus ihr, Erziehung und Ungehorsam, Salon und Gosse. Dostojewskij horchte intensiv auf diese Stimme, sie bewegte ihn mehr als das, was sie sagte, weshalb sein Blick auch auf Victoria blieb, obgleich sie von Rossinis Berühmtheit als Kind geredet hatte.
„Wegen meiner Stimme“, sagte der nun, „sie war sehr schön, und ich war stolz darauf. Die Mousse ist übrigens aus Parmesan und …? Raten Sie!“
Dostojewskij, zweifach überrascht ob der direkten Ansprache und des abrupten Themenwechsels, riss die Augen von dem Mädchen und murmelte: „Morta – – –?“
„Mortadella! Bravo! Ooooh …“ Unvermittelt sang er einen langen Ton, tief aus dem Bauch, seine Schultern waren im Einatmen völlig ruhig geblieben und blieben es im Verlauf des kurzen Liedes, das er angestimmt hatte und in das alle wie auf Kommando einfielen. Das Lied begann mit „Amore“, bald wurde aber klar, was das Objekt der Liebe war: die „Ooooh … La mortadella!“ Ein Gassenhauer, eine geschunkelte Liebeserklärung an eine Wurstsorte. „Sempre buona“, sang Victoria, „co’ il panino“, rief Pantalone, „con un buon bicchier’ di vino“, krächzte eine komische Alte, „la mortadella sempre vincerà!“, schlossen alle und hoben zum letzten langen Ton sämtliche Platten vom Tisch triumphierend in die Höhe.
Dostojewskij wunderte sich sehr, wo hinein er da geraten war, und mehr, dass er sich darin nicht unwohl fühlte. Der Wein, die Speise, die hartnäckig immer wieder die seinen suchenden Blicke des Mädchens, sie heizten ihn an. Doch am meisten beseelte ihn die Anwesenheit des grandiosen Musikers, der auch ein grandioser Mann war und dabei so schlicht, so natürlich mit ihm sprach, als kennten sie einander schon lang.
„Wir haben zu Hause auch viel gesungen“, sagte er lauter als vorhin und beugte sich dabei etwas über den Tisch. Rossinis Augen funkelten ihn an. „Nach dem Essen … mit den Eltern. Auf der Gitarre gespielt, gesungen, ernste Lieder von Noten, am Schluss lustige Schnurren … wir kannten alle Volkslieder auswendig … es ging sehr fröhlich zu.“ Er merkte, wie warm ihm bei dieser Erinnerung wurde, über die er selten gesprochen hatte.
„In San Pietroburgo?“, fragte der Maestro.
Er schüttelte den Kopf und zwirbelte seinen Bart, wie immer, wenn er aufgeregt war. „Das war noch in Moskau. Manchmal gingen wir ins Theater. Am Nachmittag, auf Stehplätzen.“ Er musste kurz lachen, Rossini lachte aufmunternd mit, obwohl er den Grund nicht kannte, das Mädchen hatte den Kopf schief gelegt und sah ihn schmunzelnd an. „Mein Lieblingsstück … ich war sieben … war ‚Schoko, der brasilianische Affe‘.“
„Schoko!“, rief Pantalone, der den Namen im Gespräch mit seinem Tischnachbarn aufgeschnappt hatte. Auf einmal waren wieder alle Augen auf dem anfangs so schweigsamen, langsam in Fahrt kommenden Gast.
Auch Rossini kannte das Stück. „Es wurde in Paris uraufgeführt und ging dann auf Tournee“, sagte er.
„Im Bolschoj-Theater. Ich war hingerissen“, rief Dostojewskij beinahe über die Tafel hin, sofern das seine heisere, vom langen Alleinsein und Schweigen wie verschlossene, ungeübte Stimme zuließ. „Der Hauptdarsteller sah wirklich täuschend wie ein Affe aus, er war ein perfekter Equilibrist … ich habe noch Monate von ihm geschwärmt, habe ihn sogar nachgemacht …“
In diesem Moment sprang Pantalone auf die Bank und begann eine ziemlich perfekte Affenkopie, die wohl ein kurzes Gelächter hervorrief, aber rasch zum Aufhören gebracht wurde, weil man den fabulierenden Russen nicht aus dem Mittelpunkt des Geschehens verlieren wollte und ihn drängte, nun seine eigene Affennummer vorzuführen. Die neben ihm rückten sogar zur Seite, um auch ihn auf die Bank steigen zu lassen, aber Dostojewskij winkte ab und ließ sich nur zu einem minimalistischen äffischen Grunzen, Zähneblecken und Unter-den-Achseln-Kratzen hinreißen, worüber er selbst so lachen musste, dass er sich an Brotkrümeln, die er im Mund hatte, verschluckte und hustete und keine Luft mehr bekam und die neben ihm ihn mit Schlägen auf den Rücken traktierten und er dabei immer weiter lachte und ganz rot wurde und Tränen aus den Augen rannen und alle mitlachten und ihn damit vollends in ihrer Runde und, das schien das Gleiche zu sein, in ihren Herzen aufgenommen hatten. Und Rossini betrachtete ihn mit den Augen eines liebevollen, stolzen und gerührten Vaters und Freunds.
„Alle Effekte“, röchelte der wieder zu Luft Gekommene, „das Springen von Baum zu Baum, die Elster … Schokos Tod … waren von Musik … illustriert!“ Hier lächelte der Musiker und schwieg. Da fiel Dostojewskij ein, dass es vielleicht ein Fehler war, ihm zu lange von einem fremden Stück vorzuschwärmen, und erzählte: „Als ich dann mit zwanzig in Petersburg anfing, ins Theater zu gehen, liefen die Vorstellungen der italienischen Operntruppen. Ihren ‚Karl der Kühne‘ habe ich mehrmals gesehen.“
„Ich habe keine Oper dieses Titels geschrieben“, korrigierte der Maestro, blieb aber auch bei dieser zweiten Verwechslung nachsichtig.
„So hieß Ihr ‚Wilhelm Tell‘ bei uns wegen der Zensur“, sagte Dostojewskij und hüstelte kichernd, stolz, auch eine kleine Pointe angebracht zu haben.
„Das wusste ich nicht“, sagte der Maestro, und Victoria lachte auf.
Die Küchengehilfen stellten vier große, dampfende Schüsseln auf den Tisch. Sie waren, der Russe schluckte, bis oben voll mit Pelmeni.
„Vorsicht“, scherzte Victoria und schüttelte eine Schüssel, wodurch die Nudeltaschen auf und ab sprangen, „die leben noch!“
„Ich kenne das“, erwiderte der Gast wie einer, der mit den Feinheiten der inländischen Küche vertraut ist, „das sind … Tortelli.“
„Tortellini?“, verbesserte das Mädchen, und der Komponist sprang ein: „Ravioli. Mit viererlei Füllung: Fleisch, Ricotta, Trüffeln, und hier: Ravioli tirolesi – eines der wenigen bemerkenswerten Dinge, die uns die Österreicher gebracht haben, gefüllt mit Käse und Spinat, die sogenannten Schlutzkrapfen. Sagen Sie Schlutzkrapfen, Dostojewskij.“
„Schltzkrpfn“, wiederholte er, alle lachten, aber die Aussprache fiel ihm aufgrund der überwältigenden Mehrheit der Konsonanten weniger schwer, als man gehofft hatte. Frische Gläser wurden gebracht und neuer Wein, diesmal in Flaschen.
„Ein Frascati aus Lazio.“ Rossini hielt seine Nase tief ins Glas. „Einmal habe ich – es war der sechsundzwanzigste November achtzehnhundertsiebenunddreißig – bei einem Baron in Umbrien zu Ravioli einen Rosé aus Apulien bekommen.“ Dies sagte er zu Pantalone hin, den es angewidert beutelte. „Es war ein schrecklicher Abend.“
Dostojewskij ließ sich von allen vier Sorten auf seinen Teller geben. Die Nudeln waren flacher und an den Rändern gezackt, aber wenn er die Augen schloss, konnte er dabei an Pelmeni denken.
Nach den Nudeln kamen große Fleischteile, die sich als ganze gebratene und geköchelte Gänselebern herausstellten. Der Maestro ging selbst von Teller zu Teller und überhobelte sie mit schwarzen Sommertrüffeln aus dem Périgord, die er, wie er stolz verkündete, am Pariser Markt gekauft hatte. „Der Trüffel ist der Mozart der Pilze“, sagte er, als er zu seinem Platz zurückkehrte. Dazu gab es Gavi di Gavi aus dem Piemont. Dostojewskij konnte sich nicht erinnern, je so viel gegessen zu haben, aber die verschiedenartigen Geschmackskapriolen, die die Gerichte auf seiner Zunge schlugen, überstrahlten ihren Sättigungswert, und die anregende Gesellschaft mit ihrer niemals stagnierenden Lebendigkeit nivellierte ihn geradezu. Als die Männer überraschend in die Küche gerufen wurden und Dostojewskij aufstehen wollte, legte ihm Rossini wieder eine Hand auf den Unterarm und befreite ihn von der Pflicht. Wie beim ersten Mal empfand der sonst Berührungsängstliche die Geste nicht als unangenehm. Und das kam nicht bloß, weil es Rossini war, der sie ausführte – dessen Hände übrigens auffallend schön, weiß, aristokratisch waren –, nicht bloß, weil Rossini für ihn Teil des großen, von klein auf erträumten und lebenslang idealisierten Mysteriums Europa und damit der Vervollkommnung von Kunst und Kultur und es ein wenig so war, als legten Schiller, Hoffmann, Bach und Balzac mit ihre Hand auf, sondern weil in der leichten, fast nur angedeuteten Berührung so viel Takt, Vorsicht, Respekt lagen, dass sie sich in der Ausführung beinahe selbst verneinte und für den Berührten alles andere als Besitzergreifung, Befehl, Maßregelung, vielmehr eine Bewusstmachung der eigenen Willenskraft und vielleicht – in der vermeintlichen Geste von Überlegenheit – ein tastendes Suchen nach der Stärke des Anderen, ein kurzes Ausruhen in dessen Energie war.
Die Männer schleppten eine riesige Schüssel – eher eine kleine Badewanne – heran, die sehr schwer zu sein schien. Sie war bis oben mit einer gelblichen Flüssigkeit gefüllt, aus der Gliedmaßen ragten, in der schwachen Beleuchtung war es schwer auszumachen, von was oder wem. „Hier kommt unser Kastrat“, sagte Rossini und hieß die Anderen mit einem „Sch!“ ruhig zu sein. Einer hob eine Art Schenkel aus der Wanne und ließ ihn wieder hineinfallen, wodurch diese ins Ungleichgewicht kam und fast umgekippt wäre, aber die Männer, allesamt athletisch, stemmten die Beine in den Boden und tarierten geschickt aus. Die Flüssigkeit gluckste unheimlich in der plötzlichen Stille des Raums. „Keine Sorge“, flüsterte Rossini. „Seit heute Morgen badet er zerteilt in mehreren Litern Zitronensaft. Ein sizilianisches Rezept: castrato marinato.“
Und auf Dostojewskijs erschrockenen Blick: „Ein castrato heißt castrato, ob es sich um einen Sänger oder, wie in diesem Fall, um einen Hammel handelt – ein kastriertes Schaf. Gleich wird er abgegossen, in gehacktem Knoblauch gewälzt – Letzteres traditionell von den Frauen – und am Grill gegart. Al lavoro, amici!“
Und die starken Männer, um die sich nun auch die Frauen scharten, schleppten das vorgeführte Tier zurück in die Küche, nahmen ihr Geplauder und Geschnatter wieder auf und machten sich an die Arbeit, und der Dichter und der Musiker saßen auf einmal allein an der langen Tafel mit den Kerzen und abgegessenen Tellern, schwiegen und schauten einander in die Augen, was man im Halbdunkel tun konnte, ohne aufdringlich zu sein oder sich belästigt zu fühlen. Zurückgelehnt ahnte man die Augen des Anderen mehr, als man sie sah.