Читать книгу Orangen für Dostojewskij - Michael Dangl - Страница 12

2

Оглавление

Es war Samstagabend, und wenn sich die Venezianer in einem untragbaren Belagerungszustand befanden, wie es der Aristokrat gestern Abend eindrücklich geschildert hatte, dann wussten sie mit dieser Not gut umzugehen. Die Luft war voll Oleander und guter Laune. Paare flanierten lachend in alle Richtungen, grüßten einander, hielten zu kurzen Plaudereien, alle schienen alle zu kennen und sich ihrer zu freuen, der Ziehharmonikaspieler aus seinem Schlummer stand wirklich mitten auf der Straße, wünschte jedem Herankommenden höflich einen Guten Abend und spielte seine süßen, wehmütigen Lieder nahe an die Vorbeigehenden heran, um ihr Gemüt nur ja zu einer Gabe in die am Boden aufgelegte Kappe zu bewegen. Es hatte Abende und vor allem Feiertage gegeben, am Newskij-Prospekt, wenn sich die Petersburger zu ihrem Vergnügen ergingen, fein gekleidet und festlich gestimmt, Stunden in den Weißen Nächten, wenn die Menschen halb verrückt vor Frühling und Liebe die Straßen an den Ufern der Kanäle durchschwärmten, doch nie war die Stimmung so ungezwungen, von jeder Bedenklichkeit frei gewesen wie hier, nie zuvor hatte Dostojewskij erlebt, dass eine menschliche Gemeinschaft so – nur widerwillig gestand er sich dieses Wort ein, aber es war das einzige, das wirklich zutraf – leicht war.

Von der eisernen Brücke vor der Accademia, die er nun mühelos erklomm, schaute er auf eine prächtige in der Sonne leuchtende Kirchenkuppel und den Canal Grande, den er unschwer als solchen erkannte und der nicht anders zu benennen war als „groß“, nicht wegen seiner messbaren Ausdehnung, sondern wegen seiner unfassbaren Lebendigkeit aus Farben, Bewegung, Licht, Lachen, Stimmen … ihm war auf einmal, als riefen sie alle zu ihm herauf und wollten ihn mitreißen, der er da an der Brüstung gesenkten Hauptes stand, ein Pfahl im strömenden Fluss des venezianischen Abends … er spürte auf einmal eine solche Sehnsucht … wenn jemand es ihm befohlen hätte, er hätte mit Freude sein Herz in den Kanal hinabgeworfen. Wahrscheinlich würde es gleich untergehen, schwer, wie es war. Aber der Flug wäre schön gewesen, dachte er, die zwei Sekunden freien Falls.

In Venedig nach dem Markusplatz zu fragen, war ein leichtes Unterfangen. Die Hände flogen schon nach dem Wort „Piazza“ in die gesuchte Richtung, das „San Marco“ wollten die meisten gar nicht mehr hören. Einmal brauchte Dostojewskij nur den Mund zur Frage zu öffnen, und der Entgegenkommende warf seinen Daumen, ohne aufzusehen, über die Schulter. Schließlich brauchte es kein Fragen mehr. Aus den Häusern und Gassen kamen die Menschen und gliederten sich der Menge ein, die nur ein Ziel hatte, und sie nahm ihn mit und spülte ihn zuletzt über die Marmorstufen einer Arkade hinab und entließ ihn nur, um von etwas viel Größerem empfangen zu werden, von dem er bislang keinen Begriff gehabt hatte und das sein Herz einen langen Augenblick stillstehen ließ, ehe es wild losschlug wie nach einem heftigen Schreck oder unvermittelter Freude. Ein wenig fühlte er sich daran erinnert, wie er zum ersten Mal einen Ballsaal im Winterpalast des Zaren betreten hatte, auch das ein Ort, von dem man von klein auf geträumt, den man lange ersehnt hatte, und nun war man da, und der Ort war so aufgeladen mit Traumbildern und Sehnsüchten, dass man Wirklichkeit und Vorstellung nicht unterscheiden konnte und nur wusste, spürte, dass man angekommen und der Weg, wie steinig und mühsam immer, es wert gewesen war, mehr: im selben Moment schon vergessen. Nur war der „Ballsaal“ hier so viel größer, weiter, nach oben offen, und die Ballgesellschaft war das Volk, alle waren geladen, und ihre tausendfachen Stimmen waren die Musik, und ihre hunderttausendfachen Schritte und Bewegungen und Drehungen der Tanz, und das Fest, das gefeiert wurde, geschah nicht zu Ehren eines herrschaftlichen Geburtstags oder eines militärischen Sieges, sondern du selbst fühltest dich deines Daseins gefeiert, dein Sieg, am Leben zu sein trotz allem und allem, war der Anlass. Das Fest, beleuchtet und angeheizt von der kräftigen, widerspruchslosen südlichen Sonne, galt, und das war es, was Dostojewskij in vierzig Jahren noch nie erfahren hatte, dem Leben selbst. Dieser auf drei Seiten von identischen Arkaden und Fassaden eingefasste Festsaal mündete auf der vierten in die verschnörkelten, verspielten Formen der Basilika, deren goldene Kuppeln im Blau des Himmels wogten und den auf der entgegengesetzten Seite des Platzes Stehenden an die menschentragenden Ballone erinnerte, die er in London aufsteigen gesehen hatte. Sehr prosaisch riss ihn die Stimme eines Mannes hinter ihm aus dem Staunen.

„Very famous place“, sagte dieser mit einer Aussprache, als kaue er an den Worten im Mund herum und so, als offenbare er ein Geheimnis. Dostojewskij drehte sich um und sah, dass der Mann zu seiner Frau gesprochen hatte und dass es keine Ironie gewesen war, denn die Frau riss tatsächlich die Augen auf und fragte ungläubig: „Yes?“

Er bewegte sich vorwärts, geradewegs durch die Menge, wobei er sehr bemüht war, niemanden zu berühren und von niemandem angestoßen zu werden, denn Kontakt mit fremden Körpern, und sei es durch noch so viele Schichten Stoffs, war ihm unangenehm und peinlich. Als sich zu seiner Rechten eine Lücke auftat, nützte er sie, um einige Meter zu gewinnen, doch da sah er, dass die Lücke das Ende einer regelrechten Gasse war, die sich im Gedränge gebildet hatte, und dass die Ursache zwei Polizisten waren, die sich keinen Weg zu bahnen brauchten, weil der Weg durch die vor ihnen zurückweichenden, ausweichenden Menschen von selbst entstand, niemand wollte mit ihnen zu tun haben und hielt sie auf möglichst weitem Abstand wie Aussätzige, und da er diesen Raum, diese Respekts- oder Verabscheuungsblase, die die zwei Uniformierten um sich trugen, betreten hatte und sie in seine Richtung gingen, stand er auf einmal vor ihnen. Sie waren sehr jung, trugen beide Schnurrbart und sahen aus, als wären sie theatermäßig als Zwillinge geschminkt. Die vier Augen bohrten sich in ihn wie Bajonette.

„Haben Sie einen Pass?“, fragte der eine in lautem, schmetterndem Deutsch. Seine Stimme war aus Eisen, und die Frage fühlte sich an wie ein Schlag in den Magen.

„Natürlich“, gab Dostojewskij auf Deutsch zurück. Und weil Zorn in ihm hochstieg, setzte er hinzu: „Ich bin ja kein Passloser.“ Es war ein Reflex, der ihm bei Kontrollen in Deutschland häufig widerfahren war. Niemand von den Fragenden konnte wissen, dass in Russland ein „Passloser“ ein Sträfling war. Doch die Frage löste bei ihm Scham und Bitterkeit aus.

„Vorweisen!“, bellte der andere. Es war auffällig, dass sie sich nicht die geringste Mühe gaben, freundlich zu sein. Man fühlte sich sofort verhaftet, und ihr erstes Wort war schon ein Verhör. Dostojewskij wies seinen Pass vor. Der eine Beamte blätterte ihn langsam durch, während der andere die Augen nicht eine Sekunde vom Objekt ihrer Examinierung ließ.

„Russkie“, kam nun mit schauerlichem Akzent und Hohn in der Stimme. Doch da schrie jemand in der Menge, und die Köpfe der Diensttuenden schnellten hin, und aus dem Schrei des Einzelnen wurden die Rufe vieler, vielleicht war ein Taschendieb ertappt worden, und schon waren die beiden dabei, sich durch die Menge zum Ort des Geschehens zu drängen, denn die Leute blickten in die Richtung, aus der der Lärm kam, und sahen die Polizisten nicht und konnten ihnen keine Gasse bilden und wurden sehr grob, beinahe brutal zur Seite gedrängt und gestoßen, einer, ein alter Mann, fiel dadurch sogar hin und wurde von den Umstehenden aufgehoben, und Dostojewskij stand da mit dem Pass in der Hand, die zitterte, und weißen Lippen und schien in einer Minute um einen Kopf kleiner geworden zu sein. Mechanisch ging er mit kleinen Schritten über den Platz und fühlte auf einmal wieder die Ketten an den Füßen, die er in Sibirien getragen hatte, und die ganze Schwere der Schuld, die eine um nichts als sich selbst besorgte Staatsmacht ihm umgehängt hatte, drückte ihn wieder und warf ihn um dreizehn Jahre zurück, als er von der menschlichen zivilen Gesellschaft entfernt und zum Antritt seiner Strafe expediert worden war, nach deren Verbüßung er vor drei Jahren äußerlich zu dieser Gesellschaft zurückgekehrt war, doch jetzt fühlte er, wie wenig er diese Rückkehr innerlich vollzogen hatte. Eine harmlose Passkontrolle schmiss ihn aus jeder vermeintlichen Sicherheit und wies ihm seinen Platz zu, der der eines Verurteilten, eines Schuldigen, eines Rechtlosen war. Die Macht hatte auf ihre verachtende, perfide Art Guten Tag gesagt und den Glanz des Orts, den Anflug von Freude, den er in seiner Brust gespürt hatte, weggewischt, als müsste er wieder und wieder vor Gericht stehen, verurteilt, gebrandmarkt für alle Zeit. Als er um den Campanile nach rechts bog, wo der große Platz in einen kleineren, nicht weniger belebten überging, der am Hafenbecken endete, läuteten gerade die Glocken oben im Turm, wie sie von der Peter-und-Paul-Kirche zur neunten Abendstunde geläutet hatten an jenem vierundzwanzigsten Dezember, als er in einem von vier offenen Pferdeschlitten durchs Festungstor gefahren wurde, über den Newskij-Prospekt, vorbei an hell erleuchteten Wohnungen mit festlich geschmückten Christbäumen. Am Ural blieben Pferde und Schlitten in den Schneewehen stecken, die Häftlinge mussten aussteigen und bei minus vierzig Grad im Schneesturm stehend stundenlang warten, bis die Schlitten wieder freigemacht waren. Es war die Grenze Europas. Vor ihm Sibirien und ein ungewisses Schicksal, hinter ihm die Vergangenheit und sein bisheriges Leben, das abgeschnitten, abgerissen war. Wieder, wie damals, schnürte es ihm den Hals zu, als er sich in diesen Moment zurückversetzt fühlte, und wieder, während er bei plus vierzig Grad durch die quirligste, heiterste Menschenmenge in schweißtreibendster südlicher Glut schritt, fror er, wie damals, bis ans Herz. Die wochenlange Fahrt nach Omsk war nur ein Anfang gewesen: der vier Jahre Zuchthaus, der Zwangsarbeit, des Hungers, der Krankheiten und Demütigungen und der ständigen Konfrontation mit den Abgründen menschlichen Seins, ein Anfang der weiteren sechs Jahre als gemeiner Soldat, bleierne Jahre in einer Provinzstadt am Ende der Welt, ein Anfang von insgesamt zehn Jahren Entrechtung, des Entzugs von jeglichem zivilisierten Umgang, Jahre des Schreib- und Publikationsverbots. Dieses eintönige Leben hat mich gebrochen, dachte Dostojewskij, als er am Hafen mit den Frachtschiffen, den Gondeln und all den kleinen Barken und Barkassen stand und auf das Meer schaute, das hier aber noch von allen möglichen Inselchen und Inseln, von denen er keine Ahnung hatte, bestimmt und begrenzt wurde, wie das makellose Blau des Himmels eingerahmt war von feinen wattebauschartigen Wölkchen am fernen Horizont.

Er ging die Uferzeile weiter, bis die Häuser immer einfacher wurden. Er ging nicht gern zu Fuß, aber er tat es auch zu Hause jeden Tag, wie hier über Brücken und Kanäle, weil er im Gehen allein war und denken konnte und weil es ihn müde machte und Müdigkeit ihm guttat. Er hatte wieder zu lange nichts gegessen und kehrte um, zurück bis nahe an den Markusplatz, wo die Lokale häufiger waren. Von den vielen Restaurantterrassen wählte er, einem unerklärlichen Sehnsuchtsschub beim Lesen des Namens folgend – obwohl er an London alles andere als gute Erinnerungen hatte –, die des Londra Palace.

Am Anfang der Reise hatte er sich angewöhnt, wenn möglich auf den Terrassen der Restaurants zu essen, weil die Tische in den Sälen zu eng standen und die Deutschen immer so neugierig schauten, was er bestellt hatte. Da nun auch hier die tedeschi regierten, nahm er lieber in einem der eleganten beschatteten Fauteuils im Freien Platz. Die Speisekarte verkündete auf Italienisch, Deutsch und Französisch, dass man sich freue, den Gästen jeden Wunsch zu erfüllen. Das Bier kam zu seiner Enttäuschung nicht offen, sondern in einer kleinen Flasche und war kälter, als es Bier zusteht. Als er den Löffel in die appetitlich aussehende Suppe tauchte, erschien ein Kellner mit einem schweren Stück Käse und hobelte ihn mit einer Reibe über den Teller, deckte die Suppe völlig damit zu, und der Geruch verdarb ihm den Appetit. Missmutig fischte er ein paar Brocken Gemüse unter dem Käse hervor, und obwohl er sich im Gefängnis an Suppen voll Küchenschaben hatte gewöhnen müssen, schickte er den Teller zurück und bat erneut um die Karte. Als er nach längerem Studium aufschaute, bekamen Gäste drei Tische weiter gerade ihr Essen, und Dostojewskij machte, um seinen Blick zu schärfen, die Augen schmal, denn was er sah, war zu schön, um wahr zu sein, es war sein geliebtes Gericht, das er in Sibirien kennengelernt hatte: gefüllte Teigtaschen – Pelmeni! Er schlug die Karte zu und rief den Kellner. Um seine Euphorie zu überspielen, murmelte er eher undeutlich und mit dem Gestus weltmännischer Gelassenheit: „Pelmeni“, und machte eine kleine Bewegung mit dem Kopf zum Tisch, wo die Gäste mit großem Genuss ihre Teigtaschen verzehrten. Der Kellner, der seine Augen am Schreibblock hatte, sah die Kopfbewegung nicht, stockte aber, als er das Wort hörte, aus irgendeinem Grund, ehe er es aufschrieb. Dostojewskij lehnte sich befriedigt zurück und wartete. Sibirische Pelmeni in Venedig. Was es alles gab. Nach einiger Zeit steckte der Kellner den Kopf aus der Tür, zeigte auf ihn und sagte etwas zu einem anderen Kellner, der feiner angezogen war. Beide verschwanden. Kurz darauf kam der andere, der wohl ein Vorgesetzter war, und fragte sehr höflich:

„Scusi, Signore, lei desidera pelle di mele?“

Dostojewskij kam die italianisierte Form des Namens seltsam vor, aber er hatte keine Lust auf Komplikation und sagte, aus Scham, kein Italienisch zu können, das beabsichtigte „Oui“ verwechselnd, laut „Da“. Der feine Herr verneigte sich und ging. Nach fünf Minuten öffnete sich ein kleines Fenster am Eck des Restaurants und ein Koch schaute verwundert auf den Gast, der die Suppe hatte zurückgehen lassen, schnalzte mit der Zunge und machte das Fenster zu. Nach weiteren fünf Minuten brachte ein Kellner einen Teller mit etwas, das aussah wie grüne Apfelschalen. Sehr sorgsam vom Apfel oder von den Äpfeln gelöst, geradezu kunstvoll geringelt und drapiert und mit roten Tropfen besprengt, die nach Erdbeere rochen, liebevoll angerichtet, aber eben doch – Schalen. Als der erste Kellner heraustrat, winkte er ihn zu sich.

„Qu’est ce que c’est?“

„Come?“

„What is this?“

„Cosa lei ha desiderato …“

„Schto?“, entfuhr es ihm auf Russisch.

„Cio?“, echote der Kellner ratlos. „Un attimo, per favore.“

Der Vorgesetzte kam und fragte auf Französisch, was der Herr bestellt hätte, nun, Pelmeni, sagte der und wies zum Nebentisch, wo die Gäste aber inzwischen Eis löffelten. Beide schwiegen einige Sekunden. Dann klärte sich die Sache auf. Das Wort „Pelmeni“ war hier völlig unbekannt. Der erste Kellner hatte sich Pelle di meli zusammengereimt, die falsche Pluralform meli statt mele für „Äpfel“ verwendeten viele Ausländer, pelle war auch nicht ganz korrekt, das hieß „Haut“, aber gut. Und ihnen sei eingetrichtert, den Gästen wirklich jeden Wunsch zu erfüllen, und da auch Essig aus Apfelschalen gemacht wurde, dachte man sich, warum nicht.

„Und was haben die Herrschaften vorhin dort gegessen?“

„Gefüllte Teigtaschen.“ Dostojewskij schaute verständnislos.

„Tortellini.“

„Nun gut.“ Er legte die Hände auf den Tisch und atmete durch. „Dann bringen Sie mir das, bitte.“

„Es tut mir leid, die Küche hat bereits geschlossen.“

„Dann die Rechnung bitte.“

Diese Untugend zog sich durch Europa: das frühe Schließen der Lokale. In Russland bekam man die ganze Nacht etwas. Drei Löffel Gemüse und ein kleines Bier – die Apfelschalen wurden nicht in Rechnung gestellt – kosteten mehr, als er je auf der Reise für ein Hauptgericht bezahlt hatte.

Es war immer noch heiß, doch waren die fernen Wolkenfronten inzwischen näher gerückt und bevölkerten den dämmernden Himmel wie eine riesige Herde kleiner Schafe. Die ins Meer tauchende Sonne beleuchtete sie blutrot. Über den Inseln verfärbten sie sich grau. Am Markusplatz war inzwischen Struktur in das bunte Treiben gekommen. Eine Militärkapelle hatte sich vor den nun gasbeleuchteten Arkaden hinter den Tischen eines Cafés postiert, an denen vornehme Damen und Herren, darunter viele österreichische Offiziere, bei Kaffee, Eiswasser, Likören und Zigarren saßen, plauderten und der Musik lauschten, während über den weitaus größeren Teil des Platzes hin eine dichte Menge von Männern und Frauen aus dem Volk stand oder auf- und abging, venezianische Familien mit Kindern, bizarre Gestalten in griechischer und türkischer Tracht, Bettler, Verkäufer von Süßigkeiten, Nonnen und Seemänner. Die Kapelle, gut sechzig Mann, spielte österreichische beschwingte Musik, wahrscheinlich aus Operetten, etwa die Hälfte der über den Platz ziehenden Venezianer hatte sich in gemessenem Abstand vor die Kaffeehaustische gestellt und lauschte ebenfalls der Musik, wobei es aber den Eindruck machte, als gehörte die feine Gesellschaft zur Darbietung und als betrachtete ein Publikum von einem gigantischen Stehparkett aus ein Schauspiel, dessen Akteure saßen und von Musik begleitet wurden. Die Heiterkeit der Klänge stand in befremdlichem Kontrast zu der gespannten Situation. Denn so manche der in hellen, leichten Kleidern und Anzügen Dasitzenden fühlten sich mit ihren Kuchengabeln und Porzellantassen sichtlich unwohl unter den ernsten Blicken der dunklen, schwarz gekleideten Menge, der vielen hohlwangigen, großäugigen Kinder, und wären gerne unter sich gewesen. Diese still und bedrohlich dastehende Menge, die in einer geradezu grotesken Überzahl war, hörte gebannt auf die Musik. Doch war ein Stück zu Ende, rührte sich keine Hand zum Applaus. Es war klar, dass das als Verrat gegolten hätte – an ihrem Land, an ihrer Stadt, die besetzt und beherrscht war von einer fremden, gefürchteten, verhassten Macht. Ihr Schweigen hatte etwas von einem stummen Schrei.

Dostojewskij schaute und hörte vom Vorplatz der Kirche aus zu. Er mochte das Gescheppere und Gedudel nicht. Die letzte musikalische Darbietung, die ihn zutiefst berührt hatte, war in Wiesbaden das Stabat Mater von Rossini gewesen. Außerdem beklemmte ihn die geladene Atmosphäre auf dem Platz, und er fragte sich, welche seine Rolle in dem traurigen Stück wäre, das hier gespielt wurde. Sicher nicht unter denen, die sich als die Herren großtaten. Viel eher sah er sich beim Volk hinter dieser unsichtbaren Glasscheibe stehen, die seit je und für immer Arm von Reich, unten von oben zu trennen schien, beim Volk, für das sein Herz schlug, seit er dem russischen in der Verbannung so nahe gekommen war wie nie zuvor. Er wollte gerade weitergehen – die Kapelle spielte einen Militärmarsch und hielt einen langen Trommelwirbel –, als ein gewaltiger Donner das Szenarium erschütterte und die Blicke aller auffahren ließ, die der Sitzenden wie der Stehenden, der Flanierenden wie der Musizierenden, zu einem trotz der zarten Bewölkung heiteren Himmel, der diesen Kanonenschlag von wer weiß wo geschickt hatte, nur einen, ohne das Nachspiel eines Gewitters, ohne einen Hauch Wind, an einem heißen, ruhigen, friedlichen Abend, ein Donner nur, ein furchtbares, alles durchdringendes Krachen, das tausend Tauben auffliegen ließ zu den schützenden Fensterbögen über dem Platz und das gut eine halbe Minute nachgrollte. Es war ein unheimlicher Moment, und es fiel schwer, ihn nicht als einen Kommentar zu der Zerrissenheit des Orts, der Stadt, der Völker zu verstehen.

Die Kapelle fiel danach wieder in das Marschmotiv, aber irritiert und gedämpfter und bemüht, einen gemeinsamen Takt zu finden, die Damen und Herren an den Tischen retteten sich in lustige Bemerkungen zueinander, und die Menge schwieg weiter. Dostojewskij nützte die erstbeste Gasse und verließ den Platz.

Im Gewirr der Wege versuchte er, sich links zu halten und so, den Platz umgehend, Richtung Hotel zu kommen. Er wollte eine Kleinigkeit zu essen kaufen und den Rest des Abends in seinem Zimmer verbringen. Doch der innere Kompass, den er in Petersburg benutzte, funktionierte hier nicht, und bald musste er sich eingestehen, überhaupt keine Orientierung zu haben. In einer langen, engen Gasse kamen ihm drei Polizisten entgegen. Schon von Ferne nahmen sie ihn ins Visier, und es gab keine Möglichkeit, abzubiegen und der Begegnung zu entgehen. Als sie fünf Schritte vor ihm waren und einer bereits Anstalten machte, ihn anzusprechen, zog Lärm aus einem winzigen Lokal ihre Aufmerksamkeit ab und sie duckten sich alle drei durch die niedere Tür und waren verschwunden. Dostojewskij warf im Vorbeigehen einen vorsichtigen Blick hinein und sah eine Gruppe Männer mit Schnapsgläsern, die, in einer hitzigen Debatte unterbrochen, verdutzt den Uniformierten gegenüberstanden. Erleichtert ging er weiter.

Raskolnikow sollte im Roman die Polizei selbst auf seine Fährte bringen, dachte er. Da sein Verbrechen ihn auch äußerlich aus der Gesellschaft katapultierte, zu der er innerlich nie gehört hatte, konnte seine Rettung nur im Bekenntnis seiner Schuld und in der Verhaftung bestehen. Die Geschichte über Lacenaire mussten er und Michail in der „Zeit“ in ihrer Rubrik „Verbrechen und Strafen“ bringen. Und während er in Gedanken einen Handlungsstrang des Romans bis zum möglichen Ende weiter verfolgte, gingen seine Beine lange ziellos über Treppen und Wege, kleine Plätze und schmale Brücken, bis er sich auf einmal vor der breiten Wasserstraße fand, die der Canal Grande sein musste. Im ersten Moment glaubte er sogar, die Brücke zur Galerie und zu seinem Hotel auszumachen, und lobte seinen Instinkt, doch zu früh, die Brücke war aus Stein und hatte Aufbauten in der Mitte und war, jetzt erinnerte er sich an Darstellungen, keine geringere als die von Shakespeare verewigte, berühmte von Rialto.

Händler packten ihre Stände zusammen, an der Brüstung oben in der Mitte der Brücke war Dostojewskij allein. Hier hat alles begonnen, dachte er. Auf einer Insel im Sumpf der Lagune lag das Fundament eines Weltreichs. Auch Peter der Große hatte seiner neuen Hauptstadt ein viel verzweigteres Netzwerk von Kanälen geben wollen, als es dann die Gefahren durch Stürme und Fluten zugelassen hatten. Aber die Anordnung der Straßen auf der Wassiljewskij-Insel im Sumpf des Newa-Deltas, des neuen Zentrums des russischen Imperiums, erzählte noch davon, dass sie in Wahrheit nie ausgehobene Wasserwege waren. Der Blick von der Rialto-Brücke war ein lebendes Gemälde. Nur wenige Fenster der alten Paläste waren erhellt. Feierten hier österreichische Besatzer in den Sälen und Betten der vertriebenen Aristokraten wilde Feste? Oder waren auch die Österreicher im Feiern so, wie die Deutschen in ihren Gasthäusern saßen, verkniffen und steif? Dazwischen lachten sie manchmal laut auf und schlugen mit der Faust auf den Tisch, das war dann ihre gute Laune. Weit konnte man die Augen den Kanal hinunter treiben lassen, bis er hinter einer Kurve verschwand. Weite Ausblicke schienen in Venedig, bewegte man sich von seinen Rändern weg, selten zu sein. In Petersburg waren sie die Regel, da die Häuser mehr auseinanderstanden und niedrig waren. Das machte den Himmel so vorherrschend. Petersburg war eigentlich ein großer Himmel, mit etwas Bebauung darunter. Aus der heraus man immer wieder in die Ferne sehen konnte. Die langen Prospekte führten vom Zentrum sichtlich hinaus ins russische Riesenreich. Sie kündeten vom ersten Schritt an davon, dass der Weg weit sein würde. Und kam man über sie von auswärts an die Stadt heran, sah man viele Meilen voraus Zeichen des Zentrums, auch wenn sie, wie die goldene Nadel der Admiralität, fein und schlank und nicht allzu hoch waren.

Und doch dachte Dostojewskij daran, wie er am Vorabend der Abreise an der Brüstung einer Newa-Brücke gestanden und Sankt Petersburg betrachtet hatte. Irgendeine Eigenschaft lag in diesem Panorama, hatte er gedacht, die alles auslöschte, alles tötete, gleichsam auf Null stellte. Eine ganz unerklärliche Kälte ging von ihm aus, ein seltsamer Geist der Stummheit, des Schweigens, ein irgendwie stummer und tauber Geist lag ausgegossen darin. Er konnte es nicht ausdrücken … es war nicht einmal Leblosigkeit, denn gestorben war doch nur, was einmal lebendig war, aber das wusste er, seine Empfindung war nicht abstrakt gewesen, ausgedacht, sondern eine ganz natürliche, unmittelbare. Er hatte Venedig nicht gesehen, aber dort wäre es wahrscheinlich anders, war seine Vermutung gewesen. Und nun stand er hier, und seine Handflächen fühlten am Stein der Brüstung die Wärme des Tags, und mit ihr die Glut der Jahrhunderte, die diese Stadt erbaut und belebt hatten. Und ein seltsames Gefühl erfasste ihn, eine Ahnung von etwas, das er sich nicht erklären konnte. Er glaubte nicht, dass sein Eindruck von Petersburg nur seiner Erschöpfung zuzuschreiben war, auch wenn die Ärzte ihm dringend zu einem Erholungsurlaub geraten hatten. Zweieinhalb Jahre nach seiner Rückkehr aus Sibirien war er durch umfangreiche Verpflichtungen im Dienst der „Zeit“ – dem Lesen und Lektorieren von Manuskripten, Übersetzungen, öffentlichen Lesungen –, die er neben seiner eigentlichen Schreibarbeit zu erledigen hatte, am Ende seiner Kräfte gewesen. Die epileptischen Anfälle waren stärker geworden. Gegen seine chronischen Atemwegsbeschwerden wurden ihm die Wasser von Bad Gastein und Seebäder in Biarritz empfohlen. Doch ihn zog es an die Orte seiner so lange gehegten Sehnsüchte und Erwartungen, in das Land, in dem Schiller den Traum von der humanisierenden Macht des Schönen und der unersetzbaren Rolle der Kunst in der Menschheitsentwicklung geträumt hatte, in die Stadt Hugos, bei dem er zum ersten Mal realisiert sah, was er als den Hauptgedanken aller Kunst im neunzehnten Jahrhundert bezeichnete: die Wiederherstellung des untergegangenen Menschen, der zu Unrecht unter der Last der gesellschaftlichen Umstände und Vorurteile erdrückt wurde. Ein christlicher und moralischer Gedanke, wie er ihn vor Kurzem im Vorwort zur russischen Ausgabe des Romans „Notre-Dame de Paris“ formuliert hatte. Schon früh war Dostojewskij die Ordnung der Außenwelt als ein schöner Schein der Oberfläche erschienen, der etwas anderes verdeckte, das unbekannt war und furchtbar sein konnte. Daher hatte die Kunst die Aufgabe, das Verdeckte sichtbar zu machen, unter die Haut zu schauen, die Knochen aufzuzeigen, die den Menschen aufrecht hielten und bewegten, der Wahrheit näherzukommen. Die Kunst hatte die Verpflichtung dazu. Und so war er nach Europa aufgebrochen, hatte das Resthonorar der Verdichtung seiner Eindrücke im sibirischen Gefängnis Frau und Stiefsohn überlassen und raste nun schon über zwei Monate durch diesen Kontinent seines hartnäckigen Glaubens und hatte Angst, sich das Ausmaß seiner Enttäuschung und Verbitterung darüber einzugestehen. In diesem Moment befiel ihn eine solche Sehnsucht nach seiner Frau, dass er glaubte, in der Sekunde verrückt zu werden. Wie konnte er sie so lange mit ihrer Krankheit allein lassen. Hatte er nicht vor Gott geschworen, immer für sie da zu sein? Und sosehr er sich auch im Klaren war, dass die Sehnsucht nach ihr die Sehnsucht nach der Anfangszeit ihrer Verliebtheit war, und sosehr er spätestens seit gestern Abend wusste, dass sie mit ihrer Ehe an einem toten Punkt angekommen waren, wusste er im selben Moment, dass er nicht aufhören konnte, sie zu lieben, ja je unglücklicher sie miteinander waren, desto mehr würde er sich an sie schließen, bis zum Ende. Und da war es ihm schlagartig klar, dass er sofort abreisen musste, morgen früh. Sein Geld war aufgebraucht, seine Reiseenergie verpufft, da das Glücksspiel von den Österreichern verboten war, sah er keine Chance, beides wieder zu vermehren, und Venedig selbst, ihre Schönheit, ihren Reiz, er sah sie wohl, an sein Herz drangen sie nicht.

Die letzten Händler waren abgezogen. Es war dunkel geworden. Und still. Ein beinahe voller Mond stand am Himmel. Dostojewskij nahm Abschied. Von Venedig, von West-Europa. Und das war zugleich ein Abschied von Träumen, die aus der Kindheit kamen und den jungen Mann in ihm beflügelt hatten. Es war ein Abschied von seiner Jugend. Er stützte die Ellbogen auf und legte die Hände an die Wangen und die Fingerspitzen an die Schläfen. Er kannte den Zustand, der sich seiner bemächtigte. Er hatte ihn beschrieben. Er hatte es ein „mystisches Entsetzen“ genannt, „die Furcht vor etwas, das er selbst nicht angeben konnte, etwas Unfassbares, gar nicht Existierendes in der Ordnung der Dinge, das im Begriff war, wirklich zu werden, wie zum Hohn auf alle Beweise der Vernunft …“. Lange stand er so. Und da er den Kopf schwerer werden fühlte, löste er die Arme von der Brüstung und legte die Stirn auf den warmen Stein, wie man sie sonst zur Kühlung auf etwas legt, jedenfalls zur Linderung, oder auch zum Gebet … als er hinter sich ein Geräusch hörte.

Orangen für Dostojewskij

Подняться наверх