Читать книгу Mensch, Musik, Bildung - Michael Dartsch - Страница 8

Оглавление
2[31] Pädagogische Grundorientierungen
2.1Ethische Orientierungen
2.1.1Zur Notwendigkeit ethischer Orientierung

In der Vorrede der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten unterscheidet Kant zwischen materialer und formaler Vernunfterkenntnis. Die formale Vernunfterkenntnis „beschäftigt sich bloß mit der Form des Verstandes und der Vernunft selbst, und den allgemeinen Regeln des Denkens überhaupt, ohne Unterschied der Objekte“. Kant ordnet ihr die Wissenschaft der Logik zu. Die materiale Vernunfterkenntnis, „welche es mit bestimmten Gegenständen und den Gesetzen zu tun hat, denen sie unterworfen sind, ist wiederum zwiefach. Denn diese Gesetze sind entweder Gesetze der Natur oder der Freiheit. Die Wissenschaft von der ersten heißt Physik, die der anderen ist Ethik; jene wird auch Naturlehre, diese Sittenlehre genannt“ (Kant 1996, S. 11)1.

Wer also Orientierung in einer bestimmten Materie sucht, der ist zunächst auf die „materiale Vernunfterkenntnis“ angewiesen. Kant bestimmt ihm hier zwei Orientierungsperspektiven, die man auch plakativ als das Sein und das Sollen bezeichnen kann. Im Bild des Zurücklegens eines Weges kann deutlich werden, was gemeint ist: Einen Weg zu gehen erfordert zweierlei: zum einen die Kenntnis des Wegenetzes – das in seinem So-und-nicht-anders-Sein für das Sein stehen mag –, zum anderen ein Ziel, das man erreichen möchte oder muss – was hier das Sollen repräsentiert. Allgemein gesprochen benötigt man zur Orientierung innerhalb eines bestimmten Ausschnitts der Welt einerseits ein Wissen über die Verfasstheit der wichtigen Elemente dieses Ausschnitts und andererseits ein Wissen um Ziele, Normen, Werte oder Sinnstrukturen, die das Tun innerhalb des in Rede stehenden Ausschnitts der Welt leiten können.

Dass das Sein alleine noch keine Ziele vorzugeben vermag, wird in der Philosophie in der Warnung vor dem so genannten „naturalistischen Fehlschluss“ ausgedrückt (vgl. dazu auch: Treml 2004, S. 47ff.): Aus dem Sein kann nicht das Sollen abgeleitet werden. So betont David Hume, eine Sollensforderung, die aus einer Beschreibung hervorgehe, stelle eine grundsätzlich neue Behauptung dar, da es sich in dem einen Gebiet ganz anders verhalte als in dem anderen. Er weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich in Texten seiner Zeit häufig unmerklich ein Wechsel von Betrachtungen über menschliche Angelegenheiten zu Sätzen mit den Worten „sollte“ oder „sollte nicht“ vollziehe, für den die unabdingbar notwendige Begründung gewöhnlich fehle. Für Hume bringt diese Erkenntnis alle gewöhnlichen Moralsysteme zum Einsturz (Hume 1965, S. 469f.; vgl. Ricken 1983, S. 43ff.; Irrgang 2001, S. 231f.). Der Philosoph Georg Edward Moore vermerkt dazu, dass das in Natur und Zeit Vorfindbare allenfalls das Natürliche im Sinne des Normalen oder Notwendigen, nicht aber das ethisch Gute zu begründen vermöge (Moore 1956, S. 41ff.). Wo feststellbare Eigenschaften natürlicher [32]Objekte mit dem Guten identifiziert werden, spricht Moore von „naturalistic fallacy“ (S. 10). Stattdessen beharrt er darauf, dass das Gute niemandem, der es nicht bereits wisse, zu erklären und damit grundsätzlich nicht zu definieren sei (S. 7f.).

Dagegen liegen für John Searle nicht bei allen Übergängen von Beschreibungen zu Vorschriften naturalistische Fehlschlüsse vor. Searle verweist auf „Institutionen“, die zwar Tatsachen darstellten, aber Verpflichtungen enthielten. Zwar müssten solche Verpflichtungen nicht per se auch moralische Bewertungen implizieren, dennoch aber sei mit der Tatsache ihrer Existenz ein Sollen verbunden. Als Beispiel nennt er die Institution des Versprechens. Die Tatsache, dass ich jemandem etwas versprochen habe, enthält unbezweifelbar einen Sollensaspekt. Daneben mag man an Verträge, an rechtliche und sprachliche Bindungen jeder Art denken (Searle 1971, S. 261ff.; vgl. Irrgang 2001, S. 232f.).

Die Einwände Searles berühren allerdings kaum die Gefahr eines Schlusses von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen auf ethische Leitlinien. Diese Thematik wird besonders brisant für die Evolutionäre Ethik, die auf einer ersten Ebene die Herkunft von Normen aus der Stammesgeschichte des Menschen untersucht (vgl. Cube, Alshuth 1996, S. 307ff.), sodass Annemarie Pieper sagen kann, sie sei „im strikten Sinne gar keine Ethik, allenfalls eine ‚Theorie der evolvierten Moral‘“ (Pieper 2003, S. 254), einer Aussage, der Franz Wuketits, einer der renommiertesten Vertreter der Evolutionären Ethik, sogar zustimmt (Wuketits 1990, S. 196). Allerdings verfolgt die Evolutionäre Ethik darüber hinaus das Anliegen, Sollensansprüche mit vernünftigen Argumenten zu begründen und zu rechtfertigen. Schließlich kann sie moralische Entscheidungen unter Verweis auf die Hirnfunktionen ebenso analysieren wie die gesellschaftliche Bedeutung von normativ geprägten Institutionen, also etwa des Rechts (vgl. Irrgang 2001, S. 264f.). Max Liedtke behauptet in diesem Zusammenhang sogar, Wertvorstellungen seien letztlich nur durch den Verweis auf ihre Herkunft rational zu begründen. Dabei läge zwar im Sinne der traditionellen Logik ein Fehler vor, die Reichweite der formalen Logik dürfe jedoch nicht überschätzt werden. Vielmehr folgere man im Grunde „sachlogisch“ aus der gegenwärtigen Tatsache eines moralisch relevanten Antriebs auf die zukünftige Tatsache der Bindung an die entsprechende Norm. Wer sich selbst etwa verpflichtet fühlt, seine Kinder zu versorgen, sagt demnach nichts anderes als, er wolle und werde das in der Zukunft tun (Liedtke 1999, S. 167ff.). So gesehen hülfe die Evolutionäre Ethik mit dem Aufweis der evolutionären Wurzeln unseres Verhaltens, sich des eigenen Wollens und Werdens bewusst zu werden und es im Sinne der menschlichen Art als vernünftig anzusehen. Der formale Unterschied zwischen Deskription und Präskription wird mit diesen Einlassungen gleichwohl allenfalls umgangen, aber keinesfalls aufgehoben.

Auch für den Weltausschnitt des erziehenden, unterrichtenden und bildenden Umgangs von Menschen mit der nachwachsenden Generation, also für das Gebiet der Pädagogik, braucht es zur Orientierung außer der Untersuchung und Erhellung von Erfahrungstatsachen auch Reflexionen über Werte, Normen und Ziele (vgl. dazu: Gudjons 1995, S. 188). Bevor nach dem Sein und der Verfasstheit von Kindern und von den Veränderungsprozessen, die sie durchlaufen, gefragt wird, bevor also anthropologische Grundlagen gesichtet werden, soll es hier zunächst um Grundorientierungen des [33]Sollens, um ethische Grundlagen des Erziehens und Unterrichtens gehen. Fehlt eine ausdrückliche Thematisierung dieser Dimension, so handelt es sich entweder um reinen Erziehungstechnizismus oder aber um stillschweigend mitgedachte oder vorausgesetzte Wertvorstellungen. Es fehlt dann ein expliziter Maßstab für gutes oder gar richtiges Erziehen und Unterrichten.

Häufig steht hinter pädagogischen Empfehlungen beispielsweise die Prämisse, gutes Unterrichten zeichne sich dadurch aus, dass viel gelernt würde. Selbstverständlich kann aber die Quantität des Lernens nicht ohne weitere Begründungen als Wertmaßstab pädagogischen Handelns herangezogen werden. Schon gar nicht ist damit jede pädagogische Intervention – etwa strikter Drill – gerechtfertigt, die die Lernquantität befördert. Angenommen, es gelte als Tatsache, dass Kinder besonders viel lernen, wenn sie auf eine bestimmte Weise gedrillt werden, so kann aus dem behaupteten Sein dieser Tatsache nicht ohne eigene Wertentscheidungen geschlossen werden, dass die betreffende Weise des Drills auch angewandt werden solle. Dem Wert der Lernquantität könnten andere Werte – wie etwa Werte, die die Qualität des Lernstoffes betreffen, oder der Wert der erfüllten Gegenwart – gegenübergestellt werden.

Gerade aber eine Praxis wie die der Pädagogik, die sich mit anderen Menschen beschäftigt und die diese noch dazu maßgeblich zu beeinflussen trachtet beziehungsweise jene Einflüsse zu reflektieren sucht, muss sich von ethischen Grundlinien leiten lassen. So sollen hier – und zwar gerade aus dem Anspruch eines fachlich guten Erziehens heraus – Leitlinien einer pädagogischen Ethik herausgearbeitet werden (vgl. zum Folgenden: Dartsch 2008b). Im Gewirr der verschiedenen Zugangsweisen zum Problem sittlichen Handelns soll jedoch zuvor ein Blick auf die unterschiedlichen Ansätze innerhalb der Disziplin der Ethik Orientierung bieten.

2.1.2Modelle der Ethik

Annemarie Pieper (2003, S. 234ff.) unterscheidet grundsätzlich zwischen deskriptiven und normativen Modellen der Ethik. In Modellen des deskriptiven Typs werden Werte und Normen mittels Analyse und Interpretation theoretisch verortet und an andere Phänomene angebunden. Sie werden damit auf die eine oder andere Weise in die Beschreibung der Welt eingebunden.

So lokalisiert etwa die phänomenologisch orientierte Wertethik die Werte im menschlichen Gewissen beziehungsweise in der Intuition. Werten kommt dabei durchaus eine Existenz zu. Sie sind für Max Scheler „klare fühlbare Phänomene“ (Scheler 1916, S. 11). Zwar sind sie konkret gegeben, tragen aber nach Nicolai Hartmann den Charakter des Idealen (Hartmann 1926, S. 27f., 46f.) und bedürfen der Durchsetzung in der Realität durch den Handelnden, der sie als „Einzelgeist“ mittels seines Gewissens auffasst (Wolandt 1992, S. 149).

Im Gegensatz dazu suchen sprachanalytische Modelle die Eigenarten und Gründe der Moral in der Sprache auf. Menschliches Handeln wird als grundsätzlich kommunikativ vermittelt angesehen. Verwendet man moralische Attribute – wie das Wort „gut“ –, so weist man damit bestimmten Objekten bestimmte Eigenschaften oder aber subjektive Gefühle zu. Moralische Bewertungen sind somit sprachliche Akte. Ethik kann so mit [34]Richard Mervyn Hare als „die logische Untersuchung der Moralsprache“ (Hare 1972, S. 13) begriffen werden. Ob moralische Normen dabei wie Konventionen im Erziehungsprozess erlernt werden, bleibt umstritten. William David Ross postuliert eine moralische Intuition, ein latentes Wissen um die Normen als Verbindlichkeiten, das aus dem spontanen Erfassen der Billigkeit von Handlungen in konkreten Situationen resultiert (Ross 1963, S. 170). Auf diese Weise will Ross dem naturalistischen Fehlschluss entgehen, den man darin sehen könnte, dass die sprachliche Zuweisung einer Eigenschaft – also ein zunächst beschreibender Akt – zugleich normativen Charakter haben soll. So bedeutet die Aussage „Das ist gut“ nach Charles L. Stevenson soviel wie: „Ich billige das“, plus: „Tu du das Gleiche!“ Für Stevenson werden in einem solchen Sprechakt nicht nur einem objektiven Sachverhalt eigene Gefühle zugewiesen, sondern sollen auch Gefühle geweckt werden, die der „Überredung“ des anderen dienen (Stevenson 1953, S. 21; vgl. Pieper 2003, S. 244ff.).

Eine dritte Ausprägung deskriptiver Art stellt die Evolutionäre Ethik dar, die, wie oben bereits beschrieben, die Entstehung der Moral durch die organische Evolution erklärt, also auf biologische Ursachen zurückführt. Normen und Werte haben sich demzufolge etabliert, weil sie sich als Überlebensvorteil für eine Gruppe bewährt haben und somit im Laufe der Evolution selektiert worden sind (vgl. Cube, Alshuth 1996; Wuketits 1999; Mohr 1999; Vowinckel 1999; Cube 1999; Liedtke 1999; Voland, Voland 1999; Vollmer 1999). Hier wird der beschreibende Charakter eines ethischen Modells besonders deutlich. So weisen denn auch Skeptiker auf die Gefahr des naturalistischen Fehlschlusses, auf die Unmöglichkeit von solcherart fundierten moralischen Begründungen und Rechtfertigungen sowie auf die Bedeutungslosigkeit der Theorie für das praktische Leben hin (vgl. Löw 1983, S. 350ff.; vgl. auch: Schöppe 1999, S. 246ff.; Pieper 2003, S. 251ff.). Wolfgang Wickler unternimmt in seiner Biologie der Zehn Gebote zwar den Versuch, „unsere geltenden ethischen Grundforderungen auf biologische Wurzeln zurückzuführen“ (Wickler 1981, S. 156), betont aber gleichzeitig, dass „weder die unter natürlicher Evolution erreichten Zustände noch die Wege, auf denen sie erreicht werden, nachahmenswerte Vorbilder für das soziale Verhalten des Menschen abgeben“ (S. 155). Ähnlich plädiert auch Christian Vogel dafür, „naturfernere“ ethische Ansprüche geltend zu machen, um die Erde nicht dem „uralten darwinistischen Fitness-Rennen“ zu opfern (Vogel 1992, S. 217).

Erhellend für die Einordnung der deskriptiven Ethikmodelle mag an dieser Stelle die Unterscheidung von sechs Betrachtungsebenen sein, die Gerhard Vollmer für den Bereich der Ethik ins Spiel bringt: Auf einer ersten, explikativen Ebene geht es um die Klärung der Begriffe, um sprachliche Analysen und Festlegungen. Auf der zweiten, deskriptiven Ebene werden Tatsachen beschrieben; auf der dritten, explanativen Ebene wird erklärt, wie es dazugekommen ist, dass etwas so ist, wie es ist. Deskription und Explanation stellen nach Vollmer Aufgaben für die Erfahrungswissenschaften, im Bereich der Moral also etwa für die Verhaltens- und Evolutionsbiologie, dar. Die vierte, evaluative Ebene beinhaltet eine Bewertung, die intuitiv oder rational argumentierend erfolgen kann. Erst der fünften, normativen oder präskriptiven Ebene weist Vollmer Vorschriften und Verbote zu und hält hier die Philosophie, die Theologie und den Gesetzgeber für [35]zuständig. Politik und Management sind schließlich mit der sechsten, pragmatischen Ebene, der Umsetzung von Normen in Handlungen, befasst (Vollmer 1999, S. 213ff.).

Genau auf das, was von Skeptikern an einem beschreibenden Ansatz vermisst wird, setzen Modelle normativen Zuschnitts den Schwerpunkt: In ihnen geht es um die Begründung moralischer Geltungsansprüche. Dazu müssen jene Geltungsansprüche an etwas „Höheres“ rückgebunden werden.

Die transzendentalphilosophische Ethik postuliert hierfür die Existenz einer höheren Norm. Bei Immanuel Kant (1996, S. 41) bindet sich der freie menschliche Wille an Gesetze, deren Befolgung er sich selbst mittels seiner „praktischen Vernunft“ als Pflicht aufgibt. Autonom unterwirft er sich dem Sittengesetz des „kategorischen Imperativs“, der besagt, dass die Maxime des eigenen Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung taugen können müsse (S. 51). Wer sittlich handelt, ist gleichwohl nicht befugt, den Lohn seiner Pflichterfüllung in diesem Leben zu ernten. Jedoch bürge Gott für den späteren Lohn; sowohl die Unsterblichkeit als auch Gott sind mithin „praktische Postulate“ (vgl. Schmidt 1982, S. 306, 347). Auch Johann Gottlieb Fichte sucht das Prinzip der Sittlichkeit auf „transzendental-idealistische“ Weise zu „deduzieren“ (Fichte 1963, S. 59). Er geht dabei von der Freiheit und Selbstständigkeit des Menschen als eines vernünftigen Wesens aus, das ohne sein eigenes Zutun „schlechthin nichts“ sei und sich zu allem, was es werden soll, selbst machen müsse, indem die Intelligenz aus ihren Begriffen ein Sein hervorbringen könne (S. 49). Den „Endzweck aller Handlungen des sittlich guten Menschen überhaupt“ fasst Fichte dabei in die Formel: „Er will, daß die Vernunft, und nur sie, in der Sinnenwelt herrsche“ (S. 272). So ist für ihn die „formelle Freiheit aller Vernunftwesen der Zweck jedes moralisch guten Menschen“ (S. 272), woraus schließlich bestimmte Pflichten und Verbote erwachsen. In jüngerer Zeit knüpft der Ansatz Karl-Otto Apels bei Kant an, wenn er als Grundprinzip einer Ethik der Kommunikation und der demokratischen Willensbildung das Streben nach Übereinkunft benennt (Apel 1973, S. 426). Im „Apriori der Argumentation“ (S. 423) seien bereits Normen vorausgesetzt, so die implizite Anerkennung aller „möglichen Ansprüche aller Mitglieder der Kommunikationsgemeinschaft, die durch vernünftige Argumente gerechtfertigt werden können“ (S. 424f.). Damit werden menschliche Bedürfnisse prinzipiell zum Anliegen der Kommunikationsgemeinschaft (S. 425). Apels Überlegungen zur Kommunikationsgemeinschaft münden in zwei „regulative Prinzipien“: das Überleben der Menschheit als realer Kommunikationsgemeinschaft und das Verwirklichen der idealen Kommunikationsgemeinschaft in der realen (S. 431; vgl. Pieper 2003, S. 255ff.).

Auch die existenzialistische Ethik geht von der Freiheit des Menschen aus. Nach Sören Kierkegaard konkretisiert sich Moral im menschlichen Dasein, indem der Mensch frei wählt, in der Abkehr vom Überfluss des „ästhetischen Lebens“ nach dem ethisch Guten strebt, dabei sich in individueller Freiheit zu sich selbst verhält, sich gewissermaßen selbst wählt und bestimmt und dadurch als Selbst offenbar wird (vgl. Kierkegaard 1957, S. 232f., 247; 1949, S. 19). Allen äußeren Angeboten und Sicherheiten misstrauend zielt Kierkegaard auf eine Existenz als der, der man wirklich ist. Auch bei ihm findet sich der Gottesbezug, denn sein Selbst wähle der freie Mensch „aus des ewigen Gottes Hand“ [36](Kierkegaard 1957, S. 230; vgl. Schmidt 1982, S. 359). Im Gegensatz dazu verwirklicht sich für Camus die moralische Freiheit im Protest gegen die Absurdität der Welt (vgl. Pieper 2003, S. 262ff.).

Hedonistische und utilitaristische Ansätze finden den Maßstab sittlichen Handelns im Glück beziehungsweise im Nutzen einer Handlung. Schon für Aristoteles war das Glück, die „eudaimonia“, der Inbegriff eines gelungenen und guten Lebens (vgl. Aristoteles 1956, S. 27, 277). In der Neuzeit ruft Max Stirner zum Egoismus im Sinne der Freude über sich selbst auf und bekennt sich zum Benutzen der Welt und des anderen zum Zwecke des Selbstgenusses (Stirner 1968, S. 112, 179). Glück ist zumindest auch ein Element des Nutzens, der ganz allgemein im irgendwie gearteten Gewinn oder Vorteil besteht. John Bentham bindet die Nützlichkeit an die Tendenz, das Glück der Gemeinschaft zu vermehren (Bentham 1992, S. 56). Dieses Prinzip wird im Utilitarismus zur Norm moralisch guten Handelns – so auch bei John Stuart Mill, der allerdings zwischen körperlich-sinnlichen und den höheren geistig-seelischen Bedürfnissen und Freuden differenziert (Mill 2006, S. 10ff.). Die Befriedigung der höheren Bedürfnisse stellt für Mill einen höheren Nutzen dar als die der niedrigeren, da es besser sei, ein unzufriedener Mensch als ein zufrieden gestelltes Schwein zu sein (S. 16). In der Gegenwart ist besonders Peter Singers Utilitarismus populär geworden, hat aber auch wegen Singers Ausführungen zu Themen wie Töten, Euthanasie, Abtreibung und Tierschutz für erhitzte Debatten gesorgt, die auch unter dem Begriff der „Singer-Affäre“ gehandelt werden (vgl. Wuchterl 1997, S. 261ff.). Für Singer kennzeichnen die Ethik vernünftiges Argumentieren und das Rechtfertigen einer bestimmten Lebensweise. Ein vernünftiges Kriterium stellen für ihn die Interessen aller von einer ethisch relevanten Entscheidung Betroffenen dar, wobei hier eigene und fremde Interessen gleichrangig behandelt werden sollen (Singer, P. 1984, S. 18ff.; vgl. Pieper 2003, S. 266ff.).

Vertragstheoretische Ansätze sehen die Normen sittlichen Verhaltens in Übereinkünften begründet. Prototypisch hat Jean-Jacques Rousseau dies in seinem berühmten „contrat social“ ausgeführt. Dabei geht es darum, die divergenten einzelnen Willenskräfte im Gesellschaftsvertrag zu einem Gesamtwillen zu integrieren (vgl. Rousseau 2002, S. 32). Schon Thomas Hobbes hatte 1642 den „Naturzustand“ mit dem Plautus-Zitat „Homo homini lupus“, „der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“, umschrieben (Hobbes 1918, S. 63) und wenig später im Leviathan den Gesellschaftsvertrag als Einrichtung zum Schutz vor der ungebremsten Verfolgung von Einzelinteressen konzipiert (Hobbes 1965). Im zwanzigsten Jahrhundert knüpfte John Rawls an den Vertragsgedanken an und entwarf seine Lehre der Gerechtigkeit als Fairness, in der die möglichst große Freiheit der Einzelnen und die Chancengleichheit eine wichtige Rolle spielen (Rawls 2003, S. 78). Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten, damit also Vorteile für besser Gestellte, müssten, um hinnehmbar zu sein, auch den größtmöglichen Vorteil für diejenigen mit sich bringen, die es am schlechtesten getroffen hätten (S. 108f.; Rawls 1975, S. 96, 336).

Auch die marxistisch-materialistische Ethik thematisiert die Ungleichheit und Ungerechtigkeit in der Gesellschaft. Sie unterzieht zunächst die kapitalistische Herrschaftsmoral einer scharfen Kritik. Für Friedrich Engels waren die feudale, die bürgerliche und die [37]proletarische Moral aus den praktisch-ökonomischen Verhältnissen der entsprechenden Klassen heraus geschöpft, somit nicht wahr oder unwahr an sich. Eine „wirklich menschliche Moral“ müsse die Ungleichheiten überwinden. Damit wären dann auch die Anlässe für unmoralisches Verhalten im Sinne der alten Moral, etwa für das Stehlen, zum Verschwinden gebracht (Engels 1962, S. 81ff., 86ff.). Die Kommunisten beabsichtigten nach Karl Marx jedoch nicht, eine neue Moral zu predigen, sondern erkannten sowohl den Egoismus als auch die Aufopferung als je nach Lage legitimes Mittel zur Durchsetzung von Individuen (Marx 1932, S. 227) an. Der Kommunismus verlange nicht die Aufopferung für ein Ziel, sondern ziele darauf ab, die Kluft zwischen Privatinteresse und Allgemeininteresse aufzuheben. Eine gewisse Nähe der sozialistischen Theorie zur Ethik Kants zu konstatieren, erscheint an dieser Stelle plausibel (vgl. Sandkühler, Vega 1970). In der marxistischen Ethik Alexander Schischkins werden die Moralforderungen explizit am Projekt des Kommunismus, wie es die Kommunistische Partei der Sowjetunion vertreten hat, festgemacht: Die Treue zum Kommunismus, die Liebe zu sozialistischen Ländern, die gewissenhafte Arbeit zum Wohle aller und die brüderliche Solidarität mit den Werktätigen aller Länder werden als neue Normen an die Stelle der überwundenen gesetzt (Schischkin 1965, S. 236f.; vgl. Kommunistische Partei der Sowjetunion 1961, S. 136f.; Buchenberg 2007; Pieper 2003, S. 278ff.).

Dem letzten der hier zu verhandelnden Ansätze normativer Ethik-Modelle, der Tugendethik, soll im Folgenden ein längerer Abschnitt gewidmet werden.

2.1.3Die Tugendethik

Häufig ist die Hinwendung zur Tugendethik mit einer Kritik an Ethiken der Pflicht und des Nutzens verbunden (Rippe, Schaber 1998). Es wird zum Beispiel beklagt, wenn bei diesen Ethiktypen etwa eine freundliche Tat nur aus Pflichtgefühl oder Egoismus heraus gewählt würde, blieben die Liebe und der Andere als Mensch außen vor (vgl. Stocker 1998, S. 24, 28, 33). Gleichzeitig entstünde im Utilitarismus wie in der Pflichtethik eine „Schizophrenie“, eine Disharmonie zwischen den Motiven des Handelns und der Rechtfertigung derselben, wenn etwa Eltern ihr Kind aus Liebe versorgen, dies aber mit den Konzepten von Nutzen oder Pflicht zu rechtfertigen hätten (S. 19, 22, 25). Weder Nutzen noch Pflicht entfalten nach dieser Kritik wirkliche motivationale Kraft für den Menschen. Vielmehr beschäftige sich der Mensch immer wieder mit sich selbst und seinen Beziehungen zur Welt. So gehe es bei moralischen Überlegungen vor allem auch um das eigene Selbstverständnis, also um die Frage, wer oder wie man ist. Hiermit ist bereits das Thema der Tugend angesprochen. Tugendethiken bewerten nicht Handlungen, sondern Akteure (Rippe, Schaber 1998, S. 9f.).

Der Typ der Tugendethik geht auf die Nikomachische Ethik des Aristoteles zurück, die etwa um das Jahr 335 vor Christus entstanden sein mag (vgl. Universität Zürich 2007). Aus dem dort entfalteten Tugendkatalog sind etwa Tapferkeit, Mäßigung, Gerechtigkeit und Klugheit (Aristoteles 1956, S. 80ff., 88ff., 124ff., 168ff.) allgemein bekannt und als so genannte „Kardinaltugenden“ gewissermaßen zum Inbegriff von Tugenden geworden (vgl. Lauxmann 2002, S. 60ff.). Man besitzt die Tugenden nicht einfach so, sondern muss sie einüben, um damit tauglich für die Gemeinschaft in der Polis zu werden. [38]Aristoteles sieht die Tugenden als Weg zur „eudaimonia“, zum wahren Glück, an (vgl. Pieper 2003, S. 275ff.). Otfried Höffe konstatiert, dass einerseits eine solche Ethik weithin als durch Kant überholt gilt, andererseits aber in der Gegenwart geradezu eine „Rearistotelisierung“ zu beobachten sei (Höffe 1998, S. 42). Aber auch Thomas von Aquin kann zur Begründung einer Tugendethik herangezogen werden (Aquin 1966; vgl. Foot 1998, S. 69ff.).

Tugenden können verstanden werden als menschliche Eigenschaften, haften also jeweils der Person des Einzelnen an. Für Max Scheler ist die Tugend eine „Qualität der Person selbst“ (Scheler 1919, S. 15), Martin Honecker bezeichnet sie als „eine zur verlässlichen Gewohnheit gewordene Haltung, einen Habitus“ (Honecker 1998, S. 168). Ein zweites Merkmal ist ihre Anbindung an die jeweilige gesellschaftliche Praxis. Bei Alasdair MacIntyre wird Tugend als der Praxis inhärent angesehen (vgl. MacIntyre 1995, S. 250ff.). Er definiert: „Eine Tugend ist eine erworbene menschliche Eigenschaft, deren Besitz und Ausübung uns im allgemeinen in die Lage versetzt, die Güter zu erreichen, die einer Praxis inhärent sind, und deren Fehlen wirksam verhindert, solche Güter zu erreichen.“ (S. 254f.). Als Beispiel kann die Fairness bei Wettspielen gelten: Fairness ist Wettspielen inhärent, denn ohne sie erreicht man höchstens Güter, die auch anders erreicht werden könnten – etwa Geld oder Prestige –, aber nicht die eigentlichen, eben inhärenten Güter einer wirklichen und ehrlichen Leistung! Tugenden liefern also den Maßstab für das Handeln in einer bestimmten Praxis, ohne den diese korrumpiert würde. Bemerkenswerterweise sieht MacIntyre als Quelle solcher Korrumpierung auch die Institutionen der Praxen – also zum Beispiel Krankenhäuser für die Praxis der Medizin oder Hochschulen für die Lehre –, denen es auch um nicht inhärente Güter wie Geld oder Ansehen gehen kann. Durch die Anbindung an eine Praxis ist Tugenden auch eine historische Dimension eigen. MacIntyre führt die „Wechselbeziehung zwischen Intentionalem, Sozialem und Historischem“ (S. 278f.) ins Feld, betont den „grundlegenden historischen Charakter jeder Handlung“ (S. 283) und stellt fest: „Eine Praxis besitzt niemals ein oder mehrere für alle Zeiten festgelegte Ziele – weder die Malerei hat ein solches Ziel noch die Physik; vielmehr werden die Ziele selbst durch die Geschichte der Tätigkeiten verwandelt“ (S. 259f.). Und Karl Rahner bemerkt: „Jeder geschichtliche Lebensstil übersieht unwillkürlich und unvermeidlich diese oder jene Tugend, die ein anderer Lebensstil ausdrücklich sieht und pflegt“ (Rahner 1979, S. 13).

Die Tugendethik weist damit bedeutende Unterschiede zu anderen Ansätzen der Ethik auf: Im Gegensatz zu alternativen Ethik-Modellen ist die Tugendethik nicht unabhängig von der Person des handelnden Individuums, sondern geht von der Frage aus „Was für ein Mensch will ich sein?“, sie ist des Weiteren rückgekoppelt an die soziale Lebenswelt, und sie entdeckt schließlich die Rolle der Tradition für die Ethik, indem sie betont, dass die Tugenden im Handlungsraum der Tradition gelebt werden (MacIntyre 1995, S. 177).

Die Anbindung der Tugenden an eine gesellschaftliche Praxis muss nicht zwingend bedeuten, dass Tugenden per se relativ seien. Norbert Hinske sieht gerade in der Begegnung mit fremden Lebensgewohnheiten und Kulturen einen entscheidenden Impuls für eine philosophische Ethik, der es dann daran gelegen ist, einen Kulturkreisrelativismus [39]zu widerlegen (Hinske 1986, S. 147). Martha Nussbaum, die auch als Anthropologin im Kontext der UNO tätig ist (vgl. Fuchs 2001, S. 23), bezieht sich in ihrem Konzept einer nicht-relativen Tugendethik ausdrücklich auf Aristoteles: Der aristotelische Ansatz versucht den Relativismus zu überwinden und zielt allgemein auf das gute Leben. Ausgehend von grundlegenden menschlichen Erfahrungen – wie etwa Furcht, Begierden, Ressourcenverteilung, Besitz, Geselligkeit, Freud und Leid im eigenen Umfeld und so weiter und von darin angesiedelten Problembereichen – sollen Lösungsvorschläge für diese Probleme bewertet werden, „um zunehmend zu begreifen, was es bedeuten könnte, angesichts dieser Probleme gut zu handeln“ (Nussbaum 1998, S. 125). Durch eine rationale Diskussion soll so ein Fortschritt in der Ethik – analog dem Fortschritt in der wissenschaftlichen Erkenntnis (S. 125) – erreicht werden, indem die Tugenden immer besser spezifiziert werden. Dabei „wird die normative Auffassung wahrscheinlich äußerst allgemein sein und viele konkrete inhaltliche Ausfüllungen zulassen“ (S. 139); dabei bedeuten die Tugenden des Weiteren „ein ausgewogenes Verhältnis zwischen allgemeinen Regeln und einem ausgeprägten Sinn für Besonderheiten“ (S. 140) mit Priorität des Besonderen bei Aristoteles; schließlich sind „alle allgemeinen Auffassungen […] vorläufiger Natur, sind Zusammenfassungen von richtigen und Wegweiser zu neuen Entscheidungen“ (S. 145). All dies erlaubt es, Tugenden eine gewisse „Offenheit“ zu attestieren, rechtfertigt jedoch nicht, sie als relativ anzusehen.

Wesentliche Kritikpunkte an einer so verstandenen Ethik trägt Robert B. Louden als „Laster der Tugendethik“ vor: Zum Beispiel käme die Tugendethik dem Wunsch nach einem Kriterium für unerträgliche Handlungen nicht nach (Louden 1998, S. 195f.). Auch liefere sie keine Entscheidungsgrundlage für konkrete Fälle (S. 191ff.). Schließlich blieben in der Tugendethik ja auch die Resultate eines Verhaltens für dessen Bewertung irrelevant (S. 203ff.). Da Charakter und Verhalten nicht eindeutig ineinander überführbar seien, seien auch grundsätzlich bei konkreten Personen mittels einer Tugendethik keine Diagnosen möglich, die besagen könnten, ob diese Personen nun tugendhaft seien oder nicht (S. 199ff.). Weiter sei, auch wenn man unterstellt, eine bestimmte Tugend sei vorhanden, immer noch eine gewisse Beliebigkeit des Handelns gegeben (S. 198). Schlussendlich brauche die komplexe Gesellschaft verbindliche Regeln (S. 206f.).

Trotz dieser Vorwürfe liegt es grundsätzlich nahe, gerade für den Bereich der Pädagogik eine Tugendethik zu entwerfen. Eine solche Ethik trägt der kulturellen Prägung von Erziehungszielen und von konkretem erzieherischem Verhalten Rechnung. Nicht nur die Geschichte des Umgangs mit der nachwachsenden Generation und speziell der Pädagogik (vgl. etwa: Reble 1965; Dirx 1967; deMause 1977a; Lyman 1977; McLaughlin 1977; Ross 1977; Tucker 1977; Wirth Marvick 1977; Illick 1977; Walzer 1977; Dunn 1977; Robertson 1977; Ariès 1984; Wagner-Winterhager 1985; Rutschky 1982, 1987, 2003; Knoop, Schwab 1994; Cunningham 2006; vgl. auch: Postman 1983; Weber-Kellermann 1996; Hinkel 1988), sondern auch ein Blick in verschiedene Kulturen (vgl. Renner 2001) zeigt die engen Beziehungen der jeweiligen Pädagogik mit ihrem kulturellen Umfeld. Ob dabei in der Geschichte ein Fortschritt im Sinne einer heute richtigeren Pädagogik ausgemacht werden kann, ist durchaus umstritten (vgl. Ariès 1984; deMause 1977b; Hentig 1984; Postman 1983). So scheint gerade eine Tugendethik angemessen, die zwar [40]verbindliche Tugenden vorgibt, welche dann aber im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext in pädagogische Handlungen einfließen werden.

Den Einwänden Loudens muss gleichwohl begegnet werden: Ein Kriterium für unerträgliche Handlungen soll tatsächlich aus einer Tugend hervorgehen, die ein Konzept von Humanität anzielt. Einem Katalog möglicher Fälle, der es erlauben würde, bestimmte pädagogische Handlungen per System als gut oder schlecht zu klassifizieren, ist jedoch Skepsis entgegen zu bringen. Auch im ethischen Bereich wäre eine Art „Rezeptsammlung“ sicher fraglich, da sie zur Gänze vom komplexen Kontext, in dem sich Erziehung und Unterricht abspielen, absieht. Ein bestimmtes Resultat einer pädagogischen Handlung, etwa ein trotzig verweigerndes Kind, kann für sich genommen noch keine Grundlage einer moralischen Bewertung abgeben, zumal im pädagogischen Bereich eine Folge wohl niemals zwingend und ausschließlich aus einer pädagogischen Handlung hervorgeht. Eine Diagnostizierbarkeit von Tugenden ist teils durch den Konsens der Wortdenotationen und Wortkonnotationen praktisch nicht unmöglich, andererseits im Letzten hier nicht angestrebt, da eine Urteilshoheit für wen auch immer fraglich wäre. Die Beliebigkeit des Handelns bei einer vorhandenen Tugend hat ihre Grenze bei der Verzerrung der Tugendimplikationen. Eine gewisse Flexibilität von Handlungen aber ist einzuräumen. Die Forderung nach Regeln für die komplexe und plurale Gesellschaft ist zu differenzieren: Praktisch braucht die komplexe Gesellschaft verbindliche Regeln, theoretisch aber gemahnt sie an kulturelle Prägungen und regt an zur Offenheit. Ein gleiches beziehungsweise sich angleichendes Grundverständnis der Tugenden wäre in „aristotelischen Debatten“, wie sie Nussbaum vorschweben, zu erarbeiten. So vermag die Kritik Loudens zwar den Sinn zu schärfen für die Gefahren von Beliebigkeit und Nutzlosigkeit, kann jedoch die grundsätzliche Eignung einer Tugendethik für das Feld der Pädagogik nicht in Frage stellen.

2.1.4Entwurf einer Ethik pädagogischer Tugenden

Im Folgenden wird der Versuch unternommen, eine Tugendethik für das Feld der Pädagogik zu entwickeln. Der Anspruch ist dabei der einer nicht-relativen Ethik, wie sie auch Martha Nussbaum aufzeigt (→ S. 39)1. Die Tugenden selbst sind als nicht relativ gedacht, wohl aber ist deren Übertragung auf die jeweilige historische, regionale und kulturelle Situation nicht von vorneherein zu normieren.

Als Ausgangspunkt der Überlegungen soll die Frage nach guter Erziehung gelten. Die Frage nach guter Erziehung wird in einer unübersehbaren Vielzahl von Texten auf je eigene Weise beantwortet. Solche Texte enthalten häufig Appelle an pädagogisch tätige Menschen. In systematischeren Texten zu diesem Thema – so sollte man es also für wissenschaftliche Texte erwarten können – gründen diese Appelle auf bestimmten Informationen. Für den Fall, dass man nun solche Informationen als zutreffend ansieht, würde das Wissen um diese Informationen dennoch nicht dafür bürgen, dass diejenigen Menschen, die über sie verfügen, auch tatsächlich „gut erziehen“. Denn zum Aspekt [41]der Informationen kommt der Aspekt der Ethik hinzu. Bestimmte ethische Voraussetzungen müssen erfüllt sein, um aufgrund der als zutreffend angesehenen Informationen eine gute Erziehung auch in die Tat umsetzen zu können. Die Frage nach solchen ethischen Voraussetzungen soll die folgenden Überlegungen zur Entwicklung einer Ethik pädagogischer Tugenden leiten. Beispiele aus verschiedensten Kontexten sollen dabei in loser Folge illustrieren, welche Bedeutung den jeweiligen Tugenden in der pädagogischen Literatur zukommt.

2.1.4.1Die erste pädagogische Tugend: Liebe

Zunächst reicht es nicht, über gute Erziehung Bescheid zu wissen, man muss sie auch verwirklichen wollen! Grundsätzlich gibt es zwei Motive dafür, einem Kind eine gute Erziehung auch wirklich angedeihen lassen zu wollen: Zum einen kann man dies um des Kindes willen wollen. Zum anderen mag dies auch um meiner selbst willen gewollt werden. Solch ein im weiteren Sinne egoistisches Motiv könnte vorliegen, wenn man danach strebt, sich als pflichtbewusst oder tüchtig ansehen zu können. Eine zweite Möglichkeit stellt das Motiv dar, sich mit dem gut erzogenen Kind oder seiner pädagogisch vermittelten Leistung zu schmücken. Dieses Motiv findet sich sicherlich auch im Bereich der Musikpädagogik, wenn etwa Kinder um des Ruhmes ihres Lehrers willen bei „Jugend musiziert“ oder bei anderen öffentlichen Anlässen präsentiert werden.

Will ich für jemanden eine gute Erziehung, so sind darin wohl stets beide Aspekte enthalten: das Wollen um des Kindes und das Wollen um meiner selbst willen. Je mehr es allerdings in die zuletzt angedeutete Richtung geht, umso mehr wird Erziehung zur Technik und der andere Mensch bedeutungslos. Wird Erziehung als Aufgabe angenommen, so rückt ins Zentrum, dass sie im anderen ihre Legitimation hat, dass sie um des anderen willen aufgegeben ist. Es erscheint widersinnig, sie am eigenen Nutzen auszurichten. Es pervertiert ihr Wesen, sie nicht im Blick auf das Wohl des Kindes zu betreiben.

Das Wohl des anderen zu wollen, macht die Bedeutung des Substantivs „Wohlwollen“ aus. Als „eunoia“ findet sich das Wohlwollen schon bei Aristoteles, der bemerkt, es könne auch Unbekannten entgegengebracht werden. Dies sei auch möglich, ohne dass die Adressaten des Wohlwollens um dieses wissen. Man mag hier zum Beispiel an einen Krankenpfleger denken, der eine ohnmächtige Person pflegt. Beides – die Möglichkeit unbekannter Adressaten und die Möglichkeit nicht darum wissender Adressaten – gehört zu den Unterschieden zwischen Wohlwollen und Freundschaft, die etwa John Wilson ausführt. So sei Wohlwollen auch per se einseitig und immer „instrumentell“, zeichne sich nämlich durch den verfolgten Zweck aus, zum Wohl des anderen beizutragen. Wechselnde Umstände könnten so auch leicht dazu führen, dass eine von Wohlwollen geprägte Beziehung wieder auseinander gehe (Wilson 1997, S. 56). Genau dies ist im professionell-pädagogischen Alltag regelmäßig der Fall. Echte Freundschaft – Wilson spricht von „intrinsischer Freundschaft“ – geht insofern über das Wohlwollen hinaus, als dass sie um ihrer selbst willen wertvoll ist, nicht um des Zweckes, anderen Gutes angedeihen zu lassen. In der intrinsischen Freundschaft strebt man nach einer Erweiterung des Selbst in Richtung des anderen Menschen, danach, sein Selbst mit ihm zu teilen, zu verbinden, zu identifizieren (S. 59).

[42]Die intrinsische Freundschaft ist für Wilson bereits ein entscheidendes Element echter Liebe, auch der zwischen Lebenspartnern. Ebenso wird man aber bei Eltern von Liebe zu ihren Kindern sprechen können. Auch die Beziehung zwischen Eltern und Kindern ist über alles hinaus, was man Gutes für das Kind wollen wird, in der Regel wohl als intrinsisch im Sinne Wilsons zu bezeichnen. Der andere Mensch ist um seiner selbst willen wertvoll, mit ihm identifiziert man sich und teilt man sein Selbst, was wohl in der Schwangerschaft und in der Stillzeit auf eine besondere, körperliche und intensive Weise erfahrbar wird. Das Auseinandergehen zwischen Eltern und Kindern, wenn diese das Elternhaus als Erwachsene verlassen, ist etwas prinzipiell anderes als der Abschied von einem Schüler am Ende der Schulzeit oder beim Lehrerwechsel – oder gar von einem genesenen Patienten. Die Problematik jenes Auseinandergehens liegt auch darin, dass das Teilen des Selbst sich mit der räumlichen Trennung und dem Bedürfnis des jungen Menschen nach Ablösung arrangieren und sich dementsprechend in einen veränderten Modus hinein entwickeln muss, wenngleich die Verbindung und die Identifikation damit im Regelfall nicht zum Ende kommen werden.

Auf die professionelle Erziehung bezogen meint der polnische Pädagoge Janusz Korczak: „Vielleicht gibt es Erzieher, denen die Kinder eines wie das andere gleichgültig oder verhaßt sind; aber keinem sind alle in gleicher Weise lieb.“ (Korczak 1998, S. 88). Wilson gesteht zu, dass Fähigkeit zu echter Liebe auch durch Erfahrungen in der eigenen Kindheit geprägt sein wird, dass es demnach der Liebe – auch zwischen Partnern – im konkreten Fall an wichtigen Momenten fehlen kann. Er ermutigt gleichwohl dazu, diese Gründe zu „reflektieren und sie möglicherweise [zu] ändern“ (Wilson 1997, S. 192), denn „wenn es einen klaren Begriff als Ausgangspunkt gibt, scheint nichts dagegen zu sprechen, daß wir die Fähigkeit und Bereitschaft zur Liebe als Aufgabe betrachten könnten.“ „Es ist zumindest etwas, das man überwachen kann und muß“ (S. 196). So erhebt auch Korczak schon im Titel eines seiner Bücher die Forderung nach Liebe im pädagogischen Kontext: Wie man ein Kind lieben soll (Korczak 1967).

Ähnlich sieht auch Erich Fromm die Liebe nicht als ein bloßes Gefühl an, das sich einstellt oder eben nicht. Für ihn ist die Liebe eine Kunst (Fromm 1959), die es zu erlernen gilt (vgl. S. 20), kein passiver Affekt, sondern eine Aktivität: die Aktivität des Gebens (S. 41), des Gebens nämlich vom eigenen Leben (S. 44). Noch grundsätzlicher bezeichnet Fromm die Liebe als eine Haltung, als eine Orientierung des Charakters, die das Verhältnis einer Person zur Welt als Ganzes betrifft, und grenzt sie damit von einer bloßen Bindung an eine andere Person ab (S. 69): „Wenn ich einen Menschen wirklich liebe, liebe ich alle Menschen, liebe ich die ganze Welt und liebe ich das Leben. Wenn ich zu einem anderen sagen kann:‚Ich liebe dich‘, muß ich auch sagen können: ‚Ich liebe in dir alle Menschen, ich liebe in dir die Welt, ich liebe in dir auch mich selbst.‘“ (S. 70). So wird der geliebte Mensch um seines bloßen Seins als Mensch, nicht um irgendwelcher Leistungen willen, geliebt. Dies schwingt auch bei Korczak mit, wenn er formuliert: „Ein armseliger Erzieher bist du: du weißt nicht einmal, daß ein Kind – ein Mensch ist“ (Korczak 1998, S. 92). Die Liebe zum Menschen ist für Fromm die Voraussetzung der Liebe zu einer bestimmten Person, obwohl sie sich durch die Liebe zu besonderen Individuen entwickelt (Fromm 1959, S. 85). Als Grundelemente [43]seien der Liebe Fürsorge, Verantwortlichkeit, Respekt und Wissen eigen (S. 46ff.) – eine Liste, die sich schon auf den ersten Blick mühelos auf die Pädagogik übertragen lässt. Fürsorge und Verantwortlichkeit sind zur Bewahrung und Entfaltung des kindlichen Lebens zweifellos unerlässlich, doch geht die Liebe darüber noch hinaus, was Fromm im biblischen Bild von „Milch und Honig“ verdeutlicht: Neben die nährende Milch tritt die Süße des Honigs als der Aspekt der Liebe, der einem Kind das Glück des Am-Leben-Seins vermittelt, das Gefühl, dass es „gut [ist], auf dieser Erde zu sein“ (S. 73). Bezogen auf jene problematische Ablösung des erwachsen gewordenen Kindes sagt Fromm: „Die Mutterliebe muß die Trennung vom Kind nicht nur dulden, sondern sie sogar wünschen und fördern.“ Allerdings sieht er auch: „Aber nur die wirklich liebende Frau, jene Frau, die im Geben glücklicher ist als im Nehmen und in ihrer eigenen Existenz fest verwurzelt ist, kann auch dann eine liebende Mutter sein, wenn sich das Kind im Prozeß der Lostrennung befindet“ (S. 76). Schließlich sei die Liebe auch kein „Ruheplatz“, der frei von Konflikten und Traurigkeiten sei, vielmehr zeichne sie sich durch „gemeinsames Streben, Wachsen und Arbeiten“ aus (S. 135). Dass die innere Vereinnahmung, die als Gefahr lauert, der Elternliebe entgegensteht, kommt auch in den Zeilen der Kinderbuchautorin Christine Nöstlinger zum Ausdruck: „Die eigenen Kinder zu lieben | darf nicht abgelehnt werden. | Auch dann nicht, | wenn da etwas lebt und heranwächst, | von dem man feststellt: | Es war sehr anders gemeint!“ (zitiert nach: Seiverth 2003, S. 88).

Trotz der Einschränkungen, die für das professionelle Erziehen angeführt worden sind, soll hier nicht der Begriff des Wohlwollens, sondern der der Liebe zur Bezeichnung der ersten pädagogischen Tugend gewählt werden. Er erscheint ein Gutteil reicher und vermag ein Ideal darzustellen, wie es einer Tugend zukommen mag. In Friedrich Gottlieb Klopstocks Gedicht Der Zürcher See heißt es: „ […] Liebe, dich, | Fromme Tugend, dich auch gießen ins sanfte Herz | Ist, beym Himmel! nicht wenig! | Ist des Schweisses der Edlen werth!“ (Klopstock 2003). Bei Thomas von Aquin stellt die Liebe die Form der Tugenden dar, die den Akten aller Tugenden ihr Maß auferlegt (vgl. Aquin 1966, S. 141). Schließlich ist es gerade auch die Liebe, die Michael Stocker bei modernen ethischen Theorien vermisst (→ S. 37). Auch in der neueren Tugendethik von Christine Swanton wird die Liebe als Tugend angeführt. Sie wird dort in einem Atemzug mit dem Respekt genannt. Während dieser Distanz halte, bedeute die Liebe eine Form des Nahekommens (Swanton 2005, S. 104ff.) und eine für den Menschen angemessene Art „moralische Reaktion“, die durch eine Verbindung charakterisiert sei (S. 34, 117). Bei Swanton ist das Wohlwollen eng mit der Liebe verbunden, denn es beinhalte nicht nur, das Gute für jemanden zu befördern, sondern das Gute in einem gewissen Sinne mit Liebe und mit Respekt für sein Menschsein anzustreben (S. 110).

Für die Musikalische Früherziehung konstatiert Zarius, die kindliche Rollenerwartung im Hinblick auf die Lehrerin oder den Lehrer sei wohl am Bild der Eltern orientiert. Entsprechend sei eine „fürsorgende, geduldige Liebe“ die Basis „elterlichen Verhaltens“ von Lehrern und Lehrerinnen. Diese Liebe gäbe dann dem Kind Wärme und Sicherheit, die Fremdes und Heikles ertragen hülfen (Zarius 1985b, S. 100f.). Auch die Instrumentalpädagogik kennt ein Werk, das sich die Liebe auf die Fahnen schreibt: Das Buch des [44]berühmten japanischen Violinpädagogen Shinichi Suzuki trägt im Deutschen den Titel Erziehung ist Liebe (Suzuki 1994). Das englische Original heißt: Nurtured by Love: A New Approach to Education und erinnert damit an Fromms Metapher von Milch und Honig. Bei Suzuki klingt es, als mache die Liebe überhaupt das Wesen von Erziehung aus. Das mag gerade vor dem Hintergrund zunehmender Delegierung erzieherischer Aufgaben an professionell Erziehende utopisch klingen. In jedem Falle aber bedarf es einer Form von Liebe, um eine ihrem Sinn entsprechende und gute Erziehung für ein Kind nicht nur beschreiben zu können, sondern auch für das Kind verwirklichen zu wollen.

2.1.4.2Die zweite pädagogische Tugend: Kooperationsbereitschaft

Die zweite und die dritte pädagogische Tugend hängen beide mit der Beschränktheit handlungsleitender Aussagen – auch wissenschaftlicher Aussagen – zusammen. Als Ausgangspunkt der pädagogischen Tugenden wird der Fall angenommen, es lägen Aussagen über gute Pädagogik vor, die man als solche auch akzeptieren würde. Zunächst kann eine solche Aussage über gute Pädagogik aber nie etwas über den einzelnen Menschen, das einzelne Kind, seine individuellen Reaktionen, Bedürfnisse und Entwicklungen sagen. Dies gilt aufgrund der je einmaligen Kombination der genetischen Ausstattung und der speziellen Biografie sicher für Lebewesen im Allgemeinen (vgl. Wieser 1998, S. 91), beim Menschen wird es jedoch besonders augenfällig. Insofern muss dem Kind im Erziehungsprozess die Möglichkeit eingeräumt werden, sich selbst zur Geltung zu bringen. Denn nur so können die zwangsläufig mehr oder weniger allgemeinen pädagogischen Aussagen auf einen konkreten Menschen hin ausgerichtet werden. Damit das Kind sich als Individuum in das pädagogische Geschehen einbringen kann, bedarf es aufseiten des Menschen, der es erzieht, der Bereitschaft, dies zuzulassen. Es bedarf der Tugend der Kooperationsbereitschaft.

Bei Hermann Baum findet sich innerhalb der Ethik sozialer Berufe auch eine Ethik der Kooperation. Hier wird auch auf die Kooperation zwischen Menschen in sozialen Berufen und ihren Klienten Bezug genommen. Allerdings grenzt Baum diese Art der Kooperation deutlich von der Kooperation im Team ab und verdeutlicht, dass es hierbei um anders gelagerte Probleme geht. Dennoch würde für die Kooperation nicht „jede funktionale Hierarchie […] im Ansatz geleugnet“ (Baum 1996, S. 141). Auch zwischen erziehenden Menschen und denen, die sie erziehen, bestehen funktionale Differenzen. Für alle Fälle gilt aber wohl, was Baum zum Prinzip einer Ethik der Kooperation formuliert: „Kooperation kann nur in dem Maße stattfinden, wie die anderen nicht für die eigenen Ziele instrumentalisiert, sondern als vollwertige Partner in der gemeinsamen Anstrengung, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, respektiert werden. Und dabei arbeitet die Erkenntnis mit, daß dieses Ziel durch Kooperation leichter oder besser realisierbar, ja vielleicht überhaupt nur so erreichbar ist“ (S. 135). Dass dies auch für die Erziehung zutrifft, wird auch in der Beschreibung der pädagogischen Praxis deutlich, die der Kronberger Kreis für Qualitätsentwicklung in Kindertageseinrichtungen liefert: Pädagogik wird hier als Arbeit in einem Beziehungsfeld charakterisiert. Menschen aber ließen sich nicht wie Maschinen einstellen, vielmehr beeinflussten sich alle Beteiligten gegenseitig. Empfänger pädagogischer Leistungen seien auch „Geber“. Pädagogische Praxis sei daher [45]notwendigerweise eine Ko-Operation. Erziehung sei nur möglich, wenn sich zwei oder mehrere Personen begegneten, eine „situative Übereinstimmung“ erzielten und sich aufeinander bezögen (Kronberger Kreis für Qualitätsentwicklung in Kindertageseinrichtungen 1998, S. 17f.).

Eine Erziehungspraxis, die dies nicht zulässt, könnte man als rigide oder als „dirigistisch“ bezeichnen. Reinhard und Annemarie Tausch zeigen die negativen Effekte einer solchen Erziehung auf (Tausch, Tausch 1977). Weder ein restriktiver Erziehungsstil noch ein Laisser-faire-Stil (vgl. Schulze 1984) findet zu echter Kooperation in der Erziehung.

Im pädagogischen Zusammenhang verwirklicht sich Kooperation wohl überwiegend in der Kommunikation – sei sie nun nonverbal oder verbal. In der pädagogischen Praxis bringen sich Kinder und Jugendliche nonverbal und verbal ein. Mimisch, gestisch oder mit Worten reagiert das Kind etwa auf pädagogische Maßnahmen oder drückt sein Befinden, seine Bedürfnisse aus. Im Bereich der verbalen Kommunikation kommt es beispielsweise zu Gesprächen oder Diskussionen. Susanne Sachtleber und Margrit Schreier haben dafür Standards fairer Argumentation aufgestellt, von denen hier der achte von Belang ist: Er besagt, dass es zu unterlassen sei, absichtlich so zu agieren, dass das Mitwirken anderer an der Klärung eingeschränkt oder verhindert würde (Sachtleber, Schreier 1990, S. 4, 119f.; vgl. auch: Legewie, Ehlers 1999, S. 298).

Nicht selten entstehen auch Konflikte in der pädagogischen Praxis. Auch hierfür existieren in der einschlägigen Literatur zahlreiche Strategievorschläge. Thomas Gordon fordert auch hier, die Kinder oder Jugendlichen an den einzelnen Etappen der Konfliktlösung zu beteiligen. Im Einzelnen sollen sie sich etwa in die Problemdefinition, die Sammlung von Lösungsvorschlägen, die Bewertung derselben und die Entscheidung für eine von ihnen genauso einbringen können wie die Pädagogen (Gordon, T. 1998, S. 216ff.).

In der Psychologie wird die Kooperationsbereitschaft auch als Persönlichkeitseigenschaft behandelt. Als solche wird sie beispielsweise im didaktischen Teil des Lehrwerkes Spiel und Klang für die Musikalische Früherziehung erwähnt (Pfaff 1998, S. 25). Im „Big-Five-Modell“ der fünf bedeutenden Persönlichkeitsdimensionen fällt sie unter die Dimension der „Verträglichkeit“ (vgl. Lang, Lüdtke 2007, S. 32; Seel 2003, S. 98) beziehungsweise wird als Indikator für eine als „Liebenswürdigkeit“ bezeichnete allgemeine zwischenmenschliche Orientierung in Gedanken, Gefühlen und Taten angesehen (vgl. Pervin 2000, S. 255f.). Im Allgemeinen werden dieser Eigenschaft sicher überwiegend positive Wertungen zuteil, als Persönlichkeitseigenschaft wird sie überdies als stabile Orientierung gedacht. Auch Tugenden sind Eigenschaften der Person. Geht man im Sinne der Ethik oder auch einer Philosophie der Lebenskunst grundsätzlich von der Möglichkeit der Wahl aus, dann stellt sich die Kooperation als Option dar, für die man sich entscheiden und an deren Verwirklichung man arbeiten kann (vgl. Schmid 1999, S. 262f., 272).

2.1.4.3Die dritte pädagogische Tugend: Sensibilität

Die Unzulänglichkeit handlungsleitender Aussagen zur Erziehung liegt nicht nur darin, dass sie nichts Allgemeingültiges über den einzelnen Menschen sagen können. Es ist [46]ihnen darüber hinaus auch nicht möglich, eine konkrete Situation, wie sie sich im Leben ergibt, genau anzuzielen und zu treffen. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund der Komplexität der erzieherischen Praxis, die sich durch eine Vielzahl miteinander verflochtener und einander gegenseitig beeinflussender Faktoren auszeichnet (vgl. Kronberger Kreis für Qualitätsentwicklung in Kindertageseinrichtungen 1998, S. 18). Diese Faktoren wollen zunächst erfasst und dann auch verstanden und gedeutet werden. So bedarf es zur Verwirklichung einer guten Erziehung der Tugend der Sensibilität.

Zu den wichtigen Faktoren der pädagogischen Praxis zählen auch die Signale der Kinder. Die Sensibilität für sie wird in der Pädagogik häufig mit dem Begriff der „Empathie“ gefasst. Die Empathie ist eine der förderlichen Dimensionen der Humanistischen Therapie und Psychologie und wird in diesem Zusammenhang als entscheidende Voraussetzung für eine gute Beziehung und das Gelingen der therapeutischen Bemühungen angesehen. Carl Rogers weist ebenso daraufhin, dass Empathie geübt werden könne, wie auch darauf, dass sie mehr darstellt als eine bloße Technik: „Zum Teil ist es Übungssache, zum Teil Sache der Einstellung“ (Rogers 1985, S. 22). Reinhard und Annemarie Tausch haben die Empathie auch als förderliche Dimension für die Erziehungspraxis in ihre Konzeption übernommen (Tausch, Tausch 1977). Sie versuchen dabei den Nachweis zu erbringen, dass sie generell mit einer gelungenen Erziehung einhergeht. Die Bindungsforschung konnte mit einschlägigen Untersuchungen zeigen, dass die Feinfühligkeit der Mutter entscheidend für den Aufbau einer sicheren Bindung des Kindes zur Mutter ist (Ainsworth 1977; Belsky 2009, S. 889ff.; vgl. Clarke-Stewart 2009, S. 50ff.). In der Entwicklungspsychologie Daniel N. Sterns ist die sensible Abstimmung der Mutter auf die Affekte des Kindes wesentlich für die Entwicklung des Selbstempfindens (Stern 1998, S. 198ff.).

Die Sensibilität umfasst jedoch nicht nur das Hineinfühlen in das Kind, sondern zielt auf das gesamte pädagogische Geschehen. Dieses wird vom Kronberger Kreis für Qualitätsentwicklung in Kindertageseinrichtungen in eine Analogie zu künstlerischen Prozessen gebracht: „Erzieherische Fachkräfte bringen in ihrem Handeln eher wie ein Künstler etwas hervor, lassen etwas szenisch entstehen, indem sie zugleich denken, empfinden und handeln“ (Kronberger Kreis für Qualitätsentwicklung in Kindertageseinrichtungen 1998, S. 18). Hier entspräche das Gefühl für das pädagogische Geschehen dem Gefühl für ein Musikinstrument oder den Pinsel. Ähnlich könnte man das pädagogische Geschehen auch in eine Analogie zum Spiel bringen. Es wäre dies eine „Modellvorstellung […], nach der sich zwischen den Bildungsprozessen der Kinder und dem erzieherischen Handeln der Fachkräfte in gegenseitigem Aufeinander-bezogen-Sein gewissermaßen ein fortwährendes ‚Zuspielen‘ ereignet – fast wie bei einem Ballspiel […]. Das Kind nimmt Impulse der Erzieherin auf, macht daraus etwas für sich, strahlt entsprechendes nach außen ab, was wiederum von der Erzieherin ‚aufgefangen‘ und in Bezug zu eigenen Impulsen gesetzt wird. Daraus resultieren bei ihr neuerliche Gedanken, Handlungen oder Empfindungen, die das Kind wieder auf seine Weise aufnimmt“ (Dartsch 2001, S. 58). In diesem Bild entspräche das Gefühl für den Ball der Sensibilität für pädagogische „Zuspielprozesse“.

[47]Sensibilität meint die verfeinerte Wahrnehmung aller Sinne, auch des eigenen Gefühls, möglicherweise auch den Wechsel vom „mentalen Bewusstsein“ der Rationalität in andere Bewusstseinsformen, wie sie Jean Gebser (Gebser 1978) beschreibt. Das könnte etwa bedeuten, in den selbstvergessenen Fluss von Geschichten und Spielen einzutauchen – dies entspräche bei Gebser dem „mythischen Bewusstsein“ – oder sich von sinnlichen Erlebnissen in den Bann schlagen zu lassen – hier mag man an das „magische Bewusstsein“ Gebsers denken. Die Möglichkeit des flexiblen Wechselns zwischen Bewusstseinsformen hat Gebser in das Konzept des „integralen Bewusstseins“ gefasst. Charlotte Fröhlich hat diese Bewusstseinsstruktur unter den Bezeichnungen „Präsenz“ und „Achtsamkeit“ für die Elementare Musikpädagogik fruchtbar gemacht (Fröhlich 2002b, 2004).

Sensibilität für die gegenwärtige Situation und ihre Möglichkeiten kann Gewohnheiten überwinden und neue Wege finden helfen (vgl. Schmid 1999, S. 332). Sie muss und kann im Prozess der Erziehung ausgebildet werden (S. 312). So sollte sie auch der Selbsterziehung im Sinne einer Vervollkommnung der eigenen Tugendhaftigkeit zugänglich sein.

2.1.4.4Die vierte pädagogische Tugend: Wertorientierung

Wenn Fachtexte zur Pädagogik konkrete Empfehlungen für die Praxis aussprechen, dann tun sie dieses notwendig vor dem Hintergrund von Wertvorstellungen. Unabhängig davon, ob dies auch offen gelegt wird, bedarf es prinzipiell für jede Empfehlung vorausgehender Zielentscheidungen. Hier wiederum braucht es Kriterien dafür, was als erstrebenswert gelten soll. Es geht dabei um Güter und um das, was als gut angesehen wird. Wenn also etwas über gute Erziehung gesagt wird und wenn man gute Erziehung verwirklichen will, muss man wissen, was man überhaupt für gut erachtet. Es bedarf einer Wertorientierung, was hier als vierte pädagogische Tugend thematisiert werden soll.

Grundsätzlich kann aus zwei Blickwinkeln heraus auf das Problem der Werte geschaut werden: Zum einen leiten Werte das ethische Handeln, liefern also Gebote, zum anderen machen sie das Leben wert-voll, liefern also Sinn für den Menschen. Es muss bezüglich der Werte folglich nicht nur nach Moral, sondern auch nach dem Sinn gefragt werden. Auch dieser bietet Antworten auf die Frage nach dem guten Leben an. Dieser Sinn muss der vom Erziehenden selbst angeeignete Sinn sein, da er nur an diesen glauben kann. Pädagogik zwingt so sowohl zur eigenen ethischen Verortung als auch zur Sinnfrage.

Ob die Wissenschaft aus sich heraus Werte zu generieren vermag, wurde auf dem Feld der Soziologie von Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts an in der Werturteilsdiskussion um Max Weber und Eduard Spranger sowie in den Sechzigerjahren im so genannten „Positivismusstreit“ verhandelt (vgl. Albert, Topitsch 1971; Wuchterl 1997, S. 15ff.). Kurt Wuchterl urteilt: „Es gibt keine objektive wissenschaftliche Begründung von Normen und Werten, die auch nur annähernd allgemeine Anerkennung beanspruchen könnte“ (S. 71). Bei Frieder Lauxmann (Lauxmann 2002), der verschiedene ethische Grundmodelle sichtet, wird deutlich, woraus sich Werte konkret entwickeln lassen. Drei [48]Grundrichtungen werden hier sichtbar: Werte können erstens als Vorgaben von Autoritäten übernommen werden, wie dies zum Beispiel innerhalb der Religionen geschieht. Zweitens können sie mit Hilfe der Vernunft entwickelt werden; so entsteht dann etwa das Grundgesetz, ein Nutzenkalkül oder ein Rechtssystem. Drittens kann angesichts bestimmter Probleme unserer Zeit gewissermaßen aus der Intuition heraus Position bezogen werden.

Auf der Suche nach Werten, die mit hoher Übereinstimmung als verbindlich angesehen werden, gerät zunächst die so genannte „Goldene Regel“ in den Blick, nach der man andere so behandeln soll, wie man selbst behandelt werden möchte. Francesco und Luca Cavalli-Sforza konstatieren: „In der gesamten Geschichte der Ethik wird man kaum eine überzeugendere Richtlinie finden als die so genannte Goldene Regel“ (Cavalli-Sforza, Cavalli-Sforza 2000, S. 77). Sie findet sich seit ihrer Formulierung bei Konfuzius und bei Buddha, also vor etwa 2500 Jahren, auch bei Platon, Aristoteles, Seneca, im Judentum und bei Jesus von Nazareth (vgl. Küng 1991, S. 84; Cavalli-Sforza, Cavalli-Sforza 2000, S. 77ff., 389; Mérö 2003, S. 74). Schließlich leuchtet sie auch im kategorischen Imperativ Immanuel Kants durch, nach der man so handeln soll, dass die Maxime des eigenen Handelns jederzeit zur Maxime allgemeinen Handelns gemacht werden könnte (→ S. 35). Aus spieltheoretischer Sicht führt die buchstäbliche Befolgung der Goldenen Regel allerdings nicht in jeder Konstellation zum größtmöglichen Gewinn der Beteiligten. Wie sich mathematisch zeigen lässt, ist dieser, wenn es für zwei Partner darum geht, zwischen zwei von ihnen jeweils bevorzugten Alternativen ohne eine Verhandlungsmöglichkeit unabhängig zu entscheiden, für das Paar am größten, wenn beide in jeweils fünf von acht Fällen ihrer eigenen Präferenz folgen (Mérö 2003, S. 82ff.).

Eine weitere Möglichkeit ethischer Verortung bietet Hans Küng in seinem Projekt Weltethos. Als allen Weltreligionen gemeinsame Maximen arbeitet er die folgenden „fünf große[n] Gebote der Menschlichkeit“ heraus: „(1) nicht töten; (2) nicht lügen; (3) nicht stehlen; (4) nicht Unzucht treiben; (5) die Eltern achten und die Kinder lieben“ (Küng 1991, S. 82). Weithin konsensfähig sind die Menschenrechte (Generalversammlung der Vereinten Nationen 2007; Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights 2007), die gleichwohl ihrer Einlösung harren. Thomas Ebers und Markus Melchers verweisen auf die Demokratie als Leitvorstellung sowie auf die darin beschlossenen individuellen Freiheitsrechte und die Achtung der Menschenwürde (Ebers, Melchers 2002, S. 98f.). Alfred Gierer findet „unter Beachtung naturwissenschaftlicher Gesichtspunkte“, das heißt hier verhaltensbiologischer Aspekte, neben den egoistischen auch wertorientierte Determinanten menschlichen Verhaltens (Gierer 1998, S. 285). Diese lassen sich unter den Begriff „Gemeinsinn“ (S. 284ff.) subsumieren und umfassen Solidarität, Friedensbereitschaft und Vertrauen (S. 273ff.). Hier wird die Naturwissenschaft zwar ausdrücklich zum Auffinden von Werten herangezogen, kann aber für sich genommen den Appell nicht begründen, sich nach diesen Werten auszurichten. Paul Rozin, Laura Lowery, Sumio Imada und Jonathan Haidt stellen schließlich die Hypothese von drei universellen moralischen „Codes“ und drei ihnen entsprechenden moralischen Emotionen vor: In den Codes geht es um die Achtung der Gemeinschaft, der [49]Autonomie und der Erhabenheit. Wer gegen diese Forderungen verstößt, löst bei den Betroffenen die moralischen Emotionen aus: Auf die Missachtung der Gemeinschaft wird mit Verachtung reagiert, auf die Missachtung der Autonomie mit Ärger. Wird das, was anderen als erhaben gilt oder heilig ist, missachtet, so hat das Ekel zur Folge (Rozin, Lowery, Imada, Haidt 1999; vgl. auch: Beyreuther 2004, S. 123). Diesen Versuchen, universelle Werte aufzuspüren, steht der Pluralismus der Werte in der Gesellschaft gegenüber (Ebers, Melchers 2002, S. 49f.), vor dessen Hintergrund die ethische Verortung als individuelle Aufgabe erscheint.

Mit der Frage nach dem Sinn hat sich der Wiener Psychiater und Begründer der Logotherapie Viktor E. Frankl intensiv beschäftigt. Er unterscheidet zunächst drei Wertkategorien: die „schöpferischen Werte“, die „Erlebniswerte“ und die „Einstellungswerte“ (Frankl 2001, S. 158, 240). Danach kann es für den Menschen sinnvoll und erfüllend sein, etwas zu schaffen, aber auch etwas zu erleben. Eine besonders intensive Form des Erlebens stellt die Liebe dar (S. 241f.). Je nach persönlicher Einstellung kann der Mensch auch im Angesicht von Leid, Schuld und Tod einen Sinn bewahren; er kann im Ertragen von Leid wachsen und reifen, anstatt sich aufzugeben (S. 243ff.). Mit dem Begriff des „Übersinns“ schließlich bezeichnet Frankl den Sinn des Lebens an sich, der von religiösen Menschen im Glauben gefunden werden kann (S. 267ff.).

Eine konkrete Füllung der Orientierung am „Guten“ könnte mit dem Begriff der „Humanität“ bezeichnet werden. Mit der Humanität gerät denn auch das von Robert B. Louden geforderte Kriterium für unerträgliche Handlungen (Louden 1998, S. 195f.; → S. 39f.) endgültig in den Blick. Für Immanuel Kant ist die „moralische Humanität“, die er von der „ästhetischen Humanität“ der geschliffenen urbanen Lebensformen abgrenzt, „der Sinn für das Gute in Gemeinschaft mit anderen überhaupt“ (Kant 2007, S. 409; vgl. auch: Schmidt 1982, S. 292). Frank Geerk fasst den Humanismus im Sinne einer Geisteshaltung als „Streben nach echter Menschlichkeit“ auf, das „unabhängig von Religionen, Rassen, Kulturen, Zeiten und Völkern zum Wesen des Menschen gehört. Was wir Menschlichkeit nennen, ist sowohl eine Gefühlsregung, die religiös fundiert sein mag, wie auch ein Gebot der Vernunft, das schließlich zu einem Gesellschaftsvertrag geführt hat, wo immer sich Menschen zusammentaten, um gemeinsam zu überleben“ (Geerk 1995, S. 21). In dieser Bestimmung klingen mit Gefühl, Religion, Vernunfterkenntnis, Vertrag und Überlebensvorteil besonders viele der ethischen Begründungswege an. Geerk nimmt auch den Umgang mit Tieren sowie mit der gesamten Natur mit in den Begriff des „Menschlichen“ hinein (S. 22). Sowohl in der antiken „Humanitas“ als auch bei den Vordenkern der modernen Individualität – also etwa bei Herder, Lessing, Goethe, Schiller und Humboldt – wird die Sorge um das Selbst mit der Sorge um den Anderen zusammengedacht (vgl. Schmid 1999, S. 177; Geerk 1995). Für Johann Gottlieb Herder gibt es schlechthin nichts Höheres als die Humanität, „denn selbst wenn wir uns Engel oder Götter denken, denken wir sie uns nur als idealische, höhere Menschen“. Er erwähnt den Zweck, „daß jeder, unbefehdet vom andern, seine Kräfte üben und einen schönern, freieren Genuß des Lebens sich erwerben könnte“, und resümiert: „Was also in der Geschichte je Gutes getan ward, ist für die Humanität getan worden; was in ihr Törichtes, Lasterhaftes und Abscheuliches in Schwang kam, [50]ward gegen die Humanität verübet“ (Herder 2007b). Ein „ernüchterter Humanimus“ (Schmid 1999, S. 177) nach dem zweiten Weltkrieg verzichtet allerdings darauf, ein ideales Bild des Menschen zu zeichnen. Vielmehr geht es ihm um eine „Wiederentdeckung des Einzelnen sowohl als Subjekt wie auch als Objekt der Humanität, getragen von der Sorge, das eigene Leben so zu gestalten, dass es lebenswert und bejahenswert erscheint, und dies auch jedem Anderen zu ermöglichen. Wird als Subjekt ein Einzelner angesprochen, verschwindet dieser nicht mehr in der abstrakten Allgemeinheit ‚des Menschen‘, die ihn jeder gelebten Humanität enthebt, und der Andere kommt als Objekt, das selbst ein Subjekt ist, in den Blick und löst sich nicht mehr im Nebel der allgemein menschlichen Anonymität auf; beide tragen einen Namen, haben eine Geschichte und sind nicht mehr bloße Zahl“ (S. 178).

Die Verwirklichung einer guten Erziehung bedarf einer Füllung des „Guten“, einer Wert- und Sinnvergewisserung, die bei universellen Wertvorstellungen sowie im Begriff der Humanität und in seinen vielfachen Ausprägungen fündig werden kann.

2.1.4.5Die fünfte pädagogische Tugend: Nachdenklichkeit

Die fünfte und die sechste pädagogische Tugend ergeben sich aus der Unzulänglichkeit des Menschen selbst und kennzeichnen sein Bemühen, dieselbe soweit wie möglich auszugleichen. Zunächst ist das Wissen, das er sich aneignet, nie letztgültig und unbezweifelbar. John Dewey weist darauf hin, dass auch die Wissenschaften keine letztgültigen Wahrheiten bieten und der ständigen Erneuerung bedürfen (Dewey 1998, S. 30ff.; vgl. Oelkers 2001, S. 227). Die widerstreitenden Konzeptionen, Werte, Bedürfnisse zwingen zur Abwägung und Orientierung. Der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik bekennt: „Ich halte daran fest, daß pädagogisches Handeln als solches letzthin riskant ist, daß es keinerlei auch noch so subtil hergeleitete Norm gibt, die die schließliche Richtigkeit solchen Handelns verbürgt“ (Brumlik 1973, S. 138). Auch kann man sich als erziehender Mensch nie endgültig sicher sein, im Sinne der eigenen Ziele oder Werte zu handeln oder in konkreten Fällen gehandelt zu haben. So bedarf es der fünften pädagogischen Tugend: der Nachdenklichkeit.

Durch sie kommen Überzeugungen und handlungsleitende Theorien ebenso immer wieder auf den Prüfstand wie Routinen und Gewohnheiten. Dies ist nicht immer leicht. Häufig gibt es die Versuchung oder Tendenz dazu, auf Vorstellungen zu beharren. Ihre Modifikation könnte zu Verlusten an Macht oder Prestige führen. Auch kann die Angst vor Destabilisierung von Denkgebäuden das Nachdenken lähmen oder zumindest behindern, sodass der Ausgang solcher Reflexionen oft schon vorher weitgehend feststeht (vgl. Ciompi 1999, S. 109ff.). Neben den eher stabilen Größen wie Grundüberzeugungen und Handlungsmustern werden in der Nachdenklichkeit aber auch konkrete Situationen wieder in Erinnerung gerufen und noch einmal im Hinblick darauf durchgespielt, ob sie zu bejahen sind oder womöglich zu Korrekturen in der Zukunft Anlass geben.

All dies sind Akte der Reflexion, des Sich-Zurückbeugens auf sich selbst und auf sein eigenes Handeln in der pädagogischen Praxis aus der Distanz heraus, die der Mensch zu sich einnehmen kann. „Die Bereicherung des Erfahrungsschatzes hängt nicht etwa nur [51]von der Vielzahl der Erfahrungen, sondern von deren Reflexion ab, um Erkenntnisse aus den gemachten Erfahrungen zu ziehen, vorschnelle Schlüsse aber zurückzuhalten. Die Reflexion erfordert eine Distanznahme zu dem, was dem Selbst widerfahren ist, um die Erfahrung, die gemacht worden ist, gleichsam von Aussen charakterisieren zu können als einzigartige oder aber anderen Erfahrungen ähnliche, als zufallsabhängige oder aber allgemeine Erfahrung, bedingt von Strukturen und eingebunden in bestimmte Zusammenhänge; was sich aus der Reflexion ergibt, ist als ‚Bestätigung, Korrektur oder Widerlegung‘ auf die Lebensführung zurückzubeziehen“ (Schmid 1999, S. 301; die Begriffe in Anführungszeichen zitiert Schmid nach Hinske 1986, S. 40). Ohne die von Wilhelm Schmid als Bedingung genannte Distanznahme bliebe der Mensch zu sehr in der Praxis stecken, um Orientierungen für mögliche Kurskorrekturen finden zu können. Ohne das Sich-Einlassen auf die Praxis bliebe er andererseits zu sehr sich selbst und seinen Gedankengebäuden verhaftet, um angemessen auf die Anforderungen der Praxis reagieren zu können. So ergänzen sich die Tugend der Sensibilität für die konkrete Situation und die Tugend der Nachdenklichkeit notwendig zum rechten Verhältnis eines verantworteten pädagogischen Handelns. Ähnlich sieht auch Schmid die Reflexion als notwendige Ergänzung zu Intuition und Gespür an. Die Reflexion von Erfahrungen helfe sogar, das Gespür auszubilden und einzuüben (Schmid 1999, S. 198f.).

Für die Musik hat Bazon Brock genau diese Balance als Bildungsideal beschrieben: „Die musikalische Aufklärung ist nicht die Mitte, sondern das Hin und Her zwischen den Extremen, wobei das eine Extrem nur mit Bezug auf das andere formulierbar ist. Kaum ist man im Gefühlsrausch, da verlangt’s einen nach der Schärfe des Begriffes, da versucht man, Konzepte herauszuholen, gedankliche Gebäude. Hat man aber das wieder erreicht, dann zieht es einen wieder mächtig, sich ganz auf die rauschhafte Verblendung einzulassen und das magere Gedankenkonstrukt aufzugeben. Das ist musikalische Aufklärung“ (Brock 1984, S. 18). Zwar geht es in diesem Zitat um Ästhetik, doch gerade die Analogie zwischen pädagogischer Praxis und Spielprozessen lässt es legitim erscheinen, es dem Sinn nach auf die Pädagogik zu übertragen. Auch hier gibt es durchaus den „Rausch“ der Praxis, der der Ergänzung durch die Reflexion bedarf.

Der von Brock geschmähte Mittelweg ist als Kompromiss nicht möglich, wohl aber ist eine Integration beider Pole denkbar, wenn das Nachdenken sich in der Praxis selbst ansiedelt: „Der allzu schnelle Schluss auf eine gebotene Wahl, noch dazu eine bestimmte Wahl, wird somit unterbrochen, um jenen Spalt zu öffnen, in dem die Reflexion sich einnisten kann“ (Schmid 1999, S. 206). Mit dem Nachdenken in der Praxis hat sich Donald A. Schön intensiv befasst. Er spricht vom „Reflective Practitioner“ und zielt damit auf das „Thinking in Action“ von „Professionals“ wie Richtern, Architekten, Ingenieuren, Stadtplanern, Managern, Psychotherapeuten und auch Lehrern. Der Kronberger Kreis für Qualitätsentwicklung in Kindertageseinrichtungen bezieht sich auch für die Erziehung in Kindertageseinrichtungen ausdrücklich auf Schöns Gedanken (Kronberger Kreis für Qualitätsentwicklung in Kindertageseinrichtungen 1998, S. 18). Schön nähert sich seinem Hauptthema zunächst, indem er es von anderen Begriffen absetzt: So ist das „Nachdenken im Tun“ als Gegenbegriff zu einer „technischen Rationalität“ konzipiert (Schön 1983, S. 21ff.). Innerhalb dieses Gegenpols zur „technischen [52]Rationalität“ trifft Schön sodann die Unterscheidung zwischen „Knowing-in-action“ einerseits (S. 50ff.), also einem uns meist nicht bewussten Handlungswissen, und „Reflecting-in-action“ andererseits (S. 54ff.). Letzteres meint ein Nachdenken über das Tun während des Tuns selbst. So muss „Reflecting-in-action“ auch von „Reflecting-on-action“ unterschieden werden; Schön kommt es gerade auf die Verzahnung von Reflexion und Praxis, also auf die Gleichzeitigkeit beider an. Als Vergleich wählt Schön das Improvisieren im Jazz, welches das Variieren, Kombinieren und Rekombinieren eines Sets von Figuren sowie das Schaffen neuer Sinnzusammenhänge, also reflexive Akte im Moment des Spielens erfordert. Schön ergänzt, hier werde nicht zwangsläufig mit Worten nachgedacht, eher finde die Reflexion im Medium des „Gefühls für die Musik“ statt. Besonders wenn die intuitive Ausführung zu erfreulichen oder unliebsamen Überraschungen führe, wenn sich Unerwartetes ergäbe, fokussiere das Nachdenken auf eine interaktive Weise, also in Kontakt mit den gegenwärtigen Erfahrungen, die Aktion, ihre Ergebnisse und das implizite Handlungswissen (S. 55f.). Ähnlich spricht Schön auch von einer „reflektiven Konversation mit der Situation“ (S. 295). Das „Antworten“ auf das, was einem gerade widerfährt, müsse sich nicht nur auf das Agieren beschränken, sondern könne als „theory-response“ schließlich zu neuen theoretischen Orientierungen führen (S. 58f.). Den Begriff „Reflecting-in-practice“ reserviert Schön schließlich für das Reflektieren in der professionellen Berufsausübung. Gerade hier könne neben dem Nachdenken über die Praxis auch das Reflektieren in der Praxis dazu führen, dass Vorannahmen und Einstellungen aufgedeckt werden, die sich im Verlaufe wiederkehrender Erfahrungen eingeschlichen haben, dass verfestigte Sichtweisen korrigiert werden und neue Horizonte sich auftun können. Auf dieser Basis können bewusste Wertentscheidungen getroffen und neue Hypothesen und Strategien – etwa auch neue Lehrmethoden – im Kontext der Praxis erprobt werden, wodurch sich gewissermaßen auch Praxis und Forschung verschränken (S. 61ff.).

Da dies alles zur Verwirklichung einer guten Erziehung prinzipiell immer wieder nötig ist, kann die Nachdenklichkeit als unabdingbare Voraussetzung guter Erziehung angesehen werden und soll hier zu den pädagogischen Tugenden gezählt werden. Wie alle Tugenden fällt sie einem nicht einfach zu. Dass und wie sie geübt und ausgebildet werden kann, hat Schön für das „Reflecting-in-practice“ ebenfalls bedacht.

2.1.4.6Die sechste pädagogische Tugend: Integrität

Zu den Unzulänglichkeiten des Menschen in ethischer Hinsicht zählt es sicher auch, dass er nicht immer den eigenen Einsichten gemäß handelt. Auch wenn er erkennt, dass er lieben sollte, zur Kooperation bereit sein, sensibel sein, sich an Werten orientieren und nachdenken sollte, heißt das nicht, dass er dies alles auch in die Tat umsetzt. So wie es eingeschliffene Denkmuster gibt, so können auch gewohnte Verhaltensweisen einem an den Tugenden ausgerichteten Leben entgegenstehen. Die letzte pädagogische Tugend ist nötig, um alle anderen – und damit wiederum erst eine gute Erziehung – verwirklichen zu können: die Integrität.

Der Begriff der Integrität soll hier für eine innere Stimmigkeit trotz widersprüchlicher Tendenzen stehen, für ein Zusammenbringen dieser Tendenzen, speziell auch ein [53]Zusammenführen von Überzeugungen und Erkenntnissen mit Handlungsmustern und Gewohnheiten. Für Erik Erikson drückt der Begriff der Integrität „in seiner einfachsten Bedeutung […] ein Gefühl von Kohärenz und Ganzheit“ aus (Erikson 1998, S. 83). Er benutzt den Begriff innerhalb seines Modells des Lebenszyklus für die Lebensphase des Alters und stellt ihm als Gegenpole die Begriffe der Verzweiflung und des Hochmutes an die Seite. Als Gefahr wird weiter der „Dogmatismus“ benannt, als lohnendes Ziel dieser Phase die „Weisheit“. Wenn Erikson feststellt, im Dogmatismus stecke eine „zwanghafte Pseudo-Integrität“ (S. 83), so lässt sich dies auch auf den Bereich der Pädagogik beziehen: Im Dogmatismus wird jene Stimmigkeit dadurch erzwungen, dass Überzeugungen und Verhaltensmuster gewissermaßen festgezurrt werden. Im Begriff der Weisheit hingegen schwingt eine Weitsicht und Ehrlichkeit mit, die eine Stimmigkeit bis in die Tiefen der Person hinein überhaupt erst möglich macht. Nicht nur im Alter, sondern durchaus auch grundsätzlich auf dem Feld des Erziehens gilt, dass misslingendes Streben nach Integrität zu Verzweiflung einerseits und zu Hochmut andererseits führen kann. Die misslingende Übereinstimmung zwischen den eigenen Idealen und den Unbilden des Handelns in der Praxis führt gerade auch in pädagogischen Berufen nicht selten zu Demotivierung und Verzweiflung bis hin zum Burnout-Syndrom (vgl. Burisch 1994; Gebauer 2000). Bei der Variante des Hochmuts liegt in der Abwertung der Schülerinnen und Schüler, wie sie sich als Flucht vor der eigenen Einsicht manchem Lehrer anbietet, eine Erklärung für jene Diskrepanz zwischen Idealen und pädagogischen Erfolgen, die vor Selbstvorwürfen und Verzweiflung bewahren hilft. Der Preis hierfür liegt freilich darin, dass auch in diesem Fall keine echte Integrität erreicht werden kann.

Die Stimmigkeit zwischen Innenleben und Verhalten klingt auch in den Begriffen der „Echtheit“ und der „Authentizität“ an, wie sie die Humanistische Psychologie gebraucht. Carl Rogers sieht die Echtheit als Voraussetzung für ein „wachstumsförderndes Klima“ an und spricht auch von „Kongruenz“, „Unverfälschtheit“ und „Transparenz“, bezieht sich allerdings insbesondere auf eine situationsbezogene Stimmigkeit zwischen momentanen Gefühlen und Verhalten (Rogers 1985, S. 19f.). Auch Echtheit und Selbstkongruenz sind von Reinhard und Annemarie Tausch für die Erziehungspsychologie übernommen und darin als förderlich für die Entwicklung von Kindern beschrieben worden (Tausch, Tausch 1977). Über die Stimmigkeit zwischen Gefühlen und Handlungen in einer konkreten Situation hinaus ist es durchaus denkbar, auch eine situations-übergreifende, generelle Stimmigkeit anzunehmen, die damit zu einer Eigenschaft der Person würde, wie es von Tugenden allgemein gilt.

Ein den Tugenden entsprechendes Verhalten kann und muss schon nach Aristoteles durchaus die Frucht ausdauernder Bemühungen sein. Ausdrücklich werden bei ihm die Ausbildung der Tugenden, die Eingewöhnung und Einübung thematisiert (vgl. Pieper 2003, S. 275f.); hierin schließt Aristoteles an Platon an, der denselben Gedanken in seinen Überlegungen zur Erziehung äußert (Platon 1984, S. 227). In diesem Prozess der Gewöhnung und Übung wird es auf Voraussetzungen ankommen, wie sie Erich Fromm allgemein für die Beherrschung einer jeden Kunst, also auch für die „Kunst des Liebens“ beschreibt: auf Disziplin, Konzentration, Geduld und das unbedingte Interesse (Fromm 1959, S. 141ff.). Mit diesen Begriffen sind jedoch nicht sogleich neue [54]Tugenden eingeführt. Disziplin, Konzentration, Geduld und Interesse können auch im Dienste perfider Unternehmungen stehen und können mit den Worten von Carl Amery als „Sekundärtugenden“ verstanden werden, die nur in Verbindung mit anderen Wertmaßstäben für Positives bürgen (Amery 1963, S. 22; vgl. Koch 1995, S. 110). Sie illustrieren hier lediglich den Prozess des Bemühens, der die Integrität als pädagogische Tugend kennzeichnet.

Tatsächlich mag das Bemühen selbst für die Integrität bedeutender sein als ein permanentes Gelingen. Im Sinne der von Rogers beschriebenen Authentizität können pädagogische „Ausrutscher“, durch die drängende Emotionen zum Ausdruck kommen, die Integrität kaum ernsthaft gefährden. Es käme darauf an, neben grundsätzlichen Überzeugungen auch eigene Bedürfnisse und auch eruptive Regungen in das pädagogische Handeln so zu integrieren (!), dass Stimmigkeit gegeben ist. Kontraproduktiv ist hingegen ein zielloses Sich-gehen-Lassen, das letztlich verhindern kann, dass Liebe, Kooperationsbereitschaft, Sensibilität, Wertorientierung und Nachdenklichkeit für den Erziehungsprozess förderlich zum Tragen kommen können. Es bedarf daher der pädagogischen Tugend der Integrität, um gute Erziehung tatsächlich in die Wirklichkeit umsetzen zu können.

2.1.4.7Die pädagogischen Tugenden als ethische Orientierung

Die pädagogischen Tugenden sind als nicht-relativer Katalog konzipiert worden. Sie sollen unabhängig vom geschichtlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontext als ethische Orientierung für Pädagogik allgemein gelten. Ausgangspunkt ist das Streben nach guter Erziehung, welches im Rahmen erziehungswissenschaftlicher Reflexionen als sinnvoll unterstellt werden muss. Das Umsetzen von Erkenntnissen über gute Erziehung ist auf die pädagogischen Tugenden angewiesen. Man muss dem Kind überhaupt erst einmal das Gute wünschen und aus einer Einstellung der Liebe heraus geben wollen. Das Kind muss sich in der Erziehungspraxis zur Geltung bringen können, da keine Theorie es als Individuum zu beschreiben vermag. Da auch die konkrete Situation nicht von der Theorie beschrieben werden kann, bedarf es der Sensibilität für sie. Um von guter Erziehung überhaupt sprechen, um handlungsleitende Aussagen als gut akzeptieren zu können, bedarf es einer Wertorientierung. Angesichts der Beschränktheit des Vermögens zu erkennen und zu handeln, sind immer wieder Ziele und Mittel abzuwägen, ist also Nachdenklichkeit erforderlich. Schließlich müssen alle Tugenden in die eigene Person und das eigene Handeln stimmig integriert werden; ohne Integrität können auch die anderen Tugenden nicht fruchtbar werden und ist gute Erziehung nicht existent. Die pädagogischen Tugenden sind, wie es MacIntyre von Tugenden allgemein sagt, der Praxis inhärent (vgl. MacIntyre 1995, S. 250ff.), also mit dem Sinn pädagogischer Praxis untrennbar verbunden: Wer sie missachtet, kann den eigentlichen Sinn von Pädagogik ebenso wenig einholen wie jemand, der beim Wettspiel betrügt. Wo sie missachtet werden, da wird jener pädagogische Sinn verfehlt. Wie jedoch eine Erziehungspraxis auf der Basis dieser Tugenden konkret auszusehen hat, ist abhängig vom Umfeld und nicht ein für alle Mal zu bestimmen.

[55]Wenn die pädagogischen Tugenden in diesem Sinne als absolut angesehen werden können, dann mag auch das Gedankenspiel erlaubt sein, sie selbst als Wertorientierung im Sinne der vierten Tugend ins Spiel zu bringen. Die Aufforderung, sich nach Werten auszurichten, wie sie die vierte Tugend impliziert, wäre damit allerdings nicht mehr nötig, denn die Aufforderung, sich nach den übrigen Tugenden auszurichten, beinhaltet ja bereits eine Wertorientierung. Neben den vielfältigen genannten Orientierungsangeboten stünde dann ein Katalog von fünf Tugenden, der zwar aus der Frage nach guter Erziehung heraus entwickelt worden ist, darüber hinaus aber für das Leben insgesamt ethische Orientierung bieten könnte.

Auch allgemein gilt, dass erst ein liebevolles Wohlwollen den Impuls entstehen lässt, anderen etwas Gutes zu tun. Die Bereitschaft, dem Mitmenschen, dem ich Gutes will, eine Mitwirkung zu ermöglichen, stellt erst sicher, dass das angenommene Gute sich auch wirklich gut auswirkt. Ebenso bedarf es einer Sensibilität für die konkreten Gegebenheiten, um das Gute „passgenau“ tun zu können. Die beiden letztgenannten Argumente lassen sich beispielsweise konkret auf die Entwicklungshilfe oder die Mission beziehen, sollten aber allgemeine Geltung besitzen. Weiter resultiert für den, der Gutes tun und bewirken will, aus der eigenen Beschränktheit und Unvollkommenheit wohl generell die Forderung nach Nachdenklichkeit über das eigene Handeln und beim Handeln selbst. Das Wort „gut“ kann gesteigert werden; es gibt ein „besser“ oder „schlechter“ und also eine permanente Möglichkeit zur Verbesserung. Schließlich kann prinzipiell nur Integrität im Sinne von Stimmigkeit (→S. 52ff.) dafür bürgen, dass die erkannten Werte auch eingeübt und in die Person integriert werden.

In diesem Sinne könnten also die pädagogischen Tugenden auch zu allgemeinen Tugenden taugen. Plakativ formuliert würde das heißen:

 Begegne deinen Mitmenschen mit der Einstellung der Liebe!

 Sei bereit, mit ihnen zu kooperieren, gib ihnen Gelegenheit, sich zur Geltung zu bringen!

 Sei sensibel in ethisch relevanten Situationen!

 Denke immer wieder über dich, dein Handeln und deine Auffassungen nach!

 Bemühe dich darum, dass deine Überzeugungen und Erkenntnisse auch dein Handeln prägen und du zu persönlicher Stimmigkeit findest!

Der Gedanke, dass aus dem Streben nach guter Erziehung allgemeine ethische Orientierungen erwachsen könnten, muss durchaus nicht abwegig sein. Schließlich lässt sich das Erfordernis des Erziehens auch mit entscheidenden Schritten in der Entwicklung der Menschheit insgesamt in Verbindung bringen. Im Unterschied zu den früh schon relativ kräftigen Kindern des Neandertalers kamen die Kinder des Cro-Magnon-Menschen, der eine Weile lang zeitgleich in Europa lebte, recht hilflos auf die Welt. Dies war bedingt durch ein im Verlaufe der Stammesgeschichte immer größer gewordenes Gehirn, das den Geburtskanal nur in einem frühen Stadium passieren konnte. Die Frühgeburt machte eine aufwendige Versorgung und Betreuung erforderlich. Diese aber könnte ein bedeutender Faktor für eine immer feinere Ausdifferenzierung des Sozialgefüges beim Homo sapiens gewesen sein, machte es doch gewisse Arbeitsteilungen, Abstimmungen und Kooperationen nötig. Man kann davon ausgehen, dass die Differenzierung des [56]Sozialgefüges wiederum mit einer Differenzierung des Verhaltens und der Psyche einherging (vgl. Allman 1999, S. 260ff.). Biologisch betrachtet mussten auch Eltern sich erst um das Lebendighalten ihrer Liebe, um das Pflegen ihrer Beziehung bemühen, als das Kind einer längeren Zeit der Fürsorge bedurfte. Demnach könnte sich das ethische Verhalten im Gefolge der Erfordernisse von Erziehung noch einmal weiter entwickelt haben.

Eine Pädagogik, die sich nicht nur für das erzieherische Geschäft selbst, sondern auch in ihrer gesamten Zielrichtung und Wertausrichtung an den genannten Tugenden orientiert, die sie im Sinne der vierten pädagogischen Tugend als Maß für „gut“ und „schlecht“ heranzieht, müsste wie folgt aussehen:

 Sie müsste liebevoll sein und befördern, dass auch die Kinder und Jugendlichen ihre Mitmenschen lieben können.

 Sie müsste sich durch die Bereitschaft zur Kooperation auszeichnen und den Kindern und Jugendlichen helfen, bereit zu sein, mit anderen zu kooperieren.

 Sie müsste von Sensibilität gekennzeichnet sein und die Ausbildung von Sensibilität bei den Kindern und Jugendlichen fördern, damit diese ihren Mitmenschen und den ethischen Anforderungen in ihren konkreten Lebenssituationen gerecht werden können.

 Sie müsste nachdenklich zu Werke gehen und Kindern und Jugendlichen zur Nachdenklichkeit über die eigene Person und das eigene Handeln verhelfen.

 Sie müsste eine Stimmigkeit von Werten und Handeln aufweisen und auf eine solche Integrität bei den Kindern und Jugendlichen abzielen.

Umgekehrt wären lieblose, rigide dirigistische, unsensible, selbstgefällige und heuchelnde Erziehungs- und Lebenspraktiken in jedem Falle als „schlecht“ zu bezeichnen. Dasselbe gilt dann aber auch für eine Pädagogik, die das Lieben erschwert oder gar unmöglicht macht; die Kinder und Jugendliche so prägt, dass diese selbst nicht zur Kooperation mit anderen finden können; die die Sensibilität von Kindern und Jugendlichen verkümmern lässt; ihnen das Nachdenken austreibt und sie zum Heucheln verführt. Einschlägige Anregungen bietet die Sammlung zur „schwarzen Pädagogik“ von Katharina Rutschky (Rutschky 1982).

Die als vierte genannte Tugend der Wertorientierung enthält neben dem Aspekt der Sittlichkeit auch den des Sinns. Tatsächlich können sich die pädagogischen Tugenden auch in diesem Zusammenhang als allgemeine Werte anbieten. Die Liebe wurde als Form intensiven Erlebens von Viktor Frankl ausdrücklich thematisiert (Frankl 2001, S. 241f.; vgl. auch: 92ff.). Kooperationsbereitschaft und Sensibilität können das Erleben um neue Horizonte erweitern und bereichern, können aber auch das schöpferische Tun befördern. Wilhelm Schmid argumentiert: „Immerhin können bei einer Vielzahl kooperierender Individuen die Einzelnen sich wechselseitig eine ungleich reichere Erfahrung des Lebens vermitteln, als dies ein Einzelner jemals für sich erreichen kann“ (Schmid 1999, S. 272). Nachdenklichkeit im Sinne innerer Sammlung und Besinnung kann zu innerem Wachstum und zu persönlicher Reifung beitragen und gerade auch in Krisensituationen zu einer am Sinn festhaltenden Einstellung verhelfen, wie Frankl [57]daran verdeutlicht, dass in vielerlei Krisen bis hin zur Lagerhaft das Lesen von Büchern als Hilfe praktiziert und empfunden wird (Frankl 2001, S. 11ff.). Die Integrität schließlich ist bei Erik Erikson ja dezidiert als Gegenbegriff zur Verzweiflung konzipiert. Bei ihm klingt schließlich sogar der von Frankl so bezeichnete „Übersinn“ des Lebens (vgl. S. 267ff.) an: Wenn die Hoffnung, „ohne die das Leben weder anfangen noch sinnvoll enden kann“, im Lebenslauf bis zu jenem Punkt der Integrität heranreift, so kann sie zu „jene[r] letzte[n] mögliche[n] Form von Hoffnung“ werden, für die „sich ganz sicher das Wort Glaube“ anbietet (Erikson 1998, S. 80). So lässt sich von den pädagogischen Tugenden auch unter der Perspektive des Sinns sagen, dass sie hilfreiche Werte für ein gutes Leben abgeben können.

Bemerkenswert ist es, dass die entwickelten Tugenden auch für Kinder erreichbar, ja sogar bis zu einem gewissen Grade charakteristisch scheinen: In der Regel werden Kinder diejenigen, die sie erziehen, insbesondere ihre Eltern, lieben. Sie sind von Anfang an bereit zur Abstimmung des Verhaltens, zur Kooperation mit den sie erziehenden Menschen (vgl. zum Beispiel Kaplan 1993; Stern 1998, vgl. Dartsch 2007c). Sie erspüren sensibel, was „in der Luft liegt“. Sie bilden von frühester Kindheit an Hypothesen über die Welt und sich selbst (vgl. auch hierzu: Stern 1998), sie fragen und forschen. Sie sind schließlich im Allgemeinen in hohem Maße integer, ihr Innenleben kann unmittelbar an ihrer Mimik und ihrem Verhalten abgelesen werden.

Dies alles ist selbstverständlich abhängig von den Umständen, den biografischen Prägungen, der Erziehung selbst. Nichtsdestoweniger scheint hier die Möglichkeit auf, die Tugenden im Zusammenspiel mit den Kindern gemeinsam zu verwirklichen. Gute Erziehung und gute Lebenspraxis gehen dann in eins zusammen.

Mensch, Musik, Bildung

Подняться наверх