Читать книгу DER AUFSTIEG DES ROTEN DRACHEN - Michael E. Salla - Страница 9
1Das Genie Dr. Tsien hilft Amerika, sein Raketenprogramm zu zünden
ОглавлениеZweifellos die wichtigste Figur in Chinas Weltraumprogramm war Tsien Hsue-shen, der von 1956 bis 1991 die Entwicklung von Chinas Flugkörpern und Trägerraketen verantwortete.
– SpaceTech Asia, 2017 –
Dr. Tsien Hsue-shen oder, in chinesischer Schreibweise, Qian Xuesen war ein chinesischer Mathematiker, Physiker, Kybernetiker und Luft- und Raumfahrtingenieur, dessen glanzvolle wissenschaftliche Karriere die Vereinigten Staaten und China auf unauslöschliche Weise beeinflusste. Letztlich ließen die Früchte seiner Arbeit diese beiden stolzen Nationen in einen Machtkampf um die globale Vormachtstellung eintreten. Wie hat das alles begonnen? Genie und Schicksal spielten gleichermaßen eine Rolle in Tsiens Geschichte von persönlichem Triumph und überraschendem Sturz in Amerika, wo seine Karriere 1950 jäh endete. Sein Heimatland applaudierte fünf Jahre später bei der Rückkehr des verlorenen Sohnes, dem es nun möglich war, durch seine vielen Talente und die in den USA erlangten Geheimnisse China zu helfen. Tsien wurde 98 Jahre alt, und sein Tod im Jahr 2009 wurde in den Medien beider Länder gewürdigt. Sein Lebenswerk legte die Fundamente für die nationalen Geheimen Weltraumprogramme in beiden Ländern. Diese erstaunlichen Ergebnisse werden im vorliegenden Buch zum ersten Mal enthüllt.
Tsien wurde 1911 in Hangzhou, China, geboren und schloss 1934 sein Maschinenbaustudium an der Shanghai-Jiaotong-Universität ab. Er absolvierte ein Praktikum auf der Nanchang-Air-Force-Basis, bevor er 1935 mit einem sogenannten Boxer-Indemnity-Stipendium in die USA reiste, um im Alter von vierundzwanzig am renommierten MIT zu studieren.1 Er absolvierte das MIT mit einem Master of Science in Maschinenbau. Anschließend wechselte er zur Caltech nach Pasadena, Kalifornien, um dort zu promovieren.
Damit folgte er dem Rat eines Mannes, der zu Tsiens langjährigem Mentor, Freund und Kollegen werden sollte.
Durch diesen Wechsel wurde der legendäre Physiker und Luft- und Raumfahrtingenieur Dr. Theodore von Kármán (1881-1963), dessen Theorien und Experimente ihn weithin als »Vater des Überschallzeitalters« bekannt machten, auf der Caltech zum Betreuer der Abschlussarbeit des jungen Mannes.2 Von Kármán spielte eine Schlüsselrolle in der Entwicklung amerikanischer Weltraumprogramme, die sowohl konventionelle Raketen- als auch neuartige Antriebssysteme verwenden. Während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg war er der wichtigste wissenschaftliche Berater von Henry »Hap« Arnold, dem kommandierenden General der 1941 offiziell gegründeten U.S. Army Air Force. Arnold, ein weitsichtiger Visionär, war der einzige Fünf-Sterne-General, der jemals in zwei Waffengattungen diente: der U.S. Army und der U.S. Air Force.
Es gibt Äußerungen von Kármán über sein erstes Treffen mit Tsien. Dabei erläuterte er, wie sich schnell eine enge Beziehung zwischen ihnen entwickelte:
»Eines Tages im Jahr 1936 kam er zu mir, um Ratschläge für weitere Studienabschlüsse zu erhalten. Dies war unser erstes Treffen. Ich sah einen kleinen jungen Mann mit ernstem Blick, der meine Fragen mit ungewöhnlicher Präzision beantwortete.
Ich war sofort beeindruckt von der Schärfe und Schnelligkeit seines Geistes, und ich schlug vor, dass er sich für ein fortgeschrittenes Studium an der Caltech einschrieb.
Tsien stimmte zu. Er hat mit mir an vielen mathematischen Problemen gearbeitet. Ich fand ihn ziemlich einfallsreich, mit einer mathematischen Begabung gesegnet, die er erfolgreich mit einer großen Fähigkeit kombinierte, das physikalische Bild natürlicher Phänomene genau zu visualisieren. Schon als junger Student half er mir dabei, einige meiner eigenen Ideen zu verschiedenen schwierigen Themen zu klären. Dies sind Gaben, denen ich nicht oft begegnet bin, und Tsien und ich wurden enge Kollegen.«3
Diese Begabungen sind auch ein frühes Zeichen des außerordentlichen Interesses von Tsien an übersinnlichen Phänomenen. Später in seinem Leben befasste er sich mit der wissenschaftlichen Untersuchung von Telepathie, einem Gebiet, das von chinesischen Wissenschaftlern allmählich akzeptiert wurde.
Tsien erhielt seinen Doktor der Philosophie 1939 und wurde der Schützling von Kármáns. Er wurde in das neue Gebiet des Raketenantriebs eingeführt und baute zusammen mit zwei anderen Ingenieuren der Caltech frühe amerikanische Versionen der deutschen V2-Rakete. Die Nähe, die sich zwischen von Kármán und Tsien entwickelte, findet in von Kármáns Autobiografie ihren Ausdruck, in der Tsien der einzige Student ist, dem er ein ganzes Kapitel widmet. Iris Chang, Tsiens Biografin, fasste diese enge Beziehung wie folgt zusammen:
»Die beiden waren das reinste Ehepaar. Kármán hatte das Genie der physischen Einsicht – die Fähigkeit, aerodynamische Probleme zu visualisieren und ihre Schlüsselelemente herauszuarbeiten. Tsien indessen besaß Beharrlichkeit und die Gabe der angewandten Mathematik, die notwendig waren, um die Details zu Papier zu bringen. Die Arbeitsteilung schien gut definiert zu sein. Wenn Kármán in einer jähen Erkenntnis das große Bild und die Struktur einer Theorie vor sich sah, war es oft Tsien, der sie sorgfältig Zeile für Zeile in eine mathematische Formel umsetzte. Betrachtete der spontane, gesellige Kármán die Mathematik vor allem als Werkzeug, als Mittel zum Zweck, sah der akkuratere Tsien sie als Selbstzweck, genoss ihre Eleganz und Form.«4
Der ehemalige Leiter des Antriebs- und Verbrennungslabors der Princeton University, Dr. Martin Summerfield, studierte ebenfalls an der Caltech und war einer von Tsiens Freunden. Er erinnerte sich, wie Tsien für von Kármán schnell unschätzbaren Wert bekam:
»Er war Kármáns rechte Hand. Er führte alle Arten von Projekten und Gedanken aus, die Kármán hatte, und er konnte sie mit Schnelligkeit ausführen, und indem er Tag und Nacht arbeitete, lieferte er das Manuskript oder die Berechnungen immer umgehend, aber auch sehr brillant ab. Er wurde ein enger Assistent – Kármáns rechte Hand –, und er arbeitete Formeln aus, die Kármán entwickelt hatte. Er hatte die Brillanz und er hatte die Geschwindigkeit. Es war ungewöhnlich, jemanden wie ihn zu finden.«5
Anfang 1937 schloss sich Tsien einer kleinen Gruppe von Caltech-Studenten an, die die Machbarkeit von Raketen als zukünftige aerodynamische Fluggeräte untersuchten. Am 29. Mai 1937 schrieb er einen Bericht mit dem Titel »The Effect of Angle of Divergence of Nuzzle on the Thrust of a Rocket Motor« (»Die Auswirkung des Divergenzwinkels der Düse auf den Schub eines Raketenmotors«), die von der Gruppe als Teil ihrer »Bibel« angenommen wurde.6 Von Kármán war so beeindruckt von Tsiens Arbeit und der der anderen Doktoranden, dass er der Gruppe half, offizielle Anerkennung als Guggenheim Aeronautical Laboratory der Raketenforschungsgruppe des California Institute of Technology (GALCIT) zu gewinnen.7
Nach der Abgabe des ersten Konferenzpapiers über Raketen am Institut of Aeronautical Sciences (IAS), dem Institut für Luftfahrtwissenschaften mit Sitz in New York, im Januar 1937 berichtete die Studentenzeitung California Tech über die Caltech-Raketengruppe:
»Die Rakete ist aus dem Reich der Fiktion herausgetreten und Wirklichkeit geworden. In den nächsten drei Monaten werden Frank J. Malina, A. M. O. Smith und Hsue-she Tsien, Caltech-Absolventen der Luftfahrt, bessere Informationen über Raketenmotoren haben, als die ganze Welt sie bei früheren Versuchen bekommen konnte.«8
Dann zitierte die California Tech einen von Tsiens Träumen für zukünftige Raketenexperimente:
»Ein Ziel dieses Experiments ist es, einige der Eigenschaften der Erdatmosphäre in eintausend bis eintausendfünfhundert Kilometern Höhe zu erforschen. Die dafür vorgesehenen Raketen werden aus drei Teilen bestehen. Beim Aufsteigen durch die unteren Schichten dichter Luft wird viel Energie verbraucht, und deshalb soll, wenn möglich, von einem hohen Berg aus gestartet werden. Sobald sich die Rakete oberhalb der dichteren Luft befindet, verliert sie an Eigengewicht und fliegt mit verringertem Kraftstoffverbrauch. Schließlich wird zu einem festgelegten Zeitpunkt eine zweite Stufe abgestoßen und die Rakete wird in eine höhere Höhe steigen.«9
Bald wurden Tsien und die Caltech-Raketengruppe von Reportern auflagenstarken Zeitschriften wie Popular Mechanics und Zeitungen aus Los Angeles interviewt und gefragt, was Raketen eigentlich alles leisten können.
Im Mai 1938 erschien Tsiens erste gemeinsam mit von Kármán verfasste Arbeit »Boundary Layer in Compressible Fluids« (»Grenzschicht in komprimierten Flüssigkeiten«). Sie untersuchte das Verhalten von Flüssigkeiten bei sich schnell bewegenden Objekten wie Raketen und Fernlenkgeschossen.
Im Oktober folgte ein weiteres von Tsien verfasstes Papier, das in Aeronautical Sciences veröffentlicht wurde: »Supersonic Flow Over an Inclined Body of Revolution« (»Überschallströmung über einem geneigten drehenden Körper«.)10 Tsien untersuchte darin den Auftrieb eines Projektils, das sich mit Überschallgeschwindigkeit bewegt, und wie die festgelegte Mach-Zahl sich direkt proportional zum Anflugwinkel des Projektils verhält.
Tsiens theoretische und experimentelle Arbeiten in der Caltech-Gruppe stießen auf breites wissenschaftliches Interesse sowie große Beachtung durch die Presse. Weitere Artikel folgten schnell, und Tsien erregte in kurzer Zeit nationale Aufmerksamkeit für seine bahnbrechende Arbeit am Thema Überschall. Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor im Dezember 1941 wurden die USA und China im Zweiten Weltkrieg offiziell Verbündete. Von Kármán intervenierte persönlich, um Tsien die notwendige Sicherheitsüberprüfung zu ermöglichen, damit er bei der Caltech an einer Reihe militärisch finanzierter Projekte arbeiten konnte. In seinem Unterstützungsschreiben schrieb von Kármán: »Ich habe nicht den geringsten Zweifel an Tsiens Loyalität gegenüber den Vereinigten Staaten.«11
Chang erklärte, dass Tsiens frisch erteilte Sicherheitsüberprüfung es ihm ermöglichte, »an geheimen Verträgen zu arbeiten – für die Army, Navy, das Army Air Corps, das Kriegsministerium und das Büro für wissenschaftliche Forschung und Entwicklung – und das auf höheren Zugangsebenen als jemals zuvor.«12 Diese Sicherheitsüberprüfung war von entscheidender Bedeutung, da sie Tsien erlaubte, mit von Kármán bei einer Reihe fortgeschrittener Luft- und Raumfahrtprojekte an der Caltech, die von den verschiedenen Waffengattungen finanziert wurden, zusammenzuarbeiten.
Mitte 1943, als Fotos der Army Air Force die ersten Beweise dafür zeigten, dass Deutschland Raketenstartfelder in Nordfrankreich baute, wurde von Kármán gebeten, einen Bericht zu schreiben, in dem er »die Fähigkeit von U.S.-Raketentriebwerken, als Antrieb für Langstreckenraketen zu dienen«, beurteilte.13 Mit technischer Unterstützung durch Tsien und ein anderes Mitglied der Caltech-Raketengruppe (GALCIT) schrieb von Kármán am 20. November 1943 denn auch diesen Bericht, in dem er die Schaffung eines neuen Forschungslabors für Jetantrieb empfahl, des Jet Propulsion Laboratory (JPL). GALCIT wurde im Vorgriff auf die Finanzierung durch die Army in JPL umbenannt. Jahre später schrieb von Kármán: »Unser Vorschlag war das erste offizielle Memo im U.S.-Raketenprogramm.«14
Nachdem das Ordnance Department der U.S. Army, das Materialamt, drei Millionen Dollar an Finanzmitteln bereitgestellt hatte, was damals ein enormer Betrag war, wurde das JPL umbenannt und nahm am 1. Juli 1944 den Betrieb auf. Da das JPL seinen Ursprung offiziell auf die 1936 bei Caltech gegründete Studenten-Raketengruppe zurückführt, der Tsien im folgenden Jahr beigetreten war, galt er als eines der Gründungsmitglieder des JPL.
Tsien war Chef der ersten Abteilung für »Forschungsanalyse« am JPL. Eine der Aufgaben von Tsien als Abteilungsleiter war es, sich mit der Arbeit der anderen acht Abteilungen, aus denen das JPL bestand, vertraut zu machen. Neben der Forschungsanalyse handelte es sich dabei um »Unterwasserantriebe, flüssige Treibstoffe, feste Treibstoffe, Materialtreibstoffe, Konstruktionsdesign, Forschungsdesign und Fernsteuerung«.15 Chang weist darauf hin, dass Tsien als »JPL-Abteilungsleiter schnell als der weltführende Experte im Bereich des Jetantriebs anerkannt wurde«.16
Anfang September 1944 hatte Dr. von Kármán ein geheimes Treffen am Flughafen La Guardia mit General Arnold, der offen über zukünftige Entwicklungen in der Luft- und Raumfahrtindustrie sprach. Der General konzentrierte sich darauf, was der Geheimdienst der Air Force über die Fortschritte in der deutschen Luft- und Raumfahrttechnik und die vielen Erfindungen, die dort in Entwicklung waren, erfahren hatte. Dieses geheime Treffen wurde erstmals von Kármán in seiner Autobiografie The Wind and Beyond (»Der Wind und darüber hinaus«, nicht auf Deutsch erschienen) enthüllt:
»Als ich am Flughafen ankam, fuhr mich ein Adjutant zum Ende der Landebahn, wo ein offizielles Auto der U.S. Air Force geparkt war. Dann verschwand der Adjutant. General Arnold saß im Auto, und als er sah, dass ich näherkam, entließ er seinen Chauffeur. Kein anderes Ohr weit und breit. Wir waren ganz allein.
General Arnold verschwendete keine Zeit und kam sofort auf den Punkt: ›Wir haben diesen Krieg gewonnen, und er interessiert mich nicht mehr. Ich glaube nicht, dass wir Zeit damit verbringen sollten, darüber zu diskutieren, ob wir den Sieg durch bloße Übermacht oder durch qualitative Überlegenheit errungen haben. Nur eines sollte uns interessieren. Wie sieht die Zukunft der Luftüberlegenheit und der Luftkriegsführung aus? Was bedeuten die neuen Erfindungen wie Jetantrieb, Raketen, Radar und andere elektronische Geräte?‹«17
Es lohnt sich zu überlegen, welche »anderen elektronischen Geräte« der General meinte, die die »Zukunft der Luftfahrt und des Luftkriegs« betreffen. Bis Ende 1944 hatten mehrere Piloten der U.S. Air Force mysteriöse Lichter beschrieben, die ihre Flugzeuge während nächtlicher Bombenangriffe verfolgten und störten. Diese wurden als »Foo Fighter« bezeichnet, die nicht auf dem Radar erschienen und als Teil eines neuen unbekannten Waffensystems galten, das von den Deutschen entwickelt wurde.18 Später erfuhr man, dass die Deutschen nicht nur an elektronischen Geräten arbeiteten, die für die Zukunft der Luftkriegsführung von großer Bedeutung waren, sondern auch bei elektromagnetischen Antriebssystemen, die Teil eines radikal neuen Designs untertassenförmiger Überschallflugzeuge waren, revolutionäre Fortschritte gemacht hatten.
Von Kármán setzte seinen Bericht über das geheime Treffen fort:
»Ich hörte fasziniert zu. Ich hatte Arnolds einzigartigen Weitblick immer bewundert, aber ich glaube, damals war ich beeindruckter denn je. Das war im September 1944. Der Krieg war noch nicht vorbei. Tatsächlich sollten die Deutschen im Dezember noch die Ardennen-Offensive starten. Doch Arnold blickte bereits weit über den Krieg hinaus und erkannte, dass das technische Genie, das ihm helfen konnte, Antworten zu finden, nicht in der militärischen oder zivilen Bürokratie zu finden war, sondern an den Universitäten und im Volk insgesamt.«19
Schließlich erfuhr von Kármán das ganze visionäre Ausmaß dessen, was General Arnold von ihm als Reaktion auf die neuen Erfindungen erwartete. Er ging zu Recht davon aus, dass sie die Zukunft der militärischen Luftfahrt verändern würden:
»›Was soll ich tun, General?‹, sagte ich.
›Ich möchte, dass Sie zum Pentagon kommen und eine Gruppe von Wissenschaftlern zusammenstellen, die einen Entwurf für die Luftfahrtforschung der nächsten zwanzig, dreißig, vielleicht fünfzig Jahre ausarbeiten werden.‹ [Hervorhebung MES]
Das war eine ziemliche Herausforderung. Ich fühlte mich geschmeichelt und war hoch erfreut. ›General‹, sagte ich. ›Ich arbeite wirklich nicht gern im Pentagon, aber ich werde dies unter der folgenden Bedingung tun – dass mir niemand Befehle erteilt und ich niemandem Befehle erteilen muss.‹
Arnold lächelte. ›Ich versichere Ihnen, Doktor, ich werde Ihr einziger Chef sein. Und was das Befehlen angeht, überlassen Sie das nur mir.‹«20
Von Kármán nahm sofort seinen Abschied von der Caltech und begann im Oktober 1944, als Berater bei der Army Air Force zu arbeiten. Er stellte die Scientific Advisory Group zusammen, die den von Arnold angeforderten streng geheimen Entwurf erarbeiten sollte, und bat Tsien, sich ihm als Projektleiter anzuschließen. Chang erklärt:
»Innerhalb weniger Wochen stellte Kármán eine interessante Anfrage an Tsien. Er bat ihn, sich ihm in Washington, D.C., anzuschließen und mit ihm als Teil eines dreiköpfigen Stabes [Hervorhebung MES] und auch als Mitglied der wissenschaftlichen Beratergruppe zusammenzuarbeiten, die dem Stabschef der Army Air Force bei der Prüfung aller Optionen in möglichen Luftkonflikten eines jeden künftigen Krieges helfen sollte. Tsien sollte mit zwei engen Mitarbeitern von Kármáns, Hugh Dryden und Frank Wattendorf, als seinem Stab zusammenarbeiten und auch einem Elite-Team von etwa drei Dutzend führenden Wissenschaftlern und Ingenieuren angehören.«21
Tsien trat daraufhin als Leiter der Abteilung für Forschungsanalysen am JPL zurück und ging nach Washington, um mit von Kármán zu arbeiten. Jahre später erklärte von Kármán in seiner Autobiografie seine Entscheidung, Tsien so viel Verantwortung zu übertragen, obwohl er immer noch kein amerikanischer Staatsbürger war:
»Mit sechsunddreißig Jahren war er bereits ein unbestrittenes Genie, dessen Arbeit einen enormen Impuls für Fortschritte in der Geschwindigkeitsaerodynamik und beim Jetantrieb an der Hochschule lieferte. Aus diesen Gründen habe ich ihn für die Mitgliedschaft in der wissenschaftlichen Beratergruppe ausgewählt.«22
Tsiens Teilnahme am wissenschaftlichen Elite-Team unter der Leitung von Kármáns, das über die Zukunft der Kriegsführung mit Überschallantriebssystemen in Luft, Meer und Weltraum nachdachte, ist entscheidend für ein Verständnis dessen, was dieser Mann der Volksrepublik China nach seiner umstrittenen Rückkehr im Jahr 1955 zur Verfügung stellen konnte.
Als Tsien in Washington eingetroffen war, nahm er an Reden von General Arnold teil, in denen er und andere Mitglieder der wissenschaftlichen Beratergruppe ermahnt wurden, »die Möglichkeiten des Überschallfluges, unbemannter Flugkörper, Bomben mit erhöhter Sprengkraft sowie der Luftaufklärung zu untersuchen – sogar mit Atomenergie als Antriebsquelle«.23 Unter den von General Arnold diskutierten Themen war eines als »Double Top Secret« klassifiziert: die Forschung und Entwicklung an abgestürzten Fliegenden Untertassen, die als außerirdisch angesehen wurden.
Bereits Anfang 1942 ordnete Präsident Roosevelt eine streng geheime Untersuchung der Technologien für Fliegende Untertassen an, die nach Zwischenfällen in Cape Girardeau, Missouri, im April 1941 und in Los Angeles im Februar 1942 in den Besitz der U.S. Army Air Force und der Navy gelangt waren. In meinem Buch Geheime Weltraumprogramme & Allianzen mit Außerirdischen behandle ich die beiden Vorfälle mit den dazugehörigen Unterlagen ausführlich.24 Kurz gesagt betrafen diese Vorfälle das Auffinden mehrerer abgestürzter Fliegender Untertassen, die als außerirdisch eingestuft wurden. Kurz nach dem Luftangriff auf Los Angeles schuf die Army die Interplanetary Phenomenon Unit (IPU), um den Vorfall zu untersuchen.
Nachdem die U.S. Air Force jahrzehntelang die Existenz einer solchen Einheit geleugnet hatte, musste sie auf eine Anfrage im Rahmen des Freedom of Information Act von 1984 zugeben, dass die Interplanetary Phenomenon Unit tatsächlich existiert hatte. Lieutenant Colonel Lance R. Cornine schrieb:
»Wie Sie in Ihrem Brief vermerken, wurde die sogenannte Interplanetary Phenomenon Unit (IPU) deaktiviert, und soweit uns bekannt ist, wurden alle Aufzeichnungen, falls vorhanden, Ende der 1950er Jahre an die Air Force übertragen. Die ›Einheit‹ wurde als internes Projekt und nur als Interessensgegenstand für den stellvertretenden Stabschef für Aufklärung gebildet. Sie war nie eine ›Einheit‹ im militärischen Sinne, noch war sie jemals formell organisiert oder meldepflichtig. Sie hatte keinerlei Ermittlungsfunktion, Mission oder Autorität und führte möglicherweise überhaupt keine offiziellen Aufzeichnungen. Nur durch das institutionelle Gedächtnis besteht eine Erinnerung an diese Einheit. Wir sind daher nicht in der Lage, Ihre Fragen zum genauen Zweck der Einheit zu beantworten, als sie deaktiviert wurde, oder wer das Kommando hatte. Letzteres würde auch auf keinen Fall zutreffen, da niemand das ›Kommando‹ hatte. Wir haben keinerlei Aufzeichnungen oder Unterlagen über diese Einheit.«25
In Cornines Brief wurde anerkannt, dass die IPU bis Ende der 1950er Jahre existierte. Sie wurde jedoch zu einem bloßen »Interessensgegenstand« heruntergespielt, da es sich nie um eine »Einheit« der operativen Army gehandelt habe. Eine nachfolgende Anfrage im Rahmen des FOIA an das Geheimdienst- und Sicherheitskommando der U.S. Army führte am 9. April 1990 zu einer Antwort von Colonel William Guild. Er erklärte: »Alle Aufzeichnungen über die Einheit wurden dem U.S. Air Force Office of Special Investigations in Verbindung mit der Operation ›Bluebook‹ übergeben.«26 Nach Angaben der Army Intelligence war die IPU somit eine offizielle Einheit, die in irgendeiner Weise mit dem Studium von UFOs zu tun hatte, was dem widerspricht, was die Air Force über ihre Inaktivität sagte. Laut Clifford Stone, einem Veteranen der Army, wurde die streng geheime IPU von General Douglas McArthur geleitet.27
Nach einer zweijährigen Untersuchung durch die Interplanetary Phenomenon Unit hatte Präsident Roosevelt Anfang 1944 die Entscheidung getroffen, die Forschung und Entwicklung der USA an Technologien erbeuteter Fliegender Untertassen bis nach dem Krieg aufzuschieben. Stattdessen sollten sich die begrenzten Kriegsressourcen auf die Entwicklung von Atomwaffen und konventionellen Waffensystemen konzentrieren. In einem durchgesickerten »Double Top Secret«-Memorandum vom 22. Februar 1944 erläuterte Roosevelt die Gründe für seine Entscheidung:
MEMORANDUM FÜR DEN SONDERAUSSCHUSS
NICHT-TERRESTRISCHE WISSENSCHAFT UND TECHNOLOGIE
»Ich stimme dem Vorschlag des Büros für wissenschaftliche Forschung und Entwicklung [Office of Scientific Research and Development, OSRD] sowie der Empfehlung von Dr. Bush und Professor Einstein zu, zum frühestmöglichen Zeitpunkt ein separates Programm einzuleiten. Ich stimme auch zu, dass die Anwendung des nicht-terrestrischen Wissens in der Atomenergie zur Vervollkommnung von Superkriegswaffen eingesetzt werden muss, um die vollständige Niederlage Deutschlands und Japans zu bewirken. In Anbetracht der bereits angefallenen Kosten für das Atombombenprogramm wäre es zum jetzigen Zeitpunkt schwierig, es ohne weitere Unterstützung des Finanzministeriums und des Militärs zu genehmigen. Ich habe daher beschlossen, auf ein solches Vorhaben zu verzichten. Aus Sicht der informierten Kräfte in den Vereinigten Staaten ist es unser Hauptziel, uns nicht auf eine derartige Forschung einzulassen, sondern den Krieg so schnell wie möglich zu gewinnen.
Es sind verschiedene Meinungen über die Schwierigkeiten aufgekommen, die ein solches Unterfangen für die bereits geleistete Forschung an neuartigen Waffenprogrammen und für Unterstützergruppen in unseren Kriegsanstrengungen aufwerfen würde, und ich stimme zu, dass jetzt nicht die Zeit dafür ist. Es ist meine persönliche Einschätzung, dass, wenn der Krieg gewonnen und der Frieden wiederhergestellt ist, eine Zeit kommen wird, in der überschüssige Mittel verfügbar sein werden, um ein Programm zu verfolgen, das sich dem Verständnis der nicht-terrestrischen Wissenschaft und Technologie widmet, die noch weitgehend unentdeckt sind. Ich hatte private Diskussionen mit Dr. Bush zu diesem Thema und bekam den Rat mehrerer bedeutender Wissenschaftler, die glauben, dass die Vereinigten Staaten jeglichen Vorteil aus solchen Wundern ziehen sollten. Ich habe die Argumente von General Marshall und anderer Mitglieder des Militärs gehört, dass die Vereinigten Staaten ihr Schicksal in dieser Angelegenheit um der Sicherheit der Nation in der Nachkriegswelt willen annehmen müssen, und ich habe die Zusicherung gegeben, dass dies der Fall sein wird.
Ich schätze die Mühe und die Zeit, die für die Erarbeitung wertvoller Einsichten in den Vorschlag aufgewendet wurden, um unsere Technologie und den nationalen Fortschritt voranzubringen und sich mit der Realität auseinanderzusetzen, dass unser Planet nicht der einzige im Universum ist, der intelligentes Leben beherbergt. Ich lobe den Ausschuss auch für die Organisation und Planung, die in Dr. Bushs Vorschlag und der feinfühligen Art, in der er präsentiert wurde, deutlich wird. Ich vertraue darauf, dass der Ausschuss die Situation, in der dieses Büro seine Entscheidung treffen muss, zu schätzen weiß.«28
Abb. 1. Franklin D. Roosevelts Memo über nicht-terrestrische Wissenschaft und Technologie (22. Februar 1944)
Bei der Überprüfung der Echtheit des Memorandums fanden Dr. Robert Wood und sein Sohn Ryan heraus, dass »Double Top Secret« zwar eine selten verwendete Klassifizierungskategorie war, aber durchaus legitim.29 Es gab noch andere Aspekte des Memorandums, die seine Echtheit unterstützten, darunter sowohl durchgesickerte als auch freigegebene Dokumente, die den Vorfall in Los Angeles betrafen.30
Roosevelts Memorandum vom 22. Februar 1944 ist von großer Bedeutung, da es zeigt, dass es weitreichende Diskussionen unter Beteiligung prominenter Wissenschaftler und Militärs darüber gab, was mit den erbeuteten Fliegenden Untertassen zu tun sei. Diese Diskussionen schlossen sicherlich General Arnold in seiner Eigenschaft als kommandierender General der Army Air Force und Dr. Vannevar Bush als Präsident Roosevelts wichtigster wissenschaftlicher Berater ein.
Lassen Sie uns kurz Rückschau halten: Im Oktober 1944 ernannte General Arnold von Kármán zum Leiter der wissenschaftlichen Abteilung der Army Air Force Advisory Group, der Tsien sowohl als Berater als auch als Mitglied von dessen persönlichem Stab angehörte, um einen Plan für die Forschung und Entwicklung der Luft- und Raumfahrt nach dem Krieg auszuarbeiten. Angesichts des Inhalts von Roosevelts Memorandum vom Februar 1944 ist klar, dass Arnold wollte, von Kármán möge seine Schlussfolgerungen bezüglich der Fliegenden Untertassen, die heimlich in Wright Field für die Nachkriegsentwicklung gelagert wurden, in seinen Entwurf einbeziehen.
Es ist wichtig zu betonen, dass Tsien Teil eines kleinen dreiköpfigen wissenschaftlichen Stabes war, der direkt unter von Kármán arbeitete, sowie ein Berater des wissenschaftlichen Beirats. Tsien erhielt auch eine Sicherheitsfreigabe, um für das Office of Scientific Research and Development (OSRD) zu arbeiten. Tatsächlich wurde Tsien nach dem Krieg vom Leiter des OSRD, Dr. Vannevar Bush, für seine wissenschaftliche Arbeit belobigt.31 Das Roosevelt-Memorandum vom 22. Februar 1944 ist ein wichtiger dokumentarischer Beweis, der Tsiens Arbeit mit von Kármán und das OSRD mit den Plänen der Army Air Force verbindet, erbeutete außerirdische Raumschiffe zu studieren und nachzubauen.