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Assoziationen und Kommentare

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Es beginnt mit einer großen Halle und vielen Gästen. Das ist ein würdiger Auftakt der neu entstandenen Psychoanalyse, die hier – mit dem Erscheinen der Traumdeutung – ihren großen öffentlichen Auftritt hat und dazu einen festlichen, aber auch repräsentativen Rahmen wählt. Eine »junge Wissenschaft«, wie es damals oft hieß, und ihr Schöpfer auf dem Weg zu Anerkennung, Erfolg und Ruhm!

Dann aber tritt Irma auf, eine Patientin von Freud, die wegen Schmerzen in seine Behandlung gekommen und deren Behandlung kurz vor diesem Traum ausgesetzt worden war. Sie war die erste Patientin, mit der er von Anfang an konsequent seine neue Technik der freien Assoziation betrieben hatte, der er also vorgegeben hatte, alles unzensiert auszusprechen, was ihr in den Sinn kam.

Aber die Behandlung hatte nicht das erhoffte Ergebnis: Am Abend vor dem Traum war Irmas Hausarzt, der gleichzeitig der Kinderarzt von Freuds Kindern war, zu ihm ins Haus gekommen und hatte berichtet, dass er Irma wieder gesehen hätte und dass sie noch immer – wenngleich weniger als früher – unter Schmerzen litte. Zeigen sich hier nicht schon die Zweifel an der Wirksamkeit der neuen Methode? Fürchtet Freud sich nicht davor, der Begrenztheit gelassen ins Antlitz zu schauen? Und macht er Irma deshalb – gleichsam vorauseilend – Vorwürfe?

Oder fürchtet er womöglich ganz andere Schmerzen, die er im Traum in Irmas vieldeutige Anspielung fasst: »Wenn du wüsstest …« Das klingt nach seelischem Schmerz, vielleicht nach dem Schmerz einer Übertragungsliebe, die den ganzen Menschen – »Hals, Magen und Leib« – ergreift und mit der Freud sich zu dieser Zeit auseinanderzusetzen beginnt und in der er womöglich das eigentlich Skandalöse seiner neuen Methode ahnt.

Im Traum ist Freud erschrocken. Rasch äußern sich Zweifel an seiner Methode und was sie anrichtet: »Sie sieht bleich und gedunsen aus.« Aber zugleich ist da noch ein anderer Gedanke, der ihn erschrecken lässt: Dass er eine »organische Affektation« übersehen haben könnte. In diesem Zweifel steckt seine Auseinandersetzung mit der damals etablierten Medizin, die an eine organische Verursachung von Neurosen glaubte. Man hielt damals chronisch-degenerative Veränderungen der Nerven für ihre Ursache – daher auch der Name. Freud grenzt sich mit seinem psychodynamischen Ansatz von dieser Auffassung ab, aber nicht ohne Selbstzweifel. Wird er sich gegen die Übermacht der etablierten somatischen Medizin behaupten können oder wird er kläglich scheitern?

Wenn er sie dann zum Fenster nimmt, ihr in den Hals schaut und sie dabei etwas »Sträuben« zeigt, liegt darin wiederum eine Anspielung auf das Verführerische, das für beide in der analytischen Begegnung zum Tragen kommt. Das künstliche Gebiss wirkt da vielleicht ernüchternd, andererseits weist es aber auch auf die Gefährlichkeit des Blickes in den gezähnten Schlund hin – ein Motiv, das später in der Psychoanalyse als »Vagina dentata« (gezähnte Scheide) immer wieder auftaucht und zur Metapher von Kastrationsängsten männlicher Träumer wird.

Die Thematik der Gefährlichkeit der Begegnung und der Gefahr von Fehlentwicklungen setzt sich auch in den folgenden Motiven fort. Zwar geht der Mund nun »gut auf« – der Widerstand wird offenbar gebrochen, wie es der anfänglichen Konzeption der Psychoanalyse entsprach, in der es noch nicht darum ging, Widerstände zu analysieren, um darüber einen Zugang zum unbewussten Hintergrund zu erlangen, sondern sie zu beseitigen. Aber es zeigen sich sofort andere Makel, die an schwerwiegende Verfehlungen gemahnen: Mit den »merkwürdigen krausen Gebilden« in den »Nasenmuscheln« stellt Freud einen Bezug zu seinem Freund Fließ her. Er nannte diesen auch den »Nasenfließ«, weil er als HNO-Arzt mit einer Arbeit über die Ähnlichkeit mancher Bildungen im Nasennebenhöhlenbereich, eben diesen Kräuselungen, mit Bildungen im Genitalbereich Aufsehen erregt hatte. Diese Idee stellte die gedankliche Nähe im Denken beider Männer heraus.

Aber diese Nähe macht es auch schwer, sich von dem gravierenden Behandlungsfehler zu distanzieren, der Fließ bei der Operation einer Patientin unterlaufen war, als er vergaß, einen Tupfer herauszunehmen, was zu schwerwiegenden Komplikationen geführt hatte. Es gab danach eine lange Affäre wegen möglicher juristischer Konsequenzen.

Angesichts solcher Bedrohungen ruft Freud im Traum Dr. M. hinzu. In ihm identifiziert er in seinen Einfällen Breuer, den älteren, erfahrenen Freund und Mentor, von dem er viel für seine Behandlung von Hysterikerinnen gelernt hatte, wenngleich dieser seine radikalen sexualorientierten Ansichten nicht teilt. Hierin scheint Freud ihn für behindert und wenig entwickelt zu halten: »Dr. M. sieht aber ganz anders aus als sonst, er ist sehr bleich, hinkt, ist am Bart kinnlos.«

Allerdings – wenn man die Patientinnen »über dem Leibchen perkutiert« – wird es vielleicht leichter, den notwendigen Abstand zu halten. Selbst wenn man die »infiltrierte Hautpartie trotz des Kleides« spürt, die Übertragungsliebe also trotz aller Zurückhaltung nicht aus der Welt schaffen kann.

Als Hintergrund klingt hier das Motiv der körperlichen Berührung in der psychotherapeutischen Behandlung an. In diesem Zusammenhang ist wahrscheinlich eine intensive Eifersucht von Freuds Ehefrau Martha auf seine Patientinnen bedeutsam, die in verschiedenen Briefen dokumentiert ist. Den Hintergrund dafür bilden Probleme, die dadurch entstanden waren, dass Freud seine Patientinnen früher, in der Phase vor der Assoziationstechnik, auch massiert hatte.

Schließlich endet der Traum mit einer Verwirrung um das rechte Präparat mit einer nochmaligen Anspielung darauf, wie gefährlich, eindringend und vielleicht sogar beschmutzend eine – psychoanalytische – Behandlung sein kann: »Propylpräparat, Propylen, Propionsäure, Trimethylamin … Man macht solche Injektionen nicht so leichtfertig. Wahrscheinlich war auch die Spritze nicht rein.«

Diese Ideen zu Freuds Irma-Traum sind sicherlich fragmentarisch. Es gibt dazu eine umfangreiche Literatur.16 Der Traum von »Irmas Injektion« hat die Psychoanalytiker bis in die neueste Zeit zu den verschiedensten Mutmaßungen und Kommentaren inspiriert.

Freud selbst gelangte bei seiner Selbstdeutung zu dem Ergebnis, dass dieser Traum den Sinn hatte, ihn von der Verantwortung für das schlechte Befinden seiner Patientin Irma zu entlassen. Er schrieb: »Der Traum erfüllt einige Wünsche, welche durch die Ereignisse des letzten Abends in mir rege gemacht worden sind. Das Ergebnis des Traums ist nämlich, dass ich nicht schuld bin an dem noch vorhandenen Leiden Irmas und dass Otto daran Schuld ist. Nun hat mich Otto durch seine Bemerkung über Irmas unvollkommene Heilung geärgert, der Traum rächt mich an ihm, indem er den Vorwurf auf ihn selbst zurückwendet. Von der Verantwortung für Irmas Befinden spricht der Traum mich frei, indem er dasselbe auf andere Momente zurückführt.«17

Wenn ich in meinen Kommentaren auf andere Aspekte, nämlich auf die Problematik um Nähe und Distanz und auf das Berührungstabu in der Beziehung zu Patientinnen eingehe, dann schwebt mir vor, dass diese Aspekte in der Geschichte der Psychoanalyse später noch eine bedeutende Rolle spielen sollten. Insofern handelt es sich um einen wirklichen Initialtraum der Psychoanalyse, in dem sich bereits eine zentrale Thematik der nachfolgenden Entwicklung konstelliert hat.

Diese Thematik sollte nämlich die weitere Entwicklung der psychoanalytischen Behandlungsmethode maßgeblich beeinflussen. Sie bewirkte z. B. die Einführung des sog. Abstinenzprinzips. Freud selbst scheint ihr in der ihm eigenen Abgeklärtheit begegnet zu sein. Bei anderen hat sie trotz der Einführung des Abstinenzprinzips immer wieder zu Verfehlungen, Zerwürfnissen und tragischen Entwicklungen Anlass gegeben. C.G. Jungs Begegnung mit Sabina Spielrein und Sandor Ferenczis mutuelle Analyse mit »R. N.« sind dafür bewegende Beispiele.


Abb. 4: Sigmund Freud im Kreise seiner Familie zur Zeit der Arbeit an der Traumdeutung um 1898 (© akg-images).

Der Irma-Traum fiel in Freuds persönlicher Entwicklung in eine Zeit der untergründigen Enttäuschtheit. Die akademische Laufbahn hatte er zu Gunsten der Familiengründung aufgegeben, aber der erhoffte finanzielle Erfolg hatte sich in der Praxis nicht eingestellt. Aus seinem weiteren Lebensverlauf wissen wir, wie viel ihm Anerkennung, Geltung und Erfolg bedeuteten. Umso mehr muss er darunter gelitten haben, dass er in der Phase der Anfänge der Psychoanalyse aufgrund seiner Ansichten – er äußerte sich in dieser Zeit bereits öffentlich zur sexuellen Ätiologie der Hysterie – in der wissenschaftlichen Welt in einem Abseits befand.

Dabei begleiteten ihn sicher auch eigene Zweifel, wie die Anspielung auf die Organmedizin und auf die mangelhafte Wirksamkeit der Methode zeigen. Man kann sich sogar fragen, ob darin nicht gar ein Zweifel an der Nützlichkeit der ganzen Psychoanalyse zum Ausdruck kam, der schließlich in das erwähnte Schlussmotiv mündete: »Wahrscheinlich war die Spritze auch nicht rein.«

Aber es sind vermutlich nicht nur Ängste und Zweifel an der Nützlichkeit und Wirksamkeit der Psychoanalyse, die in diesem Traum zum Ausdruck kamen, sowie Ängste vor persönlicher Diskreditierung im gesellschaftlichen Umfeld und in der wissenschaftlichen Welt. Wenn Freud diesen Traum in das Zentrum seiner Traumdeutung stellt, dann auch deshalb, weil er ganz im Sinne des Mottos seines Buches damit den Acharon überschreitet, den Fluss an der Grenze zur Unterwelt. Er lässt seine Leser an den Ängsten teilhaben, die wachgerufen werden, wenn man sich mit den Kräften des Unbewussten verbündet.

2 Vgl. »Das Verdrängte und das Bewusste« in der 2. Vorlesung.

3 Freud S (1900): Die Traumdeutung. GW Bd. 2/3.

4 Freud S (1938): Abriss der Psychoanalyse. GW Bd. 17.

5 Freud S (1895): Studien über Hysterie. GW Bd. 1.

6 Die Traumdeutung erschien zu Lebzeiten von Freud bis 1930 auf Deutsch in 8 Auflagen, die nur geringfügige Veränderungen und Ergänzungen gegenüber der Erstausgabe enthielten.

7 Freud S (1933): Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. GW Bd. 15.

8 Freud S (1896): Zur Ätiologie der Hysterie. GW Bd. 1.

9 Freud S (1959): Aus den Anfängen der Psychoanalyse. Briefe an Wilhelm Fließ. Abhandlungen und Notizen 1887–1902. Imago, London. (Nachdruck: Fischer, Frankfurt a. M. 1962).

10 Am 24. Juli 1895 gelang Freud während eines Aufenthaltes in Schloss Bellevue bei Wien die nach seiner Auffassung erste vollständige Analyse eines Traums, nämlich die des Traums von »Irmas Injektion«.

11 Balint M (1949): Wandlungen der therapeutischen Ziele und Techniken in der Psychoanalyse. In: Die Urformen der Liebe und die Technik der Psychoanalyse. Klett, Stuttgart 1966.

12 Diese Formulierung spielt auf einen Satz von Victor von Weizsäcker an, der seine psychosomatisch-anthropologischen Studien mit dem Anspruch verband, »das Subjekt wieder in die Medizin einzuführen«. Einen ähnlichen Paradigmenwechsel gab es fünf Jahrzehnte später, als sich innerhalb der Psychoanalyse und anderer Humanwissenschaften der methodische Schwerpunkt von der Betrachtung der Psyche als Objekt des Forschers hin zur gemeinsamen Beziehung und geteilten Erfahrung weiterentwickelte (vgl. Balint o. a. a.).

13 Freud S (1900) S. 111.

14 »Weigern’s die droben, so werde ich des Abgrunds Kräfte bewegen.« (Übersetzung von R. A. Schröder).

15 Ich werde in der 2. Vorlesung auf dieses Motto noch einmal zurückkommen.

16 Mertens hat alle 24 Arbeiten darüber zusammengestellt: Mertens W (1999): Traum und Traumdeutung. Beck, München, S. 133.

17 Freud S (1900) S. 123.

Träume und Träumen

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