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Passagierschiff ‚Maaru‘

Kleine Antillen

Am nächsten Morgen kamen die Hubschrauber.

Und die Patrouillenboote.

Und die Seuche erreichte Europa.

„Ausgerechnet Andalusien. Spanien hat schon vor 5 Tagen sämtliche Grenzen dicht gemacht, alle Häfen und Flughäfen geschlossen. Und trotzdem…“

Sie saßen wieder im Konferenzraum und versuchten die neuen Nachrichten zu verdauen.

Kampa sprach weiter: „Das Seltsamste ist, dass die Seuche nicht in irgendeiner Hafenstadt Spaniens ausgebrochen ist sondern mitten in Andalusien, in Marmolejo, ein verschlafenes Nest am Rande der Sierra Morena, ohne Flughafen. Keine nennenswerte Industrie, praktisch kein Tourismus, nichts.“ Verzweiflung sprach aus ihrer Stimme.

Sara fragte: „Was heißt ‚praktisch kein Tourismus‘? Gibt es trotzdem Möglichkeiten der Einschleppung?“

„Wir haben nur eine Möglichkeit gefunden. Einen ziemlich seltsamen Kerl aus Ostdeutschland, der zwei Mal im Jahr mit dem Auto nach Marmolejo fährt, um einen exzentrischen deutschen Zahnarzt im Altersruhestand dort zu besuchen.“

„Der fährt mit dem Auto durch halb Europa, statt zu fliegen? Das müssen doch bestimmt 3000 Kilometer sein.“ Alva staunte nicht schlecht.

„Das hat uns auch gewundert. Hat aber den einfachen Grund, dass er seinen Bekannten- und Verwandtenkreis mit Produkten aus Spanien versorgt, in erster Linie Oliven und Olivenöl, Schinken, Wurst, Whiskey usw. Kriegt er natürlich nicht mit dem Flugzeug weg. Wir sind dabei, den Typen und sein Umkreis zu untersuchen – bisher kein positives Ergebnis. Allerdings wäre dieser Mann der ideale Überträger, denn sein Urlaub dort scheint daraus zu bestehen, den halben Tag durch die Bars zu ziehen, Bier und Tappas in Größenordnungen zu konsumieren und dabei natürlich Dutzende Leute zu treffen.“

Sara schüttelte den Kopf. „Leute gibt’s…“

Anna Kampa wollte das Thema wechseln.

Sie hatte als erstes heute Morgen vorgeschlagen, die Pandemie einfach 'die Seuche' zu nennen. Alle hatten es schulterzuckend hingenommen. Diese Bezeichnung war so gut wie jede andere.

Es begann ein lahmes Rätselraten, wie denn die Seuche mitten in einem hermetisch abgeriegelten Land ausbrechen konnte.

Ein Gong ertönte und Grabers verschwitztes Gesicht erschien auf dem Monitor. „Kann ich gleich sprechen? Ja? Dann Guten Morgen miteinander. Das heißt, ich weiß nicht, ob es ein guter Morgen…“

„Hallo?“ Kampa war sauer.

„Jaja, also ich habe Neuigkeiten, was das Patientenprofil entspricht. Wir haben die Zahlen ausgewertet, die wir bisher hatten und kommen zu folgendem Ergebnis:

Erstens: Die Letalität ist nicht gleich 100%, sie dürfte irgendwo bei 92-94% liegen, das heißt wir haben immer wieder einzelne Patienten, die die Krankheit überstanden haben und auf dem Wege der Genesung sind.

Zweitens: Es gibt auf jeden Fall auch Personen der gefährdeten Altersstruktur, die immun sind, sich also gar nicht erst anstecken. Wir schätzen 15-16%, Das macht natürlich Hoffnung, einen Impfstoff zu finden.

Drittens: Die Vermutung von gestern hat sich bestätigt, d.h. Kinder bis etwa 11,12 Jahre erkranken nicht. Ab diesem Alter werden fast alle Personen infiziert. Und jetzt kommt es: Frauen ab der Menopause werden wieder verschont.“ Graber war sichtlich stolz.

„Also betrifft es einfach nur alle geschlechtsreifen Personen?“ Das war wieder Ringstrøm. „Und wie ist es dann mit Männern und Frauen entsprechenden Alters, die sich sterilisieren ließen?“

„So weit sind wir noch nicht“ Jetzt war Graber beleidigt. „Wir können nicht hexen.“

„Solltet ihr aber besser.“ Ringstrøm war schon wieder in Kampflaune.

Da Sibo merkte plötzlich, dass Sara ihn anstarrte.

„Was ist?“

„Weißt du, gestern Abend, als ich ins Weinglas …“ fing sie an. Sara war plötzlich ganz aufgeregt.

„Dürfen wir teilhaben an der angeregten Diskussion? Ja, die junge Dame neben Professor da Sibo!“ Kampa war ganz Oberlehrerin.

Sara stand auf und plötzlich war sie keine plappernde Nervensäge mehr, sondern konzentriert und analytisch: „Sara Sander, Assistentin von Prof. Mauters.“ stellte sie sich vor. „Wir haben gestern Abend den Aspekt diskutiert, wer denn Nutzen aus einer terroristischen Aktion hätte. Mir kam ein Gedanke, den ich zunächst verworfen habe. Die Analysen Dr. Grabers scheinen diesen Gedanken allerdings zu stützen: Wenn es eine Gruppe von Leuten gibt, die Vorteile aus der Vernichtung der geschlechtsreifen Bevölkerung ziehen, dann sind es die Mitglieder des radikalen Zweiges der ‚Liga‘.“

Sara saß schon wieder. Kampa war immer noch sauer: „Das ist so nahe liegend und doch ist noch niemand außer Frau Sander drauf gekommen?“

„Moment!“ Ringstrøm meldete sich. „Die Leute müssten damit rechnen, selbst umzukommen. Das wäre schon ziemlich dicht dran an religiösem Fanatismus, eher eine Art gesellschaftlichen Selbstmordes.“

„Wenn es so wäre, könnten sie Vorsichtsmaßregeln getroffen haben, z.B. ein Gegenmittel, Impfungen, Isolation oder…“ Eine junge Frau im Laborkittel hatte sich in Rage geredet. „Außerdem sind die wirklich fanatisch genug, um..“

„Genug.“ Anna Kampa unterbrach. „Wir spekulieren nur. Jeder soll sich dazu Gedanken machen. Ich beauftrage die amerikanischen Bundesbehörden. Sie sollen prüfen, ob diese Gruppierung die Möglichkeit für einen solchen Anschlag hatte. Mehr dazu in der Nachmittagssitzung.

Nächster Tagesordnungspunkt: die Evakuierung. Die Einsatzleitung hat mir berichtet, dass alles planmäßig verläuft. Die 4800 Passagiere und die meisten Besatzungsmitglieder werden bis morgen 16 Uhr evakuiert sein. Können Sie das bestätigen, Kapitän Solejow?“

„Ja, Frau Kampa. Es gab keinerlei Widerstand.“

Da Sibo sah erstaunt auf. Widerstand? Wer hatte Widerstand erwartet? Er sah Sara an. Die schien das aber nicht seltsam zu finden und folgte der erneuten Diskussion.

„ ..müssen sein. Heute Morgen ist die Nachricht von Ihrer Gruppe auf der 'Maaru' in der Presse erschienen. Es sind bereits erste wütende Kommentare in den Medien aufgetaucht. Einige Journalisten sind zum Angriff übergegangen. Ich zitiere: 'Die Damen und Herren Wissenschaftler wollen sich wohl nicht die Finger schmutzig machen, indem sie vor Ort das Mördervirus suchen. Besser lässt es sich wohl in der warmen Nachmittagssonne beim Drink am Pool nachdenken.

Vielleicht hat ja sogar der eine oder andere Eierkopf etwas mit dieser Katastrophe zu tun.'“

Da Sibo fühlte regelrecht den triumphierenden Blick Saras auf seiner rechten Gesichtshälfte. Er grinste.

„Sie sehen also, dass hier Stimmung gegen Sie gemacht wird. Wir müssen damit rechnen, dass Sie von rachsüchtigen Gruppierungen angegriffen werden, die dieser Pressekampagne glauben. Oder andere versuchen, auf das Schiff zu gelangen, weil sie sich hier einigermaßen sicher glauben. Deshalb die Patrouillenboote. Sie werden Tag und Nacht in mindestens 100 Meter Entfernung um die 'Maaru' kreisen. Die Besatzungen sind bewaffnet, die Boote sind mit modernster Technik ausgerüstet, auch gegen Unterwasserangriffe. Weiterhin wird sich die `Maaru‘ weder dem Festland noch einer der Inseln der Antillen nähern. Sie liegen jetzt 30 Meilen vor Barbados. Nach der Evakuierung und nachdem Sie die nötige Ausrüstung an Bord genommen haben, hat Kapitän Solejow die Anweisung, auf mindestens 50 Meilen Abstand zum Land zu gehen.“

Betretenes Schweigen. Niemand wollte etwas sagen, jedem wurde noch einmal klar, dass sie für die nächsten Tage, Wochen, ja vielleicht Monate auf dem Schiff gefangen sein würden.

In der Stille hörte man umso deutlicher das an- und abschwellende Geräusch der Hubschrauber, die pausenlos die Passagiere von den beiden Landeplätzen der 'Maaru' holten. „Noch etwas:“ Kampa meldete sich wieder: „Seit drei Stunden sind zwei Teams in Quarantäne gegangen:

Team Nr. 1 sind 16 Wissenschaftler und Laboranten, die Ihre Gruppe auf der 'Maaru' verstärken sollen.

Team Nr. 2 besteht aus 5 Technikern, die insbesondere die Ausrüstung installieren sollen, die ab heute Nachmittag eingeflogen wird. Wir haben ein paar Techniker an Bord, die das bestehende Equipment warten und erweitern können. Das, was uns heute erwartet, überschreitet das Wissen unserer Wartungstechniker wohl bei weitem. Deshalb benötigen wir die Verstärkung schnellstmöglich. Um die Quarantäne beenden zu können, brauchen wir allerdings die Inkubationszeit. Dr. Li und Dr. Graber: höchste Priorität für Sie und Ihre Teams. Noch Fragen?“

„Was meinte Solejow mit Widerstand?“ Alva pustete in seinen Kaffeetopf.

„Wir haben im Stabsmeeting darüber diskutiert, ob es Probleme bei der Evakuierung geben könnte. Mauters hatte die Befürchtung, dass sich einige Passagiere weigern könnten, das einigermaßen sichere Schiff zu verlassen. Sind aber alle freiwillig gegangen. Sie sind lieber zu Hause bei ihren Familien und Freunden als hier. Komisch, nicht?“

„Hm, weiß nicht, aber was mich mehr interessiert: du hast heute Morgen was vom radikalen Flügel der ‚Liga‘ erwähnt. Jeder schien zu wissen, was gemeint ist. Ich habe zwar schon von der ‚Liga‘ gehört, aber dass die inzwischen auch radikale Tendenzen zeigen, ist mir neu.“

„Vielleicht solltest du ab und zu mal die Nase aus dem Labor stecken. Dann bekommst du auch was von den wichtigen Sachen mit. Hast du nicht mal von der Anschlagsserie auf die Samenbanken in Frankreich, Japan und Deutschland gehört?“

Er schaute überrascht auf: “Klar, aber ich wusste nicht, dass die das waren. Bisher habe ich diese Leute einfach nur für verschrobene Spinner gehalten. Schon dieser theatralische Name: ‚Liga der Vernunft‘ Wahrscheinlich denkt man, das sei medienwirksam. Los, erkläre mal einer alten Laborratte, wie die ticken.“

Sara saß wieder im Schneidersitz auf seinem Bett. Jetzt legte sie die Zeitschrift beiseite:

„Da muss ich ein wenig ausholen: Die 'Liga der Vernunft', wie ihre Mitglieder sich nennen, ist die bekannteste Gruppe von einigen Dutzend, die sich einen gemeinsamen Feind auserkoren haben: die rapide wachsende Zahl der auf der Erde lebenden Menschen. Die meisten Probleme, die die Menschheit seit vielen Jahren haben, werden der Überbevölkerung zugeschrieben. Kennst du die Fakten??“

„Ich weiß natürlich davon, aber nur flüchtig. Aber du scheinst dich ja da richtig auszukennen!“

Jetzt war Sara in ihrem Element.

„Viele Jahrtausende lang hat sich die Zahl der Menschen nur sehr langsam erhöht. Seit etwa 300 Jahren nimmt die Größe der Menschheit immer schneller zu, seit Anfang des 20 Jahrhunderts in atemberaubendem Tempo.

Ein Phänomen machte jedoch Hoffnung: In Ländern, in denen die Bevölkerung vermehrt zu Wohlstand und Bildung kam, brach die Fertilisationsrate regelrecht zusammen. Das geschah als erstes in den Ländern der industriellen Revolution, besonders England und Deutschland, dann in ganz Westeuropa und den USA. Hier standen sich zwei Entwicklungen gegenüber. Zum einen die Verdopplung der Lebenserwartung durch die Neuerungen der modernen Medizin, praktische Ausrottung der großen Seuchen wie Pest, Typhus, Cholera und Pocken. Dazu kam die Senkung der Säuglingssterblichkeit.

Zum anderen entfiel durch den aufkommenden Wohlstand die Notwendigkeit, durch viele Kinder die eigene Altersversorgung zu sichern. Die Einrichtung sozialer Netze verstärkte diese Entwicklung. Als Mitte des 20 Jahrhunderts noch die medizinischen Möglichkeiten der Schwangerschaftsverhütung bzw. der relativ risikolosen Abtreibung dazu kamen, sank die Geburtenrate unter das Erhaltungsniveau und liegt seit vielen Jahren bei 1,2 -1,4 Kindern pro Frau. Die Bevölkerung in den Industriestaaten begann zu schrumpfen, aber kein Problem, das ließ sich über gesteuerte Einwanderung alles ausgleichen.

In den Ländern der Dritten Welt dagegen explodierten die Bevölkerungszahlen regelrecht. China, Indien, Pakistan, Südamerika, Afrika hatten Zuwachsraten, die jeden Rahmen zu sprengen drohten. Hier begannen aber bestimmte Maßnahmen zu greifen. China führte um 1980 die Ein-Kind-Politik ein, in Indien waren es massenweise Sterilisationen. In manchen Ländern waren es Selbstläufer nach dem Motto: Gebt ihnen einen bescheidenen Wohlstand, Zugang zu Medizin und Bildung, erklärt ihnen das mit den Blumen und den Bienen und die Geburtenrate sinkt von allein. Das funktionierte Anfang des 3. Jahrtausends so gut, dass Forscher das Ende des Bevölkerungszuwachses für 2050 bei etwa 9,5-10 Milliarden Menschen errechneten. Das Problem schien sich weitestgehend von allein zu lösen.

Dann trat Anfang des 3. Jahrtausends mit der wachsenden Bevölkerung noch ein anderes Phänomen auf, die Wasserkriege. Zunächst ging es tatsächlich um den Zugang zu Wasser. In Gegenden, in denen Wasser knapp war, bauten die Länder am Oberlauf von Flüssen einfach Staudämme und schnitten die Staaten am Unterlauf damit vom lebensnotwendigen Nass ab. Das gab Geschrei, die UN griff ein und nach zähen Verhandlungen gab es irgendeinen Kompromiss.

Nach und nach setzte sich der Gedanke durch, dass es schneller geht, wenn man die Sache selbst in die Hand nimmt. Söldnertruppen gab es seit Ende des kalten Krieges wie Sand am Meer, Waffen konnte man überall kaufen und um das Problem zu lösen, war es einfacher, eine Bombe am Staudamm zu platzieren als die UN anzurufen. Daraus entwickelten sich zunächst in Afrika, später auch in Südamerika und Asien regelrechte Flächenbrände kleinerer und größerer Konflikte. Längst ging es nicht mehr nur um Wasser, sondern um Ressourcen aller Art – Bodenschätze, Regenwald, Acker- und Weideland.

Die politischen und militärischen Entwicklungen waren so unübersichtlich, dass es praktisch keine Möglichkeit gab, einzugreifen. Wann immer man meinte, einen Konflikt gelöst zu haben, flammte irgendwo ein neuer auf. Die Lage in den Entwicklungsländern nahm so dramatische Züge an, dass sich die internationale Staatengemeinschaft komplett aus den Krisengebieten zurückzog. Die großen und kleinen Hilfsorganisationen mussten flächendeckend abziehen. Die Bevölkerung verarmte in rasantem Tempo. Die bescheidenen Fortschritte, die man bei der Verbesserung der Lebensverhältnisse in den Ländern der 3. Welt verzeichnet hatte, wurden wieder zunichte gemacht. Man verfiel wieder in alte Muster.“

„Und das hast du alles im Kopf?“

„Darüber habe ich beim Politologie-Studium referiert, leider nutzt mir das hier nicht viel.“

„Gut, weiter!“ Da Sibo war ganz Ohr.

„Schon um die Jahrtausendwende gab es immer wieder Berichte von großen Gruppen von Bürgerkriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen, besonders aus Afrika, dem Nahen und Mittleren Osten sowie den armen Ländern Südeuropas. Verallgemeinernd nannte man sie Boatpeople, weil sie meist mit abenteuerlichen, überladenen Booten übers Meer nach Europa kamen. Nordamerika hatte sowieso schon ein jahrzehntelanges Problem mit illegalen Einwanderern aus Lateinamerika.

Was dann aber ab etwa 2014 einsetzte, wurde die moderne Völkerwanderung genannt. Millionen von völlig verzweifelten Menschen drängten auf allen nur erdenkbaren Wegen, vor allem über den Landweg in die Industriestaaten. Dazu kamen weitere Millionen, die sich die Situation zunutze machten, um in den reichen Ländern kriminelle Strukturen aufzubauen oder einfach die Asylgesetze für ihre persönliche Bereicherung auszunutzen. Die meisten Länder versuchten sich natürlich mit Händen und Füßen zu wehren, besonders in Europa konnten sich viele Staaten lange und ziemlich erfolgreich abschotten. Durch die schiere Zahl der Flüchtlinge wurden die nicht oder ungenügend gesicherten Grenzen jetzt einfach überrannt.

Es kam, was kommen musste. Jetzt schossen Unmengen von Parteien und Organisationen aus dem Boden, die die Ängste der Bürger der reichen Länder nutzten, um ihr eigenen Ideologien zu verbreiten. Von der Verteidigung des Vaterlandes bis hin zum Kampf gegen Überfremdung und rassische Vermischung war alles zu hören - von biblischer Heimsuchung und Strafe Gottes bis hin zu Forderungen nach dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen.

Bis hierher war das Ganze nur skurril und makaber, aber 2019 gab es dann eine neue Qualität. Innerhalb von 2 Tagen wurden in Europa und Asien 5 Samenbanken gesprengt.“

„Das waren Menschen-Samenbanken, nicht wahr?“

„Ja, man hatte bewusst Banken ausgesucht, in denen nur menschliches Sperma, Ei- und Stammzellen gelagert wurden. Institute, in denen tierisches und pflanzliches Erbmaterial lag, wollte man nicht antasten. Die Intention sei es, die göttliche Schöpfung zu erhalten und dazu gehören nun einmal auch Flora und Fauna.

„Diese Banken zu sprengen war doch aber komplett sinnlos!“

„Sei nicht albern, Alva, praktisch jede terroristische Aktion ist für sich gesehen sinnlos, außer der Tatsache, aufhorchen zu lassen und Angst zu verbreiten. Und das war der ‚Liga‘ gelungen, denn die hat sich in einem Bekennerschreiben verantwortlich erklärt. Die 'Liga der Vernunft' war vorher schon weltweit bekannt, aber bis dato gewaltfrei. Und hier hat sich der gewaltbereite Flügel der ‚Liga‘ gemeldet, von dem heute Morgen die Rede war.“

„Welche Ziele verfolgen die?“

„Die ‚Liga‘ hat wie viele andere Gruppierungen als Hauptgrund für die Probleme der Menschheit die Überbevölkerung postuliert. Das ist nichts Neues, nur geht die ‚Liga‘ in vielerlei Hinsicht ein Schritt weiter. Ihre bekannteste Forderung ist die zwangsweise chemische Sterilisation in den Entwicklungsländern, indem man einfach das Trinkwasser flächendeckend mit den entsprechenden Chemikalien versetzt. Sie preisen es als die billigste, schnellste und humanste Form der Geburtenregelung in der dritten Welt an.“ „Die Nazis hätten ihre helle Freude daran gehabt.“ Da Sibo war baff.

„Leider haben diese Gruppierungen nicht ganz unrecht mit ihrer Forderung nach radikalen Maßnahmen gegen die ungebremste Vermehrung der Menschen. Bei den optimistischen Annahmen, dass die Geburtenraten dramatisch abnehmen, wenn man die weltweite Armut bekämpft, hat man einen wichtigen Faktor unterschätzt. Das funktioniert nämlich nur in Gesellschaften, in denen die Religionen nicht allmächtig sind. Keine der großen Kirchen erlaubt nämlich eine Geburtenregelung mit Mitteln der Empfängnisverhütung, auch wenn immer wieder betont wird, dass es in ‚Ausnahmefällen‘ erlaubt sei.“

„Ich weiß.“ knurrte Alva. „Das ist pure Dummheit. Keiner der Kirchenvertreter scheint erkennen zu können, was er damit diesem Planeten antut.“

„Und das ist auch der Grund, weshalb Gruppen wie die ‚Liga‘ zwangsweise Sterilisationen in diesen Ländern fordern. Du glaubst nicht, wie viele Politiker das heimlich oder offen unterstützen.“

„In absehbarer Zeit wird es für eine derartige Sauerei wohl kaum eine Mehrheit geben. Deshalb wohl dein Gedanke, dass es irgendeine Gruppierung geben könnte, die das über den Umweg von dem da draußen schaffen will.“ Alva machte eine unbestimmte Handbewegung.

„Ich habe noch mal nachgedacht. Ich denke, Ringstrøm hat recht.“ Sara blickte ihn an. „Das Ganze ist zu diffus, zu ungenau. Das trifft alle. Wenn ich so denken würde wie die und die Möglichkeiten hätte, ein solches Virus zu bauen, würde ich was erfinden, was mich nicht angreift.“

„Oder Möglichkeiten schaffen, mich zu schützen, Impfstoffe, ein Heilmittel oder spezielle Quarantäneeinrichtungen.“ Da Sibo setzte sich auf. „Ist mir alles zu spekulativ. Ich habe da noch eine andere Frage: Was meinte Ringstrøm mit ‚religiösem Fanatismus‘ im Zusammenhang mit der ‚Liga‘?“

„Tja, auch das ist eine komplizierte Geschichte. Hat was mit der Tea-Party-Bewegung zu tun, die Anfang des dritten Jahrtausends versucht hat, immer massiver Einfluss auf die US-Politik zu nehmen. Vordergründig handelte es sich um eine Organisation ‚aufrechter US-amerikanischer Bürger‘. In Wahrheit war es der Versuch, dem Machtverlust der religiösen Rechten in den USA entgegen zu wirken.“

„Aber wo ist der Zusammenhang mit dieser „Liga der Vernunft“?“

„Ein großer Teil der Anhänger der Tea-Party-Bewegung sind sogenannte Kreationisten. Das sind Leute, die den Darwinismus grundsätzlich verteufeln. Sie nehmen den göttlichen Schöpfungsakt wörtlich und lehnen alle wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Entwicklungsgeschichte des Weltalls, der Erde und der Entstehung und Evolution des Lebens darauf ab. Aus den Kreisen dieser Leute rekrutieren sich hauptsächlich die Mitglieder der ‚Liga‘. Diese Kreationisten sind leider keine Randerscheinung in den USA, sondern etwa 80 Millionen Amerikaner zählen sich zu den fundamentalen Christen, die die Bibel wörtlich auslegen. Also genau zu diesen verbohrten Kreationisten.“

„Es ist immer das Gleiche.“ Da Sibo war jetzt richtig wütend.

„Was meinst du, Alva?“ fragte Sara.

„Ich rede nicht so gern darüber, vor allem nicht mit gläubigen Menschen. Ich habe dann immer das Gefühl, dass man das als Arroganz interpretiert.“

„Aber mir kannst du das doch erzählen. Du weißt, dass ich auch eine Atheistin bin.“ lächelte Sara.

„Es geht darum, wie ich über Religion denke. Ich meine nicht den Glauben an irgendwelche übersinnlichen Wesen, Gottheiten eben. Es soll ja wohl rund 3300 Götter in den Köpfen der Menschen innerhalb von etwa 4000 Religionen geben. Von mir aus kann jeder glauben, was er will, ob an irgendwelche Waldgötter, an Allah, Jesus Christus, Shiva, Buddha oder jeden x-beliebigen Gott, der in der Menschheitsgeschichte je erfunden wurde. Was mich so wütend macht, sind diese Institutionen des Glaubens, die Religionen. Oder nenne es meinetwegen Kirche. Diese Institutionen sind von Anfang an ausschließlich Werkzeuge für Machtgewinnung und Machterhalt gewesen. Wobei es egal ist, ob der Schamane irgendwelcher Naturvölker den besten Teil der Jagdbeute oder das schönste Mädchen des Stammes als Entlohnung für seinen Regen-, Fruchtbarkeits- oder Jagdzauber verlangt. Oder ob die großen Religionen den Kirchenzehnt auch noch vom ärmsten mittelalterlichen Bauern abpressten oder die neuzeitliche Kirchensteuer das Auskommen der Kirchenfunktionäre sichert. Und wenn diese Gelder nicht mehr ausreichen, werden völlig selbstverständlich kirchliche Einrichtungen mit den staatlichen Geldern aller Steuerzahler unterhalten. Dasselbe gilt für die Finanzierung irgendwelcher Kirchenfeste. Und in den Verfassungen dieser Staaten steht dann sowas wie ‚Trennung von Kirche und Staat‘!

Insgesamt ist der Glaube an Gottheiten die größte Lüge der Menschheitsgeschichte. Die gewaltige Blutspur, die die Religionen aller Couleur seit Anfang des Bestehens der Menschheit hinterlassen hat, kostete Hunderte Millionen das Leben. Denke nur mal an die vielen, die im Namen irgendeines Gottes in den Religionskriegen und den Pogromen des Mittelalters und der Neuzeit gefoltert, erschlagen, geschändet und verbrannt wurden. Das passiert noch heute, siehe Afrika, Südamerika und Asien.“

„Deine Ansichten erinnern mich an meinen Vater. Der nannte Religiosität manchmal ‚das größte Placebo der Menschheit‘ oder einfach eine ‚kollektive pathologische Verhaltensstörung‘.

Aber bringst du schon immer diese Einstellung den Religionen entgegen oder hast du die erst als Wissenschaftler entwickelt?“ Sara war jetzt richtig neugierig.

„Meine Eltern haben mich dazu erzogen, die Welt kritisch zu betrachten, alles zu hinterfragen, was mir über den Weg läuft. Als ich auch nur oberflächlich über die Rolle der Religionen in der Menschheitsgeschichte recherchierte, kam dieser Widerwille auf. Inzwischen bin ich wohl so etwas wie ein Experte auf diesem Gebiet. Und glaube mir, es macht nicht wirklich Spaß, immer wieder zu sehen, wie sich durchaus intelligente und gebildete Menschen die verdrehtesten Erklärungen einfallen lassen, um unwiderlegbare wissenschaftliche Erkenntnisse zu umgehen. Und das geht seit Jahrhunderten so.

Als Strafe für die Verkündung des heliozentrischen Weltbildes wurde noch gefoltert und gemordet. Als die ersten Flugzeuge keinen alten Mann mit Bart über den Wolken fanden, musste man nach und nach Abstand von der Personifizierung des Gottesbegriffes nehmen. Andere wissenschaftliche Erkenntnisse, wie zum Beispiel der Fund von Millionen Jahre alten Fossilien wurden totgeschwiegen und ignoriert, weil es nicht in die geschriebene und überlieferte Geschichte einer Religion passte, nach der das Universum erst vor ein paar Tausend Jahren erschaffen wurde.

Insgesamt werden seit Jahrhunderten in allen Religionen von den intelligenteren und gebildeten Gläubigen ständig Rückzugsgefechte geliefert. Heutzutage wird der Gottesglaube in den sogenannten zivilisierten Gesellschaften so verklausuliert, dass kaum mehr als eine verschwommene, allgegenwärtige, höhere Instanz übrig geblieben ist.

Es gibt noch einen Punkt, über den sich offensichtlich kaum jemand Gedanken macht. Sämtliche dieser widerlichen Religionen haben die Entwicklung der Menschheit während vieler Jahrhunderte verhindert oder verzögert, indem man neue Erkenntnisse, die nicht in ihre Ideologie passten, verleugnete und ihre Vertreter verfolgte. Das Schlimmste ist aber, dass vom Anfang der Entwicklung praktisch aller religiös geprägter Zivilisationen ein Grundsatz verfolgt wurde: das absolute Patriarchat in der Gesellschaft. Die Rolle der Frau wurde auf die der Mutter und der Hüterin des Herdes reduziert. Man hat eifersüchtig darauf geachtet, dass nur Männer an wissenschaftlicher Bildung partizipieren und als Einzige an allen größeren Entscheidungen beteiligt sind. Man hat also viele Jahrtausende die Hälfte der Menschheit von deren Weiterentwicklung ausgeschlossen. Das ist in vielen zurückgebliebenen Gesellschaften noch heute so. Beispiele sind viele muslimisch geprägte Kulturen, in denen die Ablehnung der Bildung von Frauen soweit geht, dass Mädchenschulen von religiösen Fundamentalisten beschossen und gesprengt werden. Das ist die typische Mischung aus Dummheit und Arroganz – Religion eben.“

„Aber gerade in den fortschrittlichen Gesellschaften der alten und neuen Welt laufen die Menschen den Religionen in Scharen davon, und das geht seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts so. Ich habe letztens mal gelesen, dass es in Europa Gegenden gibt, in denen sich nur noch etwa 10 bis 15 Prozent der Menschen als gläubig bezeichnen. Weit voraus in dieser Entwicklung ist da wohl Ostdeutschland, nicht weit dahinter Tschechien.“

„Ja, das ist ein Hoffnungsschimmer.“ Alva lächelte müde. „Aber in vielen Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Asiens treibt die neue Armut die Leute wieder reihenweise in die Arme der Priester, Priore, Muftis und Imame, Lamas und Schamanen oder wie diese Rattenfänger alle heißen mögen. Jeder kennt diese Bilder von sich kasteienden Mönchen oder von Millionen Muslimen, die ihr halbes Leben sparen, um zur Hadsch nach Mekka zu reisen und sieben Mal um die Kaaba zu laufen. Oder von den alten Frauen, die mit blutigen Knien zu irgendeinem Heiligtum kriechen, um den Segen eines beliebigen und auswechselbaren Heiligen zu erflehen. Und das durchaus in Ländern, wo die Leute jederzeit die Möglichkeit und Zugriff auf Bildung haben.

Wie schon gesagt, ich behaupte nicht, dass es diesen Leuten völlig an Intelligenz fehlt. Ich bin nur überzeugt, dass ihnen eine wichtige Eigenschaft abgeht: die Fähigkeit, scheinbar Unumstößliches, in Fels Gemeißeltes kritisch zu hinterfragen.

Denn dann sollten die meisten erkennen, dass das, was ihnen von frühester Kindheit durch Scharen Ewig Gestriger eingebläut wurde, einfach nur horrender Unsinn ist.“

Alva vergrub das Gesicht in den Händen. Dann stand er auf.

„Aber das sollte uns nicht den Abend verderben. Wollen wir essen gehen?“

„Nee, jetzt renn nicht weg. Wie erklärst du dir das denn? Es muss doch einen Grund geben, warum einzelne Menschen und ganze Kulturen so etwas wie ein Verlangen nach Unterwürfigkeit unter eine höhere Instanz entwickelt haben?“

„Ich vergleiche das gern mit der Entwicklung eines Kindes. In den ersten Jahren nach dem Säuglingsalter sind Kinder empfänglich für den Glauben an Figuren wie den Weihnachtsmann, den Osterhasen oder viele andere imaginäre Figuren anderer Kulturen. Mit fortschreitendem Wissen wird die Existenz dieser Kindheitsfiguren immer unwahrscheinlicher – das Kind folgert aus fortschreitendem Erkenntnisgewinn die Unwahrscheinlichkeit dieser Märchenfiguren.“

„Und in welcher Phase der Kindesentwicklung befindet sich die Menschheit deiner Meinung nach jetzt?“ Sara war gleichzeitig fasziniert wie belustigt über die Art, wie Alva das Problem darstellte.

Er lächelte zurück: „Natürlich ist der Entwicklungsstand sehr unterschiedlich auf unserer Welt, aber ich denke, dass selbst die gebildetsten Völker noch nicht weiter als Vorschulkinder sind.“

„Das klingt nicht sehr schmeichelhaft, Alva.“

„Wieso, es heißt doch nur, dass wir noch jede Menge Potenzial haben.“

„Ja, für eine Entwicklung in diese oder jene Richtung. Ich weiß nur nicht, ob das Anlass zur Hoffnung oder Verzweiflung gibt.“

„Warten wir es ab, im Moment haben wir ein Problem zu lösen, das diese Diskussion überflüssig machen könnte, weil die Menschheit in der uns bekannten Form in ein paar Monaten oder Jahren nicht mehr besteht.“

„Wohl wahr, aber zunächst sollten wir wirklich erst mal essen gehen.“

„Ja, und was dann?“

„Müssen wir warten, bis die technische Ausrüstung eingeflogen und installiert ist. Das wird frühestens morgen sein.“ „Können wir denn gar nichts machen?“ Sara mochte es nicht, zur Untätigkeit verdammt zu sein.

„Doch, nachdenken.“

„Mehr nicht? Es muss doch was geben!“ Sara klang verzweifelt.

„Unsere Aufgaben hier vor Ort werden folgende sein. Erstens: statistische Auswertungen von Daten, die weltweit gesammelt werden. Dazu brauchen wir nicht nur die Möglichkeit, Petabytes an Daten zu speichern, sondern auch zu verwalten. Außerdem müssen stabile Satellitenverbindungen geschaffen werden, über die ständig Unmengen von Informationen innerhalb kürzester Zeit übertragen werden können. Das unterstützt aber nur die Hauptarbeit. Die Untersuchungen an Tausenden Proben ist das Wichtigste. Dazu brauchen wir Hochleistungslabore. Das erste kommt heute Abend. Dazu noch ein paar Labortechniker in den nächsten Tagen, hoffentlich. Erst dann können wir wirklich loslegen.“

„Wie lange dauert es, bis das Labor einsatzfähig ist?“

„Ein bis zwei Tage sicherlich. So ein transportfähiges Labor besteht aus mehreren Containern, die verschiedene Funktionen haben. Zum einen das eigentliche Labor für genetische Untersuchungen, dazu Schleusen, Dekontaminationseinrichtungen, Quarantäneräume und andere Sicherheitseinrichtungen. Notstromaggregate usw., alles natürlich redundant. Dann gibt es noch ein Reinraumlabor, soziale Einrichtungen und einen kleinen Verwaltungstrakt. Außerdem Klimaanlagen, die komplett autark und redundant arbeiten, ohne Zu- oder Abluft mit Verbindung zur Umwelt. Alles ist so konzipiert, dass die Leute sich tagelang, notfalls über Wochen dort aufhalten können. Das muss alles aufgebaut und angeschlossen werden.

„Und was mache ich dann? Ich habe alles Mögliche studiert, nur nichts mit Medizin oder Technik. Während ihr arbeitet, bohre ich in der Nase.“

In dem Moment durchfuhr ihn ein eisiger Schreck: „Du wirst doch nicht etwa evakuiert?“

Sara zeigte ganz offen ihre Freude. Und neckte ihn: „Hast wohl Verlassensängste?“

Verlegen brubbelnd machte er sich an seinem Laptop zu schaffen.

„Prof. Mauters hat mich auf die Liste setzen lassen.“ Sara sah jetzt auch nach unten.

„Welche Liste?“

„Die Liste derer, die hier bleiben. Ich hatte sie darum gebeten.“

In dieser Nacht schliefen sie das erste Mal miteinander.

„Hör auf, man sieht dir das auf 100 Meter an, Sara.“

„Du grinst selbst wie ein Honigkuchenpferd, Alva! Und womit soll ich aufhören?“

„Du strahlst über beide Backen. Und was ist ein Honigkuchenpferd?“

„Weiß ich nicht. Habe ich mal bei den Deutschen aufgeschnappt. Außerdem heißt es Wangen, nicht Backen, obwohl… „ Sara grinste schon wieder.

„Beeile dich, wir kommen zu spät. Und man kann es uns ruhig ansehen. So sehen nun mal frisch gevögelte Eichhörnchen aus.“

Sie lachten noch, als sie den Konferenzraum betraten. Soeben schwebte ein Lastenhubschrauber mit einem Laborcontainer ein.

Dann explodierte das Patrouillenboot.

Die meisten stürzten zu den Fenstern, einige blieben einfach stehen und sitzen. Ein paar machten Anstalten, aus dem Raum zu fliehen, sahen aber schnell die Sinnlosigkeit ein.

Das Boot war in einer Serie von mehreren Explosionen völlig zerrissen worden. Noch Sekunden später klatschten Trümmer ringsherum ins Meer. Das Boot war etwa 150 Meter entfernt detoniert, sofort drehten zwei andere Boote bei und näherten sich der Unglücksstelle, kreisten aber in respektvoller Entfernung um die versinkenden Reste.

„Warum fahren die nicht hin? Vielleicht hat ja jemand überlebt!“ Da Sibo erkannte Elena Marx, eine Labortechnikerin. „So etwas überlebt niemand.“ kam von Ringstrøm. „Außerdem haben die Angst.“

Da Sibo wusste sofort, was der Alte meinte. Er musste daran denken, dass Dr. Graber von psychischen Veränderungen gesprochen hatte, von Aggressivität. Was, wenn die Bootsbesatzung erkrankt war und sich selbst gesprengt hatte. Was, wenn es ein Anschlag war.

„Wir sind alle schon paranoid.“ Das sagte er laut. Erstaunlicherweise sprang Ringstrøm nicht darauf an.

„Wieso waren das mehrere Explosionen?“ Die Technikerin hatte noch Fragen.

„Mehrere Tanks vielleicht. Außerdem hatten sie Waffen und Munition an Bord.“

Von der Küstenseite her näherten sich zwei Hochgeschwindigkeitsboote der Küstenwache. Sie wurden von mehreren Hubschraubern überholt. Gleichzeitig nahm die 'Maaru' träge Fahrt auf und entfernte sich Richtung offene See.

Inzwischen hatten sich die meisten wieder gesetzt, die Diskussion war aber immer noch im Gange. Sie wurde hitzig in kleinen Gruppen geführt. Man schien einhellig der Meinung zu sein, es mit einem Anschlag zu tun zu haben, beim ‚Wer‘ und ‚Wie‘ und vor allem beim ‚Warum‘ konnte man sich aber nicht einigen.

Kampa erschien auf dem Schirm.

„Guten Morgen, meine Damen und Herren, zunächst ein paar organisatorische Neuigkeiten.“

Allgemeines Erstaunen, dass die UN-Chefin nicht auf die Explosion einging, aber Kampa fuhr schon fort.

„Die heutige Konferenz wird die letzte dieser Art sein. Ab heute Nachmittag werden die ersten beiden Labore auf der 'Maaru' einsatzbereit sein, so dass die Arbeit in kleineren Arbeitsgruppen beginnen kann. Da die ersten Satellitenverbindungen ebenfalls stehen, hat der Datentransfer bereits begonnen. Die berichterstattenden Meetings werden ab heute alle zwei Tage stattfinden, in den Arbeitsgruppen trifft man sich natürlich täglich. Das zu Erstens.

Zu Zweitens: Es wird zwei Koordinatoren an Bord geben. Zum einen den Koordinator Logistik/Beschaffung. Das wird Prof. Elaine Mauters sein. Ihre Aufgabe ist es, in erster Linie auf alle Veränderungen zu reagieren, die sich durch die wissenschaftliche Arbeit ergeben. Sie wird alle Anforderungen zusammenfassen und koordinieren, die an sie herangetragen werden. Dabei ist es egal, ob es sich um irgendwelche Geräte, Lager- oder Speicherkapazitäten, oder um Experten handelt, die benötigt werden.

Der andere, der wissenschaftliche Koordinator wird Prof. Alva da Sibo sein. Er wird die Arbeitsgruppen beaufsichtigen, Dienstpläne erstellen und die Ergebnisse zusammenfassen. Beide Koordinatoren werden mir direkt berichten.

Mit Prof. Mauters konnte ich heute Morgen schon sprechen, Prof. da Sibo war aus irgendeinem Grund nicht zu erreichen. Ich hoffe, Sie sind dennoch einverstanden, Professor?“

Da Sibo nickte nur wortlos, während Sara den Kopf langsam senkte, damit niemand ihr Grinsen sah. Gleichzeitig spürte sie, wie ihre Ohren anfingen, zu glühen. Die Generalsekretärin der UN-Vollversammlung hatte versucht, Alva zu erreichen, während sie beide bereits am frühen Morgen miteinander geschlafen hatten. Sie hatten extra den Wecker eine halbe Stunde früher gestellt und natürlich nicht im Traum daran gedacht, die Handys einzuschalten.

„Zu Drittens: Die Nachfrage bei den US-amerikanischen Bundesbehörden, die die 'Liga' beobachten, hat ein negatives Ergebnis gebracht. Man ist übereinstimmend der Meinung, dass weder die Mitglieder noch deren näherer Umkreis logistisch oder finanziell in der Lage wären, eine so komplexe Aufgabe wie die Entwicklung einer biologischen Waffe wie dieses Pandemievirus zu stemmen.

Sie brauchen nicht enttäuscht sein, Frau Sander, ich möchte Sie und alle anderen im Gegenteil ermutigen, weiterhin alle Gedanken zu äußern, soweit hergeholt sie auch sein mögen. Vielleicht bringt das den entscheidenden Fortschritt oder zumindest die Idee, in welche Richtung wir ermitteln müssen.“

Sara bemühte sich, ein enttäuschtes Gesicht zu machen.

„Zu Viertens: Der Gruppe um Dr. Li und Dr. Graber ist es gelungen, die Inkubationszeit näher zu bestimmen. Sie beträgt zwischen 85 und 120 Stunden. Das heißt, dass übermorgen die beiden Teams, die in Quarantäne sind, eingeflogen werden können.

Außerdem hat es Dr. Li geschafft, einige Zerfallsprodukte von Antikörpern nachzuweisen. Es ist damit die Bestätigung der Tatsache, dass es sich um einen Virus handelt. Sie wird im Anschluss dazu noch einige Erläuterungen geben.“

Kampa blickte kurz zur Seite und schien jemandem zuzuhören.

„Zu dem Vorfall von heute Morgen. Ich weiß genau so viel oder wenig wie Sie, nur dass diese Explosion bis jetzt nicht erklärbar scheint. Wir sind dabei, die Trümmer einzusammeln und Experten einzufliegen. Gibt es noch Fragen? Keine? Dann übergebe ich jetzt an Dr. Li.“

Diesmal saß Alva auf dem Bett, Sara lag neben ihm und hatte den Kopf auf seinem Schoß. Sie starrte an die Decke. „Ich müsste eigentlich ein total schlechtes Gewissen haben. Da draußen kippen jede Stunde Hunderte Leute tot um und ich bin trotzdem irgendwie glücklich.“ sinnierte sie. „Ist dir aufgefallen, was die Kampa heute gesagt hat?“

„Was meinst du? Das mit den Antikörpern?“

„Nein, dass sie schon dabei sind, die Trümmer des Bootes aufzusammeln. Hier ist es weit über 500 Meter tief. Das heißt, die müssen U-Boote in unmittelbarer Nähe gehabt haben.“

„Wahrscheinlich waren sie ständig unter uns.“

Es war der letzte ruhige Abend, den sie verbrachten.

Am nächsten Morgen saßen sie im Büro von Elaine Mauters. Die Techniker hatten binnen kürzester Zeit ein kleines Wunder vollbracht. Sie hatten für Mauters und da Sibo jeweils drei Kabinen zusammengelegt und gut ausgerüstete Büros daraus gemacht.

„Ich gratuliere Euch beiden.“ Prof. Mauters lächelte.

„Sieht man das wirklich?“ Sara hatte schon wieder rote Ohren.

„Wie lange kennen wir uns jetzt, Sara? 4 Jahre? Außerdem klebt ihr seit Beginn der Reise zusammen.

Vielleicht sollten wir die Situation nutzen. Wir brauchen sowieso eine Verbindungsperson zwischen den Bereichen. Warum machst du das nicht, du bist als meine Assistentin allein nicht ausgelastet. Du koordinierst quasi die Koordinatoren?“

„Ja, klar, natürlich!“ Sara war sofort Feuer und Flamme. „Ich plane die Meetings, nehme daran teil, mache Zusammenfassungen, Handouts, Rundmails. Ihr braucht Euch nicht mit den Kleinigkeiten abzugeben, das mache ich. Bestellungen zusammenfassen, Lieferungen überprüfen usw.“

„Gut“ da Sibo stand schon. „Lasst uns anfangen.“

In den nächsten Tagen arbeiteten sie bis zum Umfallen. Sara, die erst Angst gehabt hatte, vor Langeweile zu sterben, wusste bald nicht mehr, wo ihr der Kopf stand. Während sie am Anfang glaubte, sich die Arbeit aussuchen zu können, musste sie sich bald mit Händen und Füßen wehren. Jeder Ressort- und Arbeitsgruppenleiter versuchte, möglichst viel seiner organisatorischen Arbeit bei ihr abzuladen. Zudem kamen die avisierten 16 zusätzlichen Wissenschaftler und außerdem noch die 5 Techniker und ein paar unangekündigte Männer und Frauen, die so unauffällig waren, dass es jedem auffiel.

Es hatte sich sehr schnell herumgesprochen, dass Sara ein unübertroffenes Organisationstalent hatte und so klopfte jeder an ihre Tür, der irgendein Problem hatte. Als die Arbeit ihr über den Kopf zu wachsen drohte, sprach sie mit Mauters. Noch am selben Tag wurde ihr einer der jungen Männer zugeteilt, von denen keiner so richtig wusste, wozu sie gut waren. Prompt wurde sie von mehreren Personen gewarnt, es seien mit Sicherheit Geheimdienstleute. Das war Sara aber völlig egal, denn Jonas Winter erwies sich nicht nur als überaus tüchtig, sondern in dringenden Fällen auch als äußerst hilfreich. Wenn etwas besonders schnell zu besorgen war, wusste Winter immer, wen er anrufen musste und das Benötigte war binnen weniger Stunden oder Tage da.

Eines Morgens glaubten sie, zu träumen, denn wenige Kilometer neben ihnen lag ein Riesenschiff – die ‚USS Oriskany II‘, einer der beiden größten Flugzeugträger, die je gebaut wurden. Die ‚Oriskany‘ war als einzige noch einsatzfähig, denn auf dem Schwesterschiff war die neue Seuche ausgebrochen und hatte binnen weniger Tage die Hälfte der Besatzung weggerafft.

Jetzt lag die ‚Oriskany‘ neben ihnen und das brachte den Vorteil, dass sämtliche Materialbestellungen noch schneller gingen, da sie mit dem Flugzeug gebracht werden konnten. An dem Morgen war eine Konferenz aller beteiligten Institute angesagt. Kampa war seit langem mal wieder dabei. Sie sah noch abgespannter aus als zuletzt. Diese großen Videokonferenzen wurden nur noch wöchentlich abgehalten. Die beiden letzten Male hatte Shen sie geleitet. Heute begrüßte Kampa sie.

„Guten Morgen, meine Damen und Herren, ich hoffe Sie haben gut geschlafen, denn Sie werden eine Menge Nachrichten zu verdauen haben.

Erstens: Das Patrouillenboot, das vor Barbados explodiert ist, wurde abgeschossen - und zwar von einem gut bewaffneten Mini-U-Boot. Erst auf halbem Weg nach Martinique konnten wir es stellen. Leider haben sie sich zur Wehr gesetzt und aus den paar Blechfetzen, die übrig geblieben sind, ließ sich nichts mehr herausfinden. So tappen wir bei der Frage, wer dahintersteckt, immer noch im Dunkeln.

Zweitens: Auf der 'Maaru' wird mittlerweile in sechs Laboren gearbeitet. Wir sind dabei, Platz für vier weitere zu schaffen. Es sind zusätzliche Teams in Quarantäne, so dass sich die Mannschaftsstärke aus Wissenschaftlern, Laboranten und Labortechnikern mindestens verdoppeln wird. Wir haben eine Zeit lang überlegt, das komplette Team auf die ‚USS Oriskany II‘ zu verlegen, aber das Schicksal der ‚USS Sherman‘ hatte uns dann doch davon abgehalten.

Drittens: Der Virus ist identifiziert, zumindest können wir immer eine temporäre Form nachweisen, denn er mutiert schneller, als wir mit dem Qualifizieren hinterherkommen. Das Aidsvirus ist eine lahme Ente dagegen. Unsere Wissenschaftler haben mir versichert, dass sie noch nichts Vergleichbares hinsichtlich Komplexität und Mutationsrate gesehen haben. Wenn wir nicht bald den Prototyp des Virus finden, verzetteln wir uns maßlos im Untersuchen der immer neu auftauchenden Stämme und deren Variationen. Dazu mehr im Anschluss von Prof. da Sibo.

Viertens: Wir wissen, dass einige Unruhe bei Ihnen herrscht wegen der Agenten verschiedener Geheimdienste, die seit einigen Tagen auf der 'Maaru' sind. Sie dienen Ihrem Schutz. Und ja, auch die 'Oriskany' dient Ihrem Schutz, so wie die U-Boote, die ständig in ihrer Nähe sind. Das Ganze hat einen Grund: Dieser U-Gleiter sollte offensichtlich nicht nur das Patrouillenboot zerstören, sondern auch die 'Maaru‘ angreifen.“

„Wer, verdammt..“

Kampa würgte den Zwischenruf Ringstrøms mit einer energischen Handbewegung ab. „Wir wissen es nicht. Es bringt aber wieder den Gedanken Sara Sanders in Erinnerung. Wir haben den Verdacht damals wahrscheinlich zu schnell beiseitegeschoben, weil er einfach zu ungeheuerlich war. Jetzt gehen wir dem wieder nach, nur dass wir den Kreis der Verdächtigen stark erweitert haben.

Fünftens: Sie sehen sicherlich gelegentlich fern, aber es gibt keinen Sender mehr, der noch den Überblick über die Ereignisse weltweit hat. Wir sind die Einzigen, die noch ein einigermaßen funktionierendes Netzwerk haben. Dazu nur so viel: Alle Kontinente und größeren Inseln außer Australien und Neuseeland sind von der Pandemie betroffen, es gibt nur noch einige Hundert kleinere und mittlere Inseln sowie einige tausend Schiffe weltweit, auf denen noch keine Infektionsfälle aufgetreten sind.

Sechstens: „Die Zahlen, die Dr. Graber Ihnen nannte zu Inkubationszeit, Letalität usw. haben sich weitgehend bestätigt. Wenn es Veränderungen gibt, dann eher im Nachkommabereich. Eines ist allerdings neu: Wir kennen jetzt die Dauer der Erkrankung: Der Krankheitsverlauf tritt in zwei Schüben auf. Drei bis fünf Tage nach der Infektion treten die ersten Symptome auf. Wenige Tage später sterben etwa 20 Prozent der Erkrankten, besonders Patienten mit Vorerkrankungen, also geschwächtem Immunsystem. Bei den anderen tritt zunächst eine kurzzeitige Verbesserung des Allgemeinbefindens ein, ein sogenannter ‚fauler Frieden‘. Nach weiteren 6 bis zehn Tagen erliegen weitere 60 Prozent der Infizierten ihrer Erkrankung. Der Rest hat einigermaßen gute Chancen, zu gesunden.

Ich bitte jetzt Prof. da Sibo um seinen zusammenfassenden Bericht, danach Prof. Mauters.“

Ethnobombe

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