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1.
WIESO EIN BUCH AUF
DEN WURM KOMMT

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Aber ich schwor es mir zu, nicht zu vergessen euch, Nichtige Tierchen, ihr, deren Geschick mich traf.

FRANZ WERFEL

Es gibt flüchtige Leser und äußerst exakte Leser. Es gibt professionelle Leser und Hobby-Leser. Es gibt Diagonal-, Quer- und Rückwärts-Leser. Es gibt Gewohnheits-Leser und Zeitvertreib-Leser. Es gibt Leser, die ein Buch nur zur Hand nehmen, wenn auch eine Tasse Tee in Reichweite ist. Andere Leser greifen ausschließlich beim Zu-Bett-Gehen zum Buch. Manche lesen nur im Zug, auf Reisen oder im Urlaub am Strand. Und dann gibt es da noch einen Typus von Leser, der sich mit aller Leidenschaft auf sein Objekt der Begierde, aufs Buch, stürzt. Der Bücher nicht nur liest, sondern sie sammelt, hortet, anhäuft. Der an Büchern nicht nur ihren Inhalt schätzt, sondern auch das Leinen des Einbands. Der an den Seiten riecht, sie befühlt, sie buchstäblich schmeckt. Und aus gerechnet dieser Leser wird mit einem Tier gleichgesetzt. Einem Wurm.

Dieser Akt der Wurmwerdung oder Vermifizierung verwundert, weil Mensch und Wurm als das am weitesten aus einanderliegende Gegensatzpaar erscheinen. In der langen Geschichte der Metamorphosen von Mensch in Tier, ob in der Sage, im Traum oder beim Schimpfen, stets nimmt der Wurm das Ende der Hackordnung ein. Ein starker Kerl ist ein »Stier«. Ein Anführertyp ist ein »Löwe«. Wer dreckig spricht, ist ein »Schwein«. Wer biblisch lügt, eine, na ja, »Schlange«; und dann gibt es da noch den »Bücherwurm«. Wie kommt es eigentlich, dass der größte Freund der Bücher ausgerechnet nach deren verbissenstem Feind benannt ist? Was ist das überhaupt für ein Tier, der Bücherwurm?

Dürftiges nur ist über ihn bekannt. Er betreibt sein Geschäft im Dunklen, nur von wenigen Augen wurde er bislang leibhaftig gesehen. Dafür lassen sich die Spuren jener Schneise der Verwüstung, die der gemeine Bücherwurm quer durch die Bibliotheken genagt hat (oder besser: »gemümmelt«, denn Weichtiere besitzen vermutlich keine Zähne), heute noch in den Katalogen der Antiquariate sammeln:

Innengelenke aufgeplatzt, S.15/16 lose, letzte S. halb abgerissen, Loch im vorderen Schnitt: erste S. bis S. 28 beschädigt. Bücherwurm?1

Wenn ich verraten darf, dass es sich bei dem Festmahl um Rudolf Hans Bartschs Die Geschichte von der Hannerl und ihren Liebhabern handelt, lehrt uns das bereits eine wichtige Charaktereigenschaft des Tiers: Der Bücherwurm ist nicht wählerisch, sondern legt eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber dem Inhalt der Bücher an den Tag. Immerhin stellt er damit eine nicht-diskriminierende Art dar. Keiner Sprache, keiner Weltanschauung, keinem Zeitalter verweigert er sich. Er kennt weder Political Correctness noch Achtung vor religiösen Gefühlen. Allerdings wähnte sich bis ins Ende des 19. Jahrhunderts ein ganzer Kontinent frei von dem Schädling, nämlich der amerikanische, was jedoch schlagend respektive beißend widerlegt wurde. William Harris Arnold will glauben machen, dass die ersten amerikanischen Exemplare der Spezies italienische Einwanderer gewesen seien, die in Dantes Göttlicher Komödie eingereist seien:

Dem Erscheinungsbild des Buches zufolge kann man annehmen, dass die Bücherwürmer im »Inferno« geboren wurden; dass sie während der Überfahrt sich meistenteils im »Purgatorium« aufhielten, und dass bei der Ankunft in New York alle sich im »Paradies« wiederfanden.2

Der Bücherwurm – keine andere Spezies kommt so häufig in Büchern vor, während gleichzeitig so wenig über sie geschrieben wurde. Dietmar Grieser hat sich zwar mit seinem Buch Im Tiergarten der Weltliteratur. Auf den Spuren von Kater Murr, Biene Maja, Möwe Jonathan und den anderen Verdienste um die literarische Zoologie erworben, den augenfälligsten Schlafgast im »Garten« der Bücher indes hat er ignoriert. Die Semiotik, also Zeichenlehre, unterscheidet bedeutungstragende und bedeutungsunterscheidende Zeichen. Will man den Fährten, die der Bücherwurm in den Bibliotheken gelegt hat, Zeichencharakter zubilligen, müsste man wohl von bedeutungs-zerstörenden Zeichen sprechen.

Wie aber kam es zu jener Gleichsetzung dieses Viel fraßes, dieses Buchzerstörers, dieses Untiers mit dem vermeintlich größten Freund des Buches, dem Bibliophilen, dem Büchersammler, dem Leser? Wer kam zuerst auf die Idee, den Buchbenutzer mit dem Wurm über einen Kamm zu scheren? Einmal auf den Wurm gekommen, erscheint der leidenschaftliche Leser womöglich gar nicht mehr als Buchlieb haber, sondern selbst als ein Kaputtmacher, ein Vernichter, ein Wüstling. Seine Liebe zum Buch ist von der verzehrenden Art, sein Leseakt hinterlässt vielleicht auch untilgbare Spuren im Buch. Um dem Tertium Comparationis des Tiervergleichs von Wurm und Mensch auf die Schliche zu kommen, müssen wir uns die Besonderheiten dieses Tierchens einmal etwas näher ansehen. Was in erster Linie Not tut, ist eine Zoologie des Bücherwurms: Gehen wir also auf Tierjagd und ergründen wir, was seine charakteristischen biologischen Eigenschaften sind. Ist der tierische Bücherwurm einmal dingfest gemacht und bestimmt, kann einem schreck lichen Verdacht nachgegangen werden: Nämlich, dass vielleicht schon rein äußerlich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Egel und seinem menschlichen Pendant besteht oder, anders aus gedrückt, dass der menschliche Bücherwurm nicht das bestaussehende Exemplar der Gattung Homo sapiens ist.


Wurm trifft Buch – Schadbild einer gefräßigen Beziehung.

Das hervorstechende Merkmal unseres Tierchens hat mit seinen Wohn- und Lebensverhältnissen zu tun. Der tierische Bücherwurm lebt ja nicht nur vom Buch, er lebt vor allem im Buch. Er ernährt sich also von der Umwelt, die ihn umgibt. Der umweltschädliche Einfluss, den der Wurm damit auf seine ureigenste Lebenswelt ausübt, kann ihn in seiner Entwicklung durchaus zurückwerfen. Das kennen wir ja aus anderen Lebensbereichen.

Wäre auch in diesem Fall der menschliche Bücherwurm mit seinem animalischen Konterpart vergleichbar, es hätte nicht nur ökologische, sondern auch kulinarische Effekte. Der Mensch als Leser ist vielleicht auch einer, der ins Buch hineingeraten ist. Und umgekehrt wäre das Buch nur mehr Materie, die in den Menschen hineingeriete. Wir kennen ja die Redeweise vom »Verspeisen« der Bücher. Der Schriftsteller Ulrich Holbein hat sie auf den Punkt gebracht:

Krimis werden verschlungen, Pflichtlektüre wird durchgekaut. Philosophische Traktate sind schwer verdaulich. Weltliteratur wird geistige Nahrung genannt. Der Leser verspürt Lesehunger.3

Apropos verschlingen: Eine Kulinarik des Buches müsste natürlich her, die die Frage klärt, ob sich Bücher verzehren lassen und auf welche Weise man sie am schmackhaftesten zubereitet. Wir werden der Frage auf den Grund gehen, ob Bücher wirklich schwer verdaulich sind und ob es darum einer Diätetik des Buches bedarf. Umgekehrt soll die Probe aufs Exempel gemacht und das Rätsel gelöst werden, ob auch der Mensch von einem Buch verschlungen werden kann. Wie echte Menschen in Bücher geraten, ist eine Problemstellung, die für Bücherwürmer eine Existenzfrage darstellt. Schließlich wollen wir klären, ob Bücherwürmer die einzi gen Medienfeinde sind oder ob es nicht auch andere Spezies gibt, die sich auf Medien spezialisiert haben. Hat am so viel apostrophierten »Ende der Gutenberg-Galaxis« der Bücherwurm im ewigen Lebenskampf das sterbende Me dium Buch verlassen und neue Lebensräume erobert? Kurzum: Hat der Bücherwurm eine Zukunft?

Der Bücherwurm

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