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Unheimliche Parallelismen

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Den engen Zusammenhang von Literatur und Kulinarik offenbart auch der Umstand, dass sich diese beiden vordergründig entfernten Lebensbereiche in ihrer historischen wie aktuellen Entwicklung in fast schon unheimlich zu nennender Weise parallel entwickelt haben. Wir durchleiden nicht nur eine Entfremdung von natürlicher Nahrungsaufnahme, sondern auch eine Entfremdung von natürlicher Literaturaufnahme: Bieten uns die Lebenmittelgeschäfte und Supermärkte heute Analogkäse und Genfood, so sind die Bestsellerlisten gefüllt mit Literaturergänzungsmitteln, Erzählsurrogaten, Analog-Romanen. Aus der gutbürgerlichen Mahlzeit wurde das Event-Catering und aus dem bürgerlichen Roman das Literatur-Event. Die Tendenz zu »convenience food« korrespondiert mit einer Neigung zu Gebrauchs- und Unterhaltungsliteratur, die man auch als »convenience litterature« bezeichnen könnte.

Wie ist dieser Parallelismus zu erklären? Womöglich einfach damit, dass Feuerbach recht hatte. Als der Philosoph Ludwig Feuerbach im Jahre 1850 für die Blätter für literarische Unterhaltung das Buch seines niederländischen Kollegen Jakob Moleschott Lehre der Nahrungsmittel rezensierte, fand er jene Formulierung, die bis heute unser Verhältnis zu unseren Lebens-Mitteln veranschaulicht: »Der Mensch ist, was er isst«. Der, aus Sicht Feuerbachs allerdings unerwünschte, Erfolg des Sinnspruchs zeigt sich auch darin, dass der Philosoph nur ein Jahr später gegen die allzu augenfälligen Simplifizierungen seiner These eine ausführliche Denkschrift unter dem Titel Das Geheimnis des Opfers oder Der Mensch ist, was er ißt nachschob. Aber nicht nur das große Ganze, das Sein selbst ist mit dem Essen inniglich verknüpft. Auch die spezielle Seinsform, die wir Dichtung nennen, lässt sich über den gleichen Kamm scheren: Der Mensch dichtet, was er isst. Friedrich Schiller ließ sich vom Odeur fauliger Äpfel in der Schreibtischschublade inspirieren. Balzac hat in seiner Comédie humaine nicht weniger als 250 Kochrezepte verarbeitet. Günter Grass behandelt in einem seiner bekanntesten Romane, Der Butt, die verschiedenen Zubereitungsmöglichkeiten des Plattfischs. Und Johannes Mario Simmels Darstellung im Bestseller Es muss nicht immer Kaviar sein soll massiv zum Siegeszug jenes Gerichts beigetragen haben, das mit einigem Fug und Recht heute als das neue deutsche Nationalgericht bezeichnet werden darf: Spaghetti Bolognese. Die Schriftsteller sollten dem Volke eben häufiger nicht nur aufs Maul, sondern auch ins Maul schauen. Dann wird Literatur auch wieder genießbar.

Dass die Literaturwissenschaft sich des Bücherwurms bislang nicht angenommen hat, hängt vielleicht auch damit zusammen, dass die Verbindung aus Literatur, Zoologie und Kulinarik, die der Thematik innewohnt, sich in der akademischen Welt – wie soll ich sagen? – nicht so recht schickt. Trotz der Versuche des Poststrukturalismus und hierzulande namentlich des Medienwissenschaftlers Friedrich Kittler, den Geist aus den Geisteswissenschaften auszutreiben,8 waren und sind Forschungskleider, die zu eng am Körper anliegen, in den geistreichen Philologien eher verpönt. Zwar hat der Heidelberger Romanist Arnold Rothe schon in den 1970er Jahren Balzac in den Kochtopf geguckt.9 Alois Wierlacher widmete der literarischen Mahlzeit von Goethe bis Grass seine Habilitationsschrift.10 Und Peter Michelsen brachte das Ringelnatz’sche Werk auf den Nenner »Alkohol in Versen«.11 Doch solche vereinzelten Bemühungen um eine literarische Kulinarik dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die sprichwörtliche Brotlosigkeit der Literaturwissenschaften sich auch im Widerwillen gegen solche Sujets widerspiegelt, die das tägliche Brot betreffen. Von Würmern ganz zu schweigen.

Wenn mit diesem Buch nun also doch die vom Literaturkritiker Dennis Scheck so bezeichnete »überfällige Studie« über den Bücherwurm vorliegt,12 verdankt sie sich eigentlich einem Treppenwitz in Gestalt einer kleinen, unscheinbaren Fußnote zum Thema »Bücherwurm« in meiner literatur- und medienwissenschaftlichen Doktorarbeit. Die kleine Note fiel meinem Doktorvater, Horst Turk, auf. Doch statt mich zu schelten, was der Unsinn solle, forderte er mich auf, einen kleinen Vortrag über das Tier und sein schändliches Treiben auszuarbeiten und beim literarischen Salon im Hause Turk vorzutragen. Aus dem Vortrag wurde ein Exposé. Es bedurfte noch eines mutigen Verlagsdirektors, eines inspirierten Programmchefs und einer hartnäckigen Lektorin. Und irgendwann gab es dieses Buch …

Wenn dieses Bücherwurmbuch so viele Freundinnen und Freunde gefunden hat, dann vielleicht auch deswegen, weil die Leser selbst ein Teil dieses Buchs sind. Denn wer sonst sollte eine solche Studie verschlingen, wenn nicht die Bücherwürmer selbst. Ihnen, ja, Ihnen da, die Sie sich urplötzlich selbst in das Buch versetzt finden, das Sie gerade in Händen halten, sei dieses kleine Werk gewidmet!

Hektor Haarkötter Köln und München, Oktober 2011
Der Bücherwurm

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