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2.
WIE DER MENSCH DEM WURM
AUF DIE SCHLICHE KAM

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Einige Bücher soll man schmecken, andere verschlucken, und einige wenige kauen und verdauen.

FRANCIS BACON

Im Buch begegnet der Bücherwurm, seit es Bücher gibt. Schon die Papyri der alten Ägypter, die Schriftrollen der Griechen und Römer wurden zur Nahrung des ungebildeten Untiers. Erste explizite urkundliche Erwähnung findet der Bücherwurm, wie sollte es anders sein, in einem Buch des griechischen Philosophen Aristoteles, der ihn als kleinstes aller Tiere und als skorpionähnlichen Wurm ohne Stachel beschreibt.1 Der römische Dichter Horaz befürchtete, dass seine Werke zum Futter gefräßiger Raupen werden könnten, und schlug vor, die Schriftrollen in Zedernöl zu tränken. Ovid fühlte im Exil »das dauernde Nagen der Sorge an seinem Herzen, wie das Nagen des Bücherwurmes an einer abgelegten Buchrolle«.2 Und Vitruv in seiner Schrift De architectura, dem einzigen erhaltenen Architekturbuch der Antike, empfahl, dass Schlafräume und Bibliotheken nach Osten ausgerichtet sein sollten, da in nach Süden ausgerichteten Zimmern die Bücher von Würmern und Feuch tigkeit verdorben würden. Mit dem Ende der lateinischen Antike kehrt für den Bücherwurm aber wieder Ruhe ein und er kann unbehelligt die Stille der Bibliotheken genießen, bis in die Neuzeit hinein. Erst im 17. Jahrhundert interessiert man sich erneut für ihn. Denn um mehr über das Gewürm zu erfahren, musste man es unter die Lupe nehmen. Das war schwierig, denn erst musste die Lupe erfunden werden.

Die moderne Forschungsgeschichte des Bücherwurms beginnt just bei der Frankfurter Buchmesse 1608. Es ist die Zeit des Fern-Sehens: Der Holländer Hans Lippershey meldet ein Patent auf eine sensationelle Erfindung an, das Fernrohr. Nirgends anders als ausgerechnet auf der Buchmesse stellt er sein neues Instrument der staunenden Öffentlichkeit vor. Die Geschichte des Fernrohrs ist auch die Geschichte des Bücherwurms. Denn erst mit der Idee, durch mechanisch miteinander verbundene, geschliffene Linsen die Sehkraft des Menschen exponentiell zu verstärken, konnte auch so kleinen Lebewesen wie den Bücherwürmern auf die Schliche gekommen werden. Berühmt wurde die Erfindung des ge lernten Brillenmachers Lippershey aber durch einen an deren, durch den Padoveser Mathematikprofessor Galileo Galilei. Er war zwar nicht Erfinder des Fernrohrs, behielt dieses kleine Detail aber für sich, wusste er doch aus der Vorstellung des neuartigen Instruments vor dem Rat der Stadt Venedig geschäftlichen Erfolg zu schlagen: Man verdoppelte ihm das Gehalt und stellte ihn auf Lebenszeit an der Universität zu Padua an. Dass im selben Jahr Fernrohre aus Holland und Frankreich in Venedig angeboten wurden, ließ bei Galileis Geldgebern einen gewissen Unmut zurück. Immerhin gebührt Galilei das Verdienst, die wissenschaftlichen und praktischen Möglichkeiten dieses »Fernsehers« entdeckt zu haben. Galilei war der Erste, der das Gerät in den Nachthimmel richtete und seine Beobachtungen aufzeichnete. Siderius Nuncius, Botschafter der Sterne, nannte er sein 1610 erschienenes Werk. Seine revolutionären Tele-Visionen, deren »bewunderungswürdige Schauspiele« er allen darbieten wollte, waren insbesondere die Krater und Berge auf dem Mond, die Sternenstruktur der Milchstraße und die vier größten Jupitermonde.


Galilei guckt in den Mond – findet ihn aber nicht.

War Galilei vor Erfindung des Fernrohrs vor allem Ma thematiker und Physiker, wurde er nun und im Andenken der Nachwelt in erster Linie Astronom. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass, wie der Wissenschaftsphilosoph Paul Feyerabend in seinen Skizzen einer anarchistischen Wissenschaftstheorie festgestellt hat, ein kurzer Blick auf Galileis Zeichnungen reiche, um sich zu überzeugen, dass kein Bestandteil der Zeichnungen mit irgendeiner bekannten Stelle der Mondlandschaft identifiziert werden könne. Der Bedeutung des Fernrohrs als »Leitinstrument der Aufklärung«, wie es bezeichnet wurde, tat dies keinen Abbruch. Die Aussicht ins unendlich Ferne, die Makrooptik, eröffnete schon auf den buchstäblich ersten Blick Konsequenzen auf Weltbilder und Religiös-Ideologisches. Der Blick ins unendlich Kleine dagegen, die Mikrooptik, tat sich schwerer. Die Mikroskopie, die als Nebenprodukt der Teleskopie erfunden wurde, war anfangs nur ein Hobby für Laien und diente dem Amüsement im Salon. Insecten-Belustigungen nannte der Kupferstecher und Miniaturmaler August Johann Rösel von Rosenhof sein zwischen 1740 und 1759 entstandenes Werk, das überaus erfolgreich in vier Bänden erschien. Die Erkenntnis, dass durch das Mikroskop auch dem wissenschaftlichen Fortschritt gedient werden könnte, brauchte noch eine kleine Weile. Die Erforschung des Bücherwurms hatte daran ihren Anteil.

Der Delfter Tuchhändler Leeuwenhoek etwa begeisterte sich unter den selbstgeschliffenen Lupenlinsen für die Facettenaugen der Insekten und beschrieb sie in seinen Arcana naturae detecta. Der Italiener Malpighi studierte unter dem »Flohgucker« die Anatomie der Seidenraupe. Swammerdam entdeckte die Ovarien der Bienenkönigin, die Genitalien der Drohnen. In Middelburg erschien die dreibändige illustrierte Geschichte der Metamorphose der Insekten des Malers Johannes Goedaert.3 Wissenschaftlich geadelt wurde die neue Technik durch einen Auftrag, den der Engländer Robert Hooke im Jahr 1665 von der Royal Society erhielt. Hooke sollte eine wahllose Sammlung von Gegenständen unters Mikroskop legen, zeichnen und beschreiben. Das Buch, das er veröffentlichte, hieß Micrographia und wurde vom Fleck weg ein Bestseller. Bleibende Bewunderung erwarb Hooke sich mit der mikroskopischen Beschreibung des Flaschenkorkens. Er erkannte in 50-facher Vergrößerung eine honig wabenähn liche Struktur. Sie erinnerte Hooke, der im Nebenberuf Architekt war und unter anderem nach dem großen Brand von 1666 die City of London wiederaufgebaut hatte, an die Anordnung der mönchischen Schlafräume in einem Kloster, weswegen er sie »Zellen« nannte. Seitdem wird die kleinste lebens fähige Einheit in der Biologie als Zelle bezeichnet. Am Ende seiner Versuchsreihe unterzog Robert Hooke auch ein Tierchen eingehender Betrachtung, das er zwischen den Büchern seiner Bibliothek gefunden hatte. Er nennt in seiner Micrographia, der wir auch die erste holzstichige Abbildung der Kreatur verdanken, dieses Tier »book-worm« und bezeichnet es als »kleine perlfarbene Motte«. Sie habe einen konischen Körper, der in 14 Teile geteilt sei, die wiederum von einer großen Zahl durch sichtiger Schuppen bedeckt seien.


Das Mikroskop von Sir Robert Hooke – damit kam er dem Wurm auf die Spur.

Die Jagd auf den Bücherwurm war eröffnet. Denn mit Hookes Erkenntnissen fing der Streit der Fakultäten über das Wesen des Bücherwurms erst an. Besonders eine Frage durchzieht seit Hookes Veröffentlichung die bücherschwere Debatte wie die Gänge, die der Parasit durch sein Element gräbt: Handelt es sich überhaupt um einen Wurm oder ist der Bücher-»wurm« nicht vielmehr ein Insekt?


Der »book-worm« aus Hookes Micrographia.

Das Problem wurde im Lauf des 17. und frühen 18. Jahrhunderts noch dringlicher. Damals begann ein gesellschaftlicher Um bau, der bis heute noch nicht als abgeschlossen gelten kann: die Entwicklung zur Mediengesellschaft. So wie heute Fernsehen und Internet die Kultur dominieren, stand damals alles im Zeichen des Buches. Die Zahl der Schriftsteller im deutschen Sprachraum verdoppelte sich allein zwischen 1773 und 1787.4 Auch die Zahl der Neuerscheinungen und damit der insgesamt verfügbaren gedruckten Bücher nahm ungeheuer zu. Ausweislich Christian Kaysers Vollständigem Bücher-Lexicon enthaltend alle von 1750 bis zu Ende des Jahres 1832 in Deutschland und in den angrenzenden Ländern gedruckten Bücher wuchs allein die Romanproduktion von 73 jährlichen Neuerscheinungen in den 1750er Jahren auf 1623 Neuerscheinungen in den 1790er Jahren. Die Entwicklung nahm so überhand, dass warnende Schriften erschienen, die vor übermäßigem Buchkonsum warnten – den kleinen Widerspruch hinnehmend, dass auch diese Warnschriften den Bücherberg weiter vergrößerten! Und wo der Bücherberg wuchs und wo die Bibliotheken anschwollen, da vergrößerte sich auch der natürliche Lebensraum des Bücherwurms. Mit der beginnenden Mediengesellschaft wurde der Bücherwurm zu einer ernstzunehmenden Plage. Klassisch gebildete Buchliebhaber schleuderten ihm wütend ihre Jamben und Daktylen entgegen – auf Latein, versteht sich. Vermutlich nahmen sie an – da das Schrifttum der vergangenen zweitausend Jahre vorwiegend auf Latein war –, dass dies auch die Sprache sei, die der Wurm verstehe.

Quid dicam innumeros bene eruditos

Quorum tu monumenta, tu labores

Isto pessimo ventre devorasti?

(Was soll ich über die unzähligen Gelehrten sagen,

deren Werke du und Denkmäler

mit deinem üblen Magen verschlungen hast?)5

Mit Versen gegen Bestien? Ein hilfloses Unterfangen. Kein Wunder, dass die Notwendigkeit, dem Wurm und seinem unheilvollen Treiben auf die Schliche zu kommen, immer größer wurde. Es war der Berliner Schulrektor Johann Leonhard Frisch, der 1736 in einem Stück Brot die Larve eines Insekts fand, das auch Zeichnungen, Gemälde und Manuskripte angriff und selbst die dicksten Bücher durchbohrte. In seiner Beschreibung von allerley Insekten in Teutschland gibt Frisch die erste wissenschaftliche Beschreibung eines Buchschädlings. Im Jahr 1774 schreibt in ihrer Not die angesehene Königliche Societät der Wissenschaften zu Göttingen eine Preisfrage aus, um endlich Antwort zu erhalten:

Wie vielerley Arten von Insekten giebt es, die den Urkunden und Büchern in Archiven und Bibliotheken schädlich sind? Welchem Stücke der Materialien, als Kleister, Leder, Pappe, u.s.w. geht jede Gattung besonders nach? und welches sind die thunlichsten und durch die Erfahrung bewährtesten Mittel, diese Insecten von Bücher- und Urkundensammlungen theils abzuhalten, theils zu vertilgen?

Drei Abhandlungen haben sich als Antworten erhalten, darunter die preisgekrönte von Johann Hermann, seines Zeichens Doktor der Medizin und außerordentlicher Professor zu Straßburg.6 Bleibende Meriten hat die Preisschrift sich verdient, indem sie zum ersten Mal schriftlich festhielt, dass »der« Bücherwurm wahrscheinlich gar nicht nur eine Spezies sei, sondern eine Art Sammelbezeichnung, unter der sich verschiedene Tiere verbergen können. Was den Göttinger Preisrichtern vermutlich außerdem wohlgefällig angekommen sein muss und vielleicht letztlich für die Preisvergabe an den Straßburger Forscher ausschlaggebend gewesen sein könnte, war die kreative Strategie des Professors. In einer Art Ausschlussverfahren versuchte er die Unschuld all jener Tierchen zu beweisen, »die man in Verdacht haben könnte, weil sie öfters bey Büchern gefunden werden«. Dass er allerdings einige der heute als allerübelste Buchschädlinge angesehene Bestien exkulpierte, lässt doch wieder Zweifel an seiner Methodik aufkommen. Eingehender empirischer Analyse wurde der Schädling im Zuge der Diskussion nicht weiter unterzogen, denn das war in jener Zeit in akademischen Zirkeln, die sich auf Schultradition, Buchwissen und Etymologie verließen, noch nicht üblich. Auch Professor Hermann bezog sich lieber auf den antiken Schriftsteller Plinius und dessen Historia naturalis. Zugegeben, das Buch war seit der Antike das Standardwerk für alle wissenschaftlichen Fragen, allerdings steht überwiegend Unsinn darin. Dabei hatte Johann Hermann die Lösung nun wirklich vor der Nase: Er hätte ironischerweise nur ins Buch gucken müssen – allerdings nicht auf seine hermeneutische, sondern auf eine empirische oder, wenn man so will: kulinarische Art, die Art des Bücherwurms eben.


Ein Preis für die Wurmkunde – in diesem Magazin erschien die Preisschrift der Göttinger Akademie.

Auch in Großbritannien, wo das Raubtier die berühmten Bibliotheken des British Museum, der University of Cam bridge und die Bodleian Library in Oxford bedrohte, forschte man emsig. John Dovastons Ansichten über den Bücherwurm können dabei allerdings nicht anders denn als schwerer Rückschritt in der Vermiologie betrachtet werden, hielt er das Tier doch für ein »mickriges verfressenes Reptil«.7 John Hannett identifizierte in seinem Werk über Buchbinderei den Wurm als Aglossa pinguinalis, eine Milbenart, deren Larven sich speziell über den Buchbinderleim im Einband hermachen und dadurch den Büchern ziemlich zusetzen.8 Bedenkend, dass der Verfasser selbst Buchbinder war, scheint hier das berufliche Eigeninteresse erkenntnisleitend gewesen zu sein und der vermiologische Blick für das erschreckende Ganze der Thematik gefehlt zu haben. Erst William Kirby, der mit einer Beschreibung der englischen Bienen berühmt wurde und als Gründer der Insektenkunde bezeichnet wird, war in Sachen Bücherwurmforschung vorbildlich. Auch Kirby ging davon aus, dass der Bücherwurm nicht ein einziges spezifisches Tier ist, sondern eine Sammelbezeichnung für verschiedene Schädlinge. Neben den Milbenarten Crambus pinguinalis und Acarus eruditus hatte er besonders die Holzwürmer (Anobium pertinax und Anobium striatum) in Verdacht, von den hölzernen Bücherregalen und Buchdeckeln zu den Büchern selbst migriert zu sein und dort einen Schaden angerichtet zu haben, der »das Gewicht der geschädigten Bücher in Gold aufwiegen ließe«.9 Der Bücherwurm erwies sich als außerordentlich undankbares Forschungsobjekt, weil es (was ihn irgendwie sympathisch macht) nahezu ausgeschlossen ist, ihn in Gefangenschaft zu halten. Alle empirischen Untersuchungen des Tiers beschränkten sich darum auf Zufallsfunde in Bibliotheken. Erschwerend kommt hinzu, dass Insekten und besonders Käfer eine Metamorphose durchmachen und den größeren Teil ihres Daseins, oft viele Jahre, als Raupen oder Larven verbringen. In diesem Larvenzustand, der dem Geschöpf vermutlich den Namen Wurm (lat. vermis) einbrachte, ist es für den nicht insektenkundlich Versierten nahezu unmöglich, die Spezies zu bestimmen. Selbst William Kirby gesteht, er habe hinter »staubigen alten Büchern« auch die Raupen von Motten gefunden, sie aber nicht identifizieren können. Erst dem englischen Buchdrucker William Blades gelang es, eines der Tiere zu isolieren und zu beschreiben. Doch bis dahin war es auch für Blades ein dorniger Weg. Denn die nicht immer tierfreundliche Gesinnung von Bibliotheksbenutzern (seine eigene eingeschlossen) erwies sich bei der empirischen Arbeit als hinderlich:

Ich erinnere mich an meinen ersten Besuch in der Bodleian Library im Jahr 1858. Dr. Bandinel war der Bibliothekar. … Ich sah gerade einen Packen Fragmente in Frakturschrift durch, da kam mir eine kleine Larve unter, die ich ohne Nachdenken auf den Boden schleuderte und mit dem Fuß zertrat. Kurz darauf fand ich eine zweite Larve, einen fetten, schimmrigen Gesellen, etwa so lang —, den ich vorsichtig in eine Schachtel setzte, um später sein Verhalten und seine Entwicklung zu untersuchen. Als Dr. Bandinel vorbeikam, zeigte ich ihm meine Errungenschaft. Kaum hatte ich das sich windende kleine Opfer auf den lederbezogenen Tisch befördert, als des Doktors großer Daumennagel über es kam und eine zentimeterlange Schmierspur all meine Hoffnungen begrub. Der berühmte Bibliothekar wischte den Daumen an seinem Mantel ab und sagte im Weiter gehen: Oh ja, manchmal haben sie schwarze Köpfe.10

Im Dezember 1879 machte Blades einen nächsten Versuch. Er bekam von einem Buchbinder aus Northampton einen »fetten kleinen Wurm« geschickt. Der Wurm hatte die Reise gut überstanden, und Blades steckte ihn in eine warme Kiste. Das Ernährungsprogramm für den Wurm hatte Feinschmeckerqualität, es gab Boethius-Fragmente vom englischen Frühdrucker Caxton und eine Seite eines Druckwerks aus dem 17. Jahrhundert. Der Wurm aß ein kleines Stück dieses Blattes, aber dann, »sei es wegen zu vieler frischer Luft, sei es von der ungewohnten Freiheit, sei es von der Ernährungsumstellung«, wurde er schwächer und verstarb nach drei Wochen.

Erst im dritten Anlauf gelang es, einen Bücherwurm am Leben zu halten. Blades konnte ein Exemplar 18 Monate lang beobachten, das im British Museum aus einem frisch aus Athen eingetroffenen hebräischen Kommentar gefischt worden war. Dieser »griechische Bücherwurm« war beinahe so transparent »wie dünnes Elfenbein« und hatte eine dunkle Linie quer durch den Körper, die Blades als Verdauungsorgan identifizierte. Anderthalb Jahre lebte Blades mit dem Wurm zusammen, bis dieser in einem langen Todeskampf verstarb, »tief betrauert« von seinem Besitzer und bevor die Larve sich verpuppt hatte.

Die Schwierigkeiten der Wurmzucht beruhten, so Blades, auf dem Körperbau. Im natürlichen Zustand, also eingeschlossen im Buch, können die Würmer durch Expansion und Kontraktion ihres Körpers die Mundwerkzeuge gegen die sich ihnen entgegenstemmenden Papiermassen schieben. Befreit aus dieser Umklammerung, die für die Bücherwürmer die normale Lebensbedingung ist, können sie nicht mehr richtig essen, auch wenn sie von Nahrung umgeben sind, weil ihnen der Widerstand aus dem Buch fehlt. In der Materie ganz tief drin zu stecken, ist für den Bücherwurm also lebenserhaltend.

Blades konnte noch einige andere Untersuchungen in der Bücherwurmkunde anstellen, bei denen er auf den Wurm nicht angewiesen war, sondern sich auf seine Lieblingsobjekte kaprizieren konnte, die Bücher. Er analysierte, wie weit ein Bücherwurm bei seinem schä(n)dlichen Treiben im Buch überhaupt kommt. Corpus Delicti war ein Frühdruck von Schöffer aus dem Jahr 1477. Die Würmer hatten das Buch von beiden Seiten angegriffen. Im vorderen Einband waren 212 Wurmlöcher. Deren Größe variierte von stecknadel- bis stricknadelkopfgroß. Von hier aus bewegten sich fast alle Wurmgänge im lotrechten Winkel vom Einband ins Innere des Buchblocks. Nur einige wenige hatten sich längs der Papierkante verirrt und waren auf Seite 4 steckengeblieben. Die restliche Armada von Bücherwürmern hatte sich in das wertvolle Buch hineingefressen, »als ob ein Wettrennen stattgefunden hätte«. Bis Seite 11 kamen 57 Würmer. Auf Seite 41 kamen noch 18 Würmer an. Sechs Tierchen schafften es bis Seite 51. Vier von ihnen gaben bis Seite 81 auf. Der längste Wurmkanal endete erst auf Seite 90. Eine kleine Gruppe von Würmern fing beim hinteren Deckel an und fraß sich von hinten nach vorne durchs Buch. Der hungrigste aus diesem Rudel schaffte aber nur 69 Seiten. Die Meute, die sich um den Schöffer riss, war aber wahrlich nicht die effektivste. Blades selbst will Fraß kanäle gesehen haben, die quer durch mehrere Bände inklusive Einband führten. Andernorts wird von einem Wurm berichtet, der sich durch die komplette fünfbändige Ausgabe von Hanys Mineralogy gefressen haben soll.11 Schließlich berichtet der französische Bibliograph Gabriel Peignot, ein einziger Wurm habe sich in gerader Linie durch 27 Folio-Bände gebissen, und zwar so, dass, wenn man durch das Wurmloch eine Kordel spannte, man alle Bände gleichzeitig hochheben könnte. Einen Beleg für seine wagemutige Behauptung liefert Peignot nicht. Allerdings findet sie sich in 26 anderen Werken, die sich mit Bücherwürmern beschäftigen, zitiert.12 Selbst wenn also in Wahrheit das Tierchen jenen Fabel rekord nicht geschafft haben sollte, hat es mit vorliegendem Buch dennoch 27 Bände durchdrungen.

Ein Bibliothekar der weltberühmten Stiftsbibliothek von St. Gallen in der Schweiz wiederum erzählte, welchen Nutzen Wurmlöcher haben können. Denn anhand durchgehender Kanalverbindungen kann auch bei mittelalter lichen Schriften ermittelt werden, wie Schriften einst im Regal neben einander oder, was früher eher die Regel war, übereinander gestapelt waren. Sogar ein veritabler Kriminalfall wurde aufgrund eines Wurmlochs gelöst. Ein Fälscher mit dem bezeichnenden Namen Hermann Kyrieleis hatte von 1894 bis 1896 Bücher mit angeblich handschriftlichen Eintragungen von Martin Luther verkauft. Um die Echtheit dieser Autographen zu unterstreichen, benutzte der Fälscher wurmstichiges Papier. Dem Philologen Max Hermann indes fiel auf, dass die Tinte am Rand solcher Wurmlöcher ausgelaufen war. Also mussten die Würmer vor den Eintragungen tätig gewesen sein.13

Trotz all dieser Einsichten kam es immer noch nicht zu einer Bestimmung des Bücherwurms. Selbst William Blades, der doch so weit gekommen war, konnte nie einen »Bücherwurm« bis zum Schlüpfen und zur Ausflugphase beobachten. Letztlich blieb auch Blades darum nur die etwas nüchterne Feststellung, es gebe Würmer mit hellen Köpfen und solche mit dunklen Köpfen. Vor allem ließ sich die seiner Ansicht nach entscheidende Frage nicht lösen: Ist der Bücher-»wurm« ein Käfer oder eine Schmetterlingsart? Kurz: Sprechen wir 1.) von Nagekäfern, lateinisch Anobium, mit den Arten a) A. pertinax, b) A. eruditus oder c) A. paniceum oder sprechen wir 2.) von Motten, lateinisch Aecophora, insbesondere der Art Ae. pseudospretella?

Dies gelang ansatzweise erst dem Pater John O’Conor am Ende des 19. Jahrhunderts, und er gab darüber fakten basiert Auskunft in seiner aufsehenerregenden Studie Facts About Bookworms.14 Ganz im Stil des damals neuen, positivistischen Wissenschaftsideals schaffte es O’Conor, 72 verschiedene Exemplare von diversen Lebewesen zu isolieren, die sich in Büchern fanden und gemeinhin als »Bücherwürmer« klassifiziert wurden. Er beobachtete sie in verschiedenen Entwicklungsstufen beim Aufessen von Büchern und konstatierte, dass es sich tatsächlich hauptsächlich um Larven von Käfern handelte, den Coleoptera. Im Larvenstadium konnte O’Conor sie identifizieren als Sitodrepa panicea, Attagenus pellio und Anthrenus varius. Er fand aber auch ausgewachsene Tiere, und zwar Ptinus fur, sowie das flügellose Urinsekt Lepisma saccharina..

Mit der Arbeit O’Conors war allerdings die Bücherwurmforschung nicht am Ende, sondern stand erst am An fang. Und manche wähnten sogar, sie habe zu ihren Anfän gen zurückgefunden. Denn in der 11. Auflage der ehrenwerten Encyclopedia Britannica wurde, trotz allen vo ran ge gangenen Forscherfleißes, auf einmal wieder zur alten Skorpion-Theorie des Aristoteles zurückgekehrt. In diesem Lexikon identifizierte man unseren Schädling als »Bücher-Skorpion«, was noch nicht mal ein Insekt, sondern ein Spinnentier ist.15 O’Conor fasste leicht resigniert den Wissensstand seiner Zeit wie folgt zusammen:

Es gibt einen Bücherwurm, oder Bücherwürmer, vielleicht Insekten irgendeiner Art, von denen man annimmt, dass sie Bücher fressen, obwohl das bei irgendeinem bestimmten Tier noch nicht recht bewiesen ist.

Der Bücherwurm

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