Читать книгу Der Bücherwurm - Michael Haarkötter - Страница 8
Kunst wird essbar
ОглавлениеDer Künstler Peter Kubelka bezeichnete die Speisenzubereitung als »älteste bildende Kunst« und nannte sie die »essbare Niederschrift der Weltanschauung«.1
Wie manifest der Zusammenhang von Literatur, Kunst und Kulinarik ist, machte seit den 1960er Jahren eine Gruppe von abstrakten Künstlern und konkreten Poeten deutlich, die die »Eat Art«, also die »essbare Kunst«, ins Leben riefen. Der Schweizer Dichter und Aktionskünstler Dieter Roth verwendete schon seit 1954 Lebensmittel als künstlerisches Material. Sein Ziel war es, organische Kunstwerke zu schaffen, die wie alles Organische dem Verfall ausgesetzt waren: Kunstwerke »sollten sich ändern wie der Mensch selber, alt werden und sterben«.2 Literatur im Lichte Roth’scher eat art war nicht mehr Quell der Erbauung, sondern das Fleisch zum Verwursten: Die »Literaturwürste«, die heute in der Stuttgarter Staatsgalerie zu bewundern (oder: ver-wundern?) sind, wurden aus einer 20-bändigen Hegel-Ausgabe hergestellt. Die Druckerpresse spielte für Roth durchaus noch eine Rolle, jedoch in einem gänzlich neuen Sinne: Er setzte sie als Werkzeug für seine »Quetschungen« und »Pressungen« genannten Kunstwerke ein, indem er Pralinen, Bananen oder Kekse auf ein Leintuch walzte.
Dieter Roth: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in 20 Bänden, 1974
Ein anderer Schweizer eat art-Aktivist, Daniel Spoerri, nahm die Metapher wörtlich: Am 17. Juni 1968 eröffnete er am Düsseldorfer Burgplatz sein Restaurant Spoerri. Düsseldorf war in jenen Tagen einer der hotspots der künstlerischen Avantgarde, und mit Günther Uecker, Joseph Beuys und anderen gingen Persönlichkeiten in dem Lokal ein und aus, die in einem »künstlerischen Experimentierlabor mit künstlerischem Ambiente eine Gegenwelt zur Zünftigkeit der Düsseldorfer Altstadt suchten«.3 Es soll in dem avantgardistischen Restaurant so extravagante Gerichte wie Pythonschnitzel, Schlangenragout, Löwensteak, Hahnenkämme mit Trüffeln und Elefantenrüsselschnitzel gegeben haben.4 Die Gäste lockte Spoerri allerdings mit Trivialerem: einem Steakteller, der von so ausgezeichneter Qualität gewesen sein soll, dass er auch deren Verächter für einen Abend mit der zeitgenössischen Kunst und der eat art versöhnte. Auch das Bedürfnis nach geistiger Nahrung wurde übrigens im Restaurant Spoerri befriedigt: Es gab eine exquisite Kochbuchsammlung. Spoerri hielt daneben auch eine richtige Bibliothek mit Lexika und Wörterbüchern für nötig, »weil man sich ja immer im Restaurant über Dinge streitet, über die man nicht Bescheid weiß – und so wäre es einfach nachzuschlagen«.5
Spoerris Düsseldorfer Restaurant war nicht das erste, das Literatur, Kunst und Essen zusammenführte. Schon 1930 veröffentlichte der italienische Schriftsteller Filippo Tommaso Marinetti in der Turiner Gazzetta del Popolo den Manifesto della cucina futurista, das »Manifest der futuristischen Küche«: »Marinetti wollte Leben und Kunst zusammenführen: Essen wird Kunst, und Kunstwerke werden gegessen«.6 Der Programmschrift folgte die Verwirklichung: Am 8. März 1931 öffnete in Turin das Lokal Santopalanto, die »Taverne zum Heiligen Gaumen«. Die Speisekarte wurde regiert von Experiment und Originalität, von harmonischen Dekorationen und synästhetischen Erlebnissen. Sämtliche Gerichte auf der Speisekarte waren wie Kunstwerke signiert von ihrem jeweiligen Erfinder. Auch die Benennungen der Esskreationen wiesen, getreu dem Motto des Futurismus, weit in die Zukunft: »Polygetränke« und »Simultanspeisen« erinnern schon dem Namen nach an die molekulare Küche des spanischen Kochs Ferran Adrià. Wen wundert’s, dass der Spanier eine Einladung zur documenta 12 erhielt: Als Künstler, nicht als Koch. Die futuristische Küche hat sich in Italien nicht durchgesetzt, was auch damit zu tun haben kann, dass die Futuristen das italienische Hauptnahrungsmittel abschaffen wollten. Ihrer Meinung nach war die Pasta für Lethargie und Pessimismus in der Bevölkerung verantwortlich. Die geistige Nähe der Futuristen zu Militarismus und Männlichkeitskult war für die Durchsetzung der futuristischen Küche auch nicht gerade hilfreich: In Italien kocht schließlich immer noch die Mamma …
Wer heute noch eine eat art-Lokalität besuchen möchte, muss sich ins Schweizer Wallis begeben. Im mondänen Bergdorf Zermatt wandelt der Aktions- und Lebenskünstler Heinz Julen auf den Spuren der Bewegung. Der Künstler hat schon Öldosen vom Matterhorn heruntergeworfen, um sie anschließend als verbeulte readymades an die Wand zu hängen, und wollte allen Ernstes einen eigenen Viertausender bauen, weil ihm die 29 Bergriesen, die sein Heimatdorf umstellen, noch nicht reichten. Julen, Spross einer Hoteliersfamilie, fällt durch immer neue Gründungen von Künstlerhotels und -restaurants auf, in denen er zwischen von ihm selbst gestalteten Möbeln Kunst und Kulinarik in Beziehung setzt. Gespeist wird – der mondänen Klientel verpflichtet – asiatische und Schweizer Trendkost. Aber Wände und Interieur besitzen das Prädikat »künstlerisch wertvoll« und hier und da entdeckt man auch Objekte von Julens Vorbildern Spoerri und Roth.
Über die eat art schaffte es der Wurm nicht nur metaphorisch, sondern sogar leibhaftig in die Kunst: Als seit den 1960er Jahren bildende Künstler wie Beuys, Spoerri und Roth Brot und Schokolade, Gewürze und Zitronenscheiben als Material einsetzten, machten sie Kunst und Museen auf eine sehr doppelbödige Art lebendig. Die Essensreste, die Spoerri auf hochkant an die Wand genagelten Tischen konservierte, die »Fallenbilder«, sollten auch die Geschichte ihres Ver-Falls erzählen. Doch wo Verfall ist, da sind die Würmer nicht weit, und die Museen moderner und zeitgenössischer Kunst hatten plötzlich denkbar unliebsamen Besuch und mit Insektenbefall zu kämpfen. Für den eat art-Pionier Daniel Spoerri passt das ins Bild: »Die Eat Art stellt vielleicht nur Fragen, ist also unendlich neugierig und deshalb auch aufs Neue gierig, interessiert sich daher auch für alles, was essbar ist oder nur scheint, sowohl für Würmer, Insekten als auch Quellstoffe, die Sattheit vortäuschen, also nur gastronomische Placebos sind«.7