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Zwei Lesarten Kierkegaards – ein kurzer Rückblick auf die Rezeptionsgeschichte

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Nun mag der Eindruck entstanden sein, als ob wir ohne Vorbedingung wählen könnten, wie wir uns Kierkegaards Werk nähern. Das ist jedoch nicht der Fall, weil wir nicht die Ersten sind, die seine Texte lesen. Unser Zugang zu ihnen erfolgt auf dem Hintergrund einer verzweigten Rezeptionsgeschichte, in der sich im Wesentlichen zwei Ansätze der Interpretation |31| herausgebildet haben. Beide wirken bei der Lektüre gewissermaßen wie Lesebrillen, und je nachdem, welche Brille wir aufsetzen, werden wir Kierkegaard in einem bestimmten Licht sehen und ihn als Autor so oder so auffassen. Deshalb kann die Übersicht über das Gesamtwerk nicht ohne einen kurzen Rückblick auf seine philosophische und theologische Rezeption in den vergangenen Jahrzehnten auskommen.24

Nach dem ersten Ansatz liest man seine Texte als Dokumente eines subjektiven Denkens oder einer subjektiven Wahrnehmung des Menschen. Diese bis heute weit verbreitete Lesart wird von Sozialphilosophen und liberalen Theologen vertreten. Sie fasst Kierkegaard als Exponenten einer »weltlosen Innerlichkeit« (Th. W. Adorno) und einer monadischen Subjektivität (E. Levinas) bzw. als Fürsprecher eines radikal religiösen Individualismus und eines persönlichen Christentums, das sich von der Kirche als sozialer Institution und Organisation abgelöst hat (H. L. Martensen, E. Troeltsch, E. Hirsch).

Für den zweiten Interpretationsansatz sind Kierkegaards Texte als Mitteilungen eines intersubjektiven Denkens oder einer intersubjektiven Wahrnehmung des Menschen zu lesen. Diese Lesart hat sich inzwischen bei maßgebenden Kierkegaard-Interpreten sowohl in der Philosophie (M. Theunissen) wie in der Theologie (G. Pattison, A. Grøn, H. Deuser) durchgesetzt; sie wurde aber in Deutschland bisher nur unzureichend zur Kenntnis genommen. So erscheint Kierkegaard hierzulande immer noch oft als weltfremder eigensinniger Individualist, der für ein Christwerden des Einzelnen ohne Kirche eintritt – ein Zerrbild, das den unbefangenen Zugang zu seinem Werk verstellt. Liest man indessen seine Schriften und Reden als Zeugnisse intersubjektiven Denkens, erschließt sich die Eigenart seines Denk- und Redestils. Sie ist darin begründet, dass Kierkegaard den Menschen stets in den Relationen Ich – Gott – Du wahrnimmt. Das zwischenmenschliche Verhältnis oder das Verhältnis des einzelnen Menschen zum anderen ist demnach kein unmittelbares, sondern stets ein durch Gott als »Zwischenbestimmung« (mellembestemmelsen) vermitteltes Verhältnis. Ihm kann nur eine doppelt reflektierte, d. h. zugleich auf das Was (den Inhalt) und das Wie (die Aneignung durch den Adressaten) reflektierende Mitteilungsform entsprechen. Diese Form nennt Kierkegaard »indirekte Mitteilung«. Sie lässt dem Adressaten jederzeit die Freiheit, sich so oder so zu ihr zu verhalten. Anders |32| als eine direkte Mitteilung oder Information, die sich auf Sachverhalte bezieht und richtig oder falsch sein kann, ist die indirekte Mitteilung diejenige Mitteilungsform, die bei ethisch-religiösen Fragen erforderlich ist, bei denen es um den Sinn menschlicher Existenz geht. Die indirekte Mitteilung hält, worauf Kierkegaard größten Wert legt, die Subjektivitäten gottesfürchtig auseinander. Sie respektiert, dass jeder Mensch sich als Einzelner zu Gott verhält und es im Verhältnis zum anderen immer zugleich mit Gott zu tun hat, der ihm im anderen als dem Nächsten begegnet.

Zu der eben skizzierten Rezeptionsgeschichte Kierkegaards gehört es nun auch, dass die erbaulichen Reden in Deutschland, ähnlich wie in Dänemark, wenig gelesen werden, während die pseudonymen Schriften seit je bei der Leserschaft größeres Interesse finden. Erst in jüngster Zeit werden die erbaulichen Reden von der theologischen Forschung stärker beachtet (G. Pattison, A. Haizmann). So könnte es sein, dass gerade die Beschäftigung mit ihnen zu einem besseren Verständnis Kierkegaards führt. Denn sein intersubjektiver Denk- und Redestil zeigt sich besonders an den Reden, die von vornherein auf die selbsttätige Rolle des Lesers setzen und ihr die Subjektivität des Autors konzeptionell unterordnen.

Das Wagnis, ein Einzelner zu sein

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