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MELDEZETTEL DER KINDHEIT

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Breitenseer Budl-Busen und Zorro, der Rächer der Würstelmänner

Die Poesie der Wiener Vorstadt, die Exotik vor der Haustür, prägt das Werk H. C. Artmanns. Der Meister des Fantastischen und Surrealen, der ständig in fernen Ländern und fremden Sprachen unterwegs ist, vergisst den Meldezettel seiner Kindheit, den Heimatschein seiner Jugend, nie. Breitensee lebt fort. In den Genre-Szenen aus der Vorstadt, den unsentimentalen, skurrilen Skizzen wienerischen Alltags, die an das literarische Raritätenkabinett des Fritz von Herzmanovsky-Orlando oder Heimito von Doderer erinnern.

Auch Artmanns Typen, seine Helden der Peripherie, lassen barocken Humor und surrealistische Züge erkennen. Artmann entwirft Bilder, die auch von Manfred Deix stammen oder in Elizabeth T. Spiras ORF-„Alltagsgeschichten“ vorkommen könnten. Bei Artmann sind es lebensnahe Beobachtungen, die sich in ausgefeilter Sprachkunst wiederfinden. Er hält die Typen des alten, urtümlichen Wiens für immer lebendig, weil er über sie schreibt. Er beobachtet sie genau und reichert sie voll ausschweifender Fantasie zu einem Kaleidoskop von Wiener Typen an.

Wie in den 1983 erschienenen Skizzen „Im Schatten der Burenwurst“: Er berichtet von Zorro, dem Rächer der Würstelmänner, der in einer lauen Vollmondnacht einem nadelgestreiften Kunden mit der Senfspritze ein großes gelbes Z auf das feine Tuch applizierte, nachdem dieser meinte, „die Burenwurscht da is vom Gigara, do loß i mi eineschtechn, waun des Heidl ned zu hundat Prozent vom Roßfleischhocka schdaumt!“

Es sind stimmungsvolle Genrebilder einer bunten, lebendigen Welt der Vorstadt. Wie die Geschichte von der Klofrau Aloisia Pischinger, die am Spirituskocher an ihrem Arbeitsplatz, im Pissoir, Rindsnierndln kocht. Oder der Schrebergärtner, der raren Rossknödeln nachjagt, oder Herr Doleschal von vis-à-vis, der die „dopötn Schligawitz liebevoll „Liptauer“ nennt, der Doctor phil., der seiner Tochter das Tragen von Hosen verbietet.

Und die Frau Amtsrat Reißfleisch, die ihr geräumiges Gassenkabinett an ausländische Studenten vermietet – aber nur an „Ameriganer“: „Nur keine dunkelhäutigen Herren. Das wäre besonders peinlich vor den Nachbarn. Vielleicht wären auch Kannibalen und Mädchenhändler unter ihnen, wie man ja nur zu häufig im Lesezirkel erfahren kann …“ Reißfleischs Freundin, Frau Adele, weiß beim Mohnstrudl Bescheid: „Die Ameriganer sein die solidesten und Geld haben tuns auch. Auf keinen Fall darfst du dir einen Arawer, Perser oder gar ein Dürken nehmen. Die haben uns schon viermal belagert …“

Oder die Geschichte von der verzweifelten Lydia, die „in der Opernpassage, im Volksmund auch ‚Jonaschgrottn‘ genannt, ihren geliebten Mohammed sucht“. Und vom älteren Herrn Morawetz, der sich auf der Suche nach ewiger Jugend ein „Moperl“ zulegt: „Ma muaß, wun ma med an Moped in de freie Natua aussebledad, desshoeb no laung ka Hoebschdoaka sei.“

Oder die Kaninchenbeschälerin, die in der Erzählung „Grunzbojar im Musenhain“ mit den Kolleginnen am Arbeitsplatz einen kollektiven Orgasmus erlebt: „sie verdreht die augen wie eine sodomierte nonne“. Oder Herr Alois Schaffranek, der Woche für Woche – nachdem er sich mit dem „Philishave“ rasiert hat – beim geliebten Häferl Milchkaffee Liebesbriefe schreibt.

Oder die Frau Marous, die Hans Carl seit seiner Schulzeit kennt. In ihre Tee- und Likörstube ist er später gerne um einen doppelten Korn gekommen – für den rauhen Hals. Seit eh und je steht Franciska Marous „… wie eine schöne, 60-jährige, kupfergesichtige Sonne vor den Wunderregalen. Hinter ihr stehen die frischgewaschenen Stamperl wie ausgerichtete Soldaten. Und es schillert in allen Farben eines gewaltigen Rausches … fichtennadelgrün, waschblaublau, griotterot, kaiserbirngelb, sliwowitzblond … in znaimerisch großen Gurkengläsern lauert der Angesetzte, Nussstückerln und Tannensprösslinge schwimmen wie ein sommerfauler Fisch an einem heißen Augusttag, der im Aquarium der Frau Tant’ seine Mittagspause hält. Auf der Budel stehen griffbereit der wohlfeile Korn und eisklarer Kümmel, nicht weitab davon träumt eine Flasche Kranawetten-Schnaps, den einfachere Menschen gewöhnlich Gin titulieren …“

Und schon knapp nach der ersten Straßenbahn kann man hier die Stammgäste am Busen der Budel von Franciska Marous stehen sehen: „Anrainende Pfründner, schläfrige Nachtwächter und der Herr Polier“, der hier seine wichtigsten Direktiven ausgab. Immer nach dem fünften Achterl Negus rief er von der Schwelle der Frau Marous fröhlich seinen Mitarbeitern zu: ‚Kumts eina, meine Herrn, heit schreim mar an Regndog; es seids meine Gäst!‘“

Und man darf ein liebenswertes Original, einen alten Freund Artmanns, nicht vergessen: den Lebenskünstler Peperl Novák, der als Herr Bobby von Breitensee für Furore sorgte. Es war im Sommer 1935, Hans Carl und seine Freunde trugen bereits pflaumenblaue Homburgs und rauchten Zigaretten mit bunten Mundstücken, „… da wir bereits vierzehn waren“. Zu dieser Zeit änderte einer dieser Freunde, Peperl Novák, seinen Namen in Bobby Grey, gab sich für sein Alter schon ziemlich weltmännisch und begann als Assistent bei einem Detektiv zu arbeiten. Das Vorstadt-Detektivunternehmen ging nach kurzer Zeit ein, Mister Grey aus Breitensee musste seinen Beruf wechseln. Er nahm Stepp-Unterricht, fand eine entzückende Partnerin – „und nicht lange darauf besaß Wien seinen eigenen Fred Astaire. Dieserart verlor ich meinen Freund, den späteren großen Grey, aus den Augen“, berichtet Artmann. Bobby gastierte in Lodz und Monte Carlo, Podersdorf, Leitmeritz oder Lausanne, „entschwand meinen Augen wie ein prächtiger Luftballon“.

Als Artmann nach dem Krieg wieder in Wien war, traf er Freund Bobby mit einem Kinderwagen voller Eschenholz. „Was ich in d’ Hand nimm, wird Gold“, meinte er. „Da hab i ma jetzt a zehn Jahr altes Holz verschafft, leicht wie Bettfedern. I hab a ganz spezielle Erfindung. Etwas, was no nie da war! I bau’ mir jetzt beim Dworschak hinten in der Werkstatt ein paar Stelzen und geh damit auf Tournee. A neue Partnerin hab ich auch wieder, die alte is’ mir schon z’ alt. Nächste Woche kannst uns im Franzosen-Kino in der Breitenseer Kaserne sehn.“

Und er reichte Freund Artmann seine Karte:

BOBBY GREY & LILLIAN Step- & Tricktanz auf Stelzen

Bobby und Lillian eilten auf ihren Stelzen von Triumph zu Triumph, ihr Ansehen stieg von Tanz zu Tanz. Und wieder einmal verlor Artmann seinen Freund aus den Augen. Bis eines Tages ein mächtiger Straßenkreuzer neben ihm hielt: „Ich drehte mich um, weil ich dachte, vielleicht ist’s irgend so ein Filmproduzent, der mich engagieren und meinem Elend sozusagen entreißen möchte. Aber weit gefehlt! Es war Bobby! Fröhlich erklang die liebe, alte Stimme aus dem Inneren der Luxuslimousine: ‚Servus, Hansi, alte Hütten, geh nur net so arrogant vorbei!‘ – ‚Sakramentnoamal‘, entfuhr es mir, ‚wann ich in meiner verpfuschten Jugend doch nur steppen gelernt hätt’, zumal noch auf Stelzen, dann fahrert ich jetzt auch mit so an Wagerl wie du!‘ ‚Wer sagt dir denn, dass ich noch tanzen tu‘, meinte gut gelaunt Bobby Grey. ‚Ich bin vor drei Jahren in die Industrie eingestiegen, Krampfadern und Stepptanz sind feindliche Brüder, weißt.‘ Bobby reichte mir seine büttenpapierne Karte:

JOSEPH E. NOWACK Generalvertreter Stöttinger Ges.m.b.H Büromaschinen

‚Wann’s du einmal eine Vervielfältigungsmaschine für deine Gedichter brauchst, dann ruf mich an. Bei mir kriegst sie um 25 Prozent billiger, weil’s d’ ein alter Freund bist. Und ich hab halt immer noch ein Herz für d’ Kunst.‘“

H. C. Artmann - Bohemien und Bürgerschreck

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