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WER SIND WIR?

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Rosa Artmann im Gespräch mit Michael Horowitz, 15. Dezember 2020

Michael Horowitz: H. C. beschreibt seine literarische Figur John Hamilton Bancroft als einen „gut aussehenden Gentleman, unabhängig und wagemutig“, sah er sich auch so?

Rosa Artmann: Auch, aber nicht nur, je nach Stimmung … das hing von der Lebensphase ab, in der er sich befand. Jedenfalls war es ein Bild, das ihm gefallen hat.

Was war die wagemutigste Zeit in seinem Leben?

Er war Deserteur im Krieg. Das unerklärliche Phänomen, wer überleben darf und wer nicht, war ihm immer bewusst – da hat er wahrscheinlich auch mit weißer Magie begonnen. Und sich gefragt, warum gerade er auserwählt war, zu überleben.

Wie schafft man jahrzehntelang den Alltag mit so einem Mann – auch bei Dichtern gibt es ja einen Alltag …

Alltag mit einem Dichter ist Alltag mit einem Menschen.

H. C. war ein Dichter, für den „die Sprache eine erogene Zone ist“, ein leidenschaftlicher Mensch … wie würdest du ihn beschreiben?

Wie ortet man einen Dichter? Er stellte sich die Frage „Wer sind wir?“ Erst über Sprache existiert die Welt für den, der sie benützt, und wie er sie verwendet. Er war sprachbesessen, wie ich es auch bin. Doch weil Sprache vielfältig ist und viele Ebenen hat, gibt es verschiedene Sprachbesessenheiten. Das war eine gegenseitige Herausforderung und Begrenzung.

Hat H. C. dich zum Schreiben gebracht?

Ich weiß es nicht. Vielleicht hat er meine Sehnsucht für mich gelebt, bevor ich zu schreiben begonnen habe. Ob das ein Erklärungsmuster ist, weiß ich ebenso nicht.

Es gab so manche „Muse“ während seiner Wanderjahre im Ausland, du warst sein Anker. Kann man das so sagen?

Muse? Anker? Diese Begriffe verwende ich nicht. Wir haben die Ehe auf unsere Weise gelebt. Unsere Verbindung war unverbrüchlich, ein seelisches und herzgemäßes Erkennen. Zwei Schicksale, die wir mit unserer geliebten Tochter Emily gelebt haben.

H. C. Artmann hat 1974 den Großen Österreichischen Staatspreis, 1997 den Büchner-Preis bekommen und ist in Salzburg zum 70. Geburtstag zum Ehrendoktor ernannt worden. Sind die Auszeichnungen zu spät gekommen?

Besser spät als nie.

Wie habt ihr euch kennengelernt, was war dein erster Eindruck von H. C.?

Ich habe ihn das erste Mal im Gasthaus „Lückl“ in der Leonhardstraße in Graz gesehen. Das war 1972. Ich habe ihn als H. C. Artmann erkannt, weil wir im Gymnasium „med ana schwoazzn dintn“ gelesen hatten. Das war die erste Begegnung.

Hat er auf dich anziehend gewirkt?

Anziehend fand ich ihn, als ich ihm Monate später im „Walfisch“ am Berliner Savignyplatz begegnet bin. Ich habe damals in Berlin gelebt und Gerald Bisinger gekannt, der an jenem Abend H. C. treffen wollte und mich gefragt hatte, ob ich mitkommen will.

Wenn man heute Menschen fragt, womit H. C. Artmann berühmt wurde, werden die meisten sagen: „med ana schwoazzn dintn“.

Damit ist er in Wien berühmt geworden. Dass die „dintn“ so eingeschlagen hat, lag daran, dass Dialekt nach dem Krieg verpönt war … Dialekt steht ja soziologisch eigentlich immer für Armut. Dialekt hat nur der sogenannte niedere Stand gesprochen, für das Bürgertum und die Aristokratie war er meistens tabu. Er selbst ist ja auch nach dem Krieg äußerst arm gewesen. Die „dintn“ war ein Experiment, wie man Dialekt literarisieren kann, in einer Form, dass sich das sogenannte Volk darin emotional erkennt. Wien eignet sich mit seiner barocken Tradition, seiner Melancholie und seiner Todessehnsucht dafür. Das Wienerische hat Metaphern, die man in die sogenannte Hochsprache nicht annähernd übersetzen kann. Und das Volk lebt Literatur in seinen Metaphern. Das Volk. Die Menschen. Gespräche ergeben immer wieder neue literarische Formen, die dann ein Berufener auch in ein Gedicht transformieren kann.

Wurde er nicht auch oft missverstanden oder falsch interpretiert?

Ja. Er hat gesagt: „Ich bin immer nur das Gefäß.“ Und dieses „Ich“ war für ihn alles andere als narzisstisch oder für seine Person als Funktion in der Gesellschaft gedacht. Überhaupt nicht. Oft wurde er missverstanden. In jeder Gesellschaft wird Bescheidenheit, vor allem bei Hab und Gut, missinterpretiert. In verschiedensten Rollen hat er Spiegelbilder der Gesellschaft vorgelebt, die aufzeigen sollten, welche Funktionen wir in der Gesellschaft einnehmen. Das war sein gelebtes politisches Manifest. Er war ein Menschenliebender und hat versucht, Hierarchien nicht nur zu unterwandern, sondern sie auch aufzuzeigen. Auch in seiner Literatur – eine Interpretation von mir …

… aber mit der wäre er einverstanden, nehme ich an …

Ich glaube, dass ihm meine Interpretation entsprochen hat – zwar nicht hundertprozentig, doch bin ich mir sicher, dass er sich in seinen Intentionen von mir verstanden erlebt hat.

Er ist vor 20 Jahren gestorben, wie hat sich der Stellenwert seines Werkes aus heutiger Sicht verschoben, verändert?

Literatur hat momentan einen geringeren Stellenwert, Werte verändern sich immer. Die Welt von heute ist durchfunktionalisierter denn je. Seine Anschauung war: Ich bin Geist und habe einen Körper.

Er war ein Verwandlungskünstler, der ein Leben lang versuchte, seine Biografie zu verschleiern – hat er sich hinter den Masken und Synonymen von der Außenwelt abschirmen wollen?

Nein. Er hat zeigen wollen, welche Masken wir tragen – sobald wir in Gesellschaft öffentlich werden. Das hat er vorgezeigt. Ich glaube, das ist ein großes Missverständnis, er wäre immer in Maske gewesen und sich nie gezeigt hat. Im Gegenteil, ich sage, er hat es gewagt, seine Fehlerhaftigkeit zu zeigen. Er hat kein Bild des Perfekten vorgespielt. Wann ist etwas Maskerade?

Wie würde er heute leben?

Still, über das Alter verändert. Und wäre wahrscheinlich betrübt, was heutzutage vermeintlich Freude macht und das Lebendige zu ersticken droht.

Wie würde er seinen 100. Geburtstag feiern?

Wie immer. Man sitzt, spricht und trinkt. Er wäre froh und traurig zugleich, weil er das Leben sehr schätzte, auch wenn er immer wieder betont hat, wie schwer es ist, zu altern. Über seine Krankheit hat er wenig gesprochen, seine Gebrechlichkeit war für ihn kein Thema. Würdevoll elegant hat er sie angenommen.

Was sind deine schönsten Erinnerungen an ihn?

Kann und will ich nicht sagen. Das Schöne liegt ja im Alltag. Meine schönste Erinnerung an ihn? Er fehlt, und nicht nur mir.

Oft war er schlaflos, hatte immer wieder Albträume von Krieg, Flucht und Überleben … Wie sehr hat das seine Arbeit beeinflusst?

Ja, er hat sehr wenig darüber gesprochen. Er hat die Menschen mit seiner Melancholie äußerst wenig belastet. Es ist in der Literatur auch nicht psychologisch bearbeitet worden, sondern eher archetypisch im kollektiven Unbewussten. Für ihn war das Wichtigste – und sein einziges explizit geschriebenes politisches Manifest: „Nie wieder Krieg!“ Er wäre entsetzt, wie viele Kriege es heute immer noch gibt. Krieg ist das Unzivilisierteste überhaupt. „Warum lesen die Menschen nicht mehr, sondern erschießen andere?“

Er hat einmal gesagt, er habe pro Zeile eine Zigarette geraucht … immerhin ist er 79 Jahre alt geworden. War es leicht für ihn, sich vom Leben zu verabschieden?

Das weiß ich nicht, das sind immer Prozesse. Ich habe seinen nahenden Tod verdrängt und wollte ihn nicht wahrhaben, ich glaube, er hat sein Ende erspürt, aber ich weiß nicht, wie schwer er das Leben verlassen hat. Das ist seine Erlebniswelt, die kann man mit niemandem teilen. Ich war allein mit ihm, als er in die andere Dimension getreten ist. Es war tiefernst und es entstand eine andere Form der Schönheit. Das Ende kann auch eine Form der Schönheit entwickeln. Wie Adolf Muschg einmal erklärt hat: „Das Großartige in der Literatur ist, wenn man zum Beispiel Dostojewski liest, dass selbst in der schlimmsten Thematik eine Schönheit darin liegt, dies zu lesen.“

H. C. Artmann - Bohemien und Bürgerschreck

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