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VIRTUOSER SCHRIFTSTELLER UND FANTASIEVOLLER SPRACHSPIELER

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ohne ende seine stolze feuerkunst möge verzaubern

Friederike Mayröcker

H. C. Artmann. Die Sprache ist für den „empfindsamen Lauscher an Nachtigallenschnäbeln“ eine erogene Zone. Wörter seien eine „magnetische masse, die gegenseitig nach regeln anziehend wirkt; sie sind gleichsam ‚sexuell‘, sie zeugen miteinander, sie treiben unzucht miteinander“.

Über den Dialekt bringt der Dichter die Menschen zur Poesie. Der Bonvivant und Bürgerschreck aus Breitensee ist ein liebenswerter Rebell. Ein virtuoser Sprachspieler. Ein literarischer Globetrotter. Ein Mensch mit der Neugier eines Kindes. Angetrieben von zügellosem Wissensdrang und grenzenloser Fantasie lässt er die Realität oft hinter sich.

Im Sommer 1921 kommt Hans Carl im 14. Hieb zur Welt. Seine Mutter Marie kocht wunderbar. Vor allem das „einzig original spezial-erdäpfelgulasch der familie artmann“. Danach türmt sich ein „matterhorn aus häferln und tellern auf dem kuchltisch pres-to-omo-sil-glänzend“.

Der später als H. C. Artmann gefeierte schillernde Schriftsteller wächst in einem winzigen Kabinett mit Fenster auf die Gasse auf. Zwischen Breitenseer Bassena, tristem Alltag und der Poesie der Wiener Vorstadt. Sein Vater ist Schuster. Er stellt sogar Schischuhe her, wie der Sohn stolz meint, dennoch hätte er ihn gerne als Seemann erlebt. Voller Sehnsucht beschreibt Artmann später die Abenteuer in fiktiven, weit entfernten Kontinenten.

Volksschule. Hauptschule B-Zug. Bereits als Vierzehnjähriger beginnt er mit außergewöhnlichem Sprachgefühl wie besessen zu lesen, erlernt durch Selbststudium viele Sprachen. Nach der Schule arbeitet Hans Carl als Lehrling in einer „Chinasilber-Erzeugung“ in Wien-Neubau. Der Chef, der Herr Freisinger, ist nie da, der Lehrbub kann den ganzen Tag lesen. Nur jeden Abend muss er die Post und die Buchhaltung ins Café Tuchlauben bringen, dort tarockiert der Herr des Silbers.

Zweiter Weltkrieg. Oberschenkel-Durchschuss an der Ostfront. 52-prozentige Invalidität. Neun Monate ist Artmann im Lazarett, danach zweieinhalb Jahre in einer Strafkolonie. In Sibirien, Finnland, zum Schluss in Frankreich. Seine permanenten Fluchtversuche werden vereitelt. Schließlich gelingt die Desertation. Er lernt im Krieg mit der Gefahr zu leben. Noch viele Jahre danach hilft das 10er-Valium nicht mehr. Er träumt immer das Gleiche. Von Krieg, Flucht und Überleben.

Am 14. April 1945 verfasst der 24-Jährige sein erstes Gedicht, eine Liebesballade „nach chinesischem und japanischem Vorbild“: Unter Blütenbäumen, geschrieben in Hollabrunn. Der 24-Jährige widmet es der Tochter eines Müllers, einer Unschuld vom Lande. Jahrzehnte nach dem ersten literarischen Versuch schwärmt der Literaturkritiker Jörg Drews von der Sinnlichkeit seiner Sprache: „Artmanns Dichtung ruft höchste Lust am Text hervor: Die Erotik überträgt sich gewissermaßen.“

Nach 1945 verdient Artmann in Wien während der Besatzungszeit als Postbote ein paar Schilling pro Woche. Abends schreibt er auf einer Maschine, die ihm seine Mutter gekauft hat, Gedichte. Und schickt sie an Radio Wien. Drei davon werden 1947 gesendet. Das Funkhaus der RAVAG liegt in der russischen Zone. Man will mit Schulfunk- und Wissenschaftssendungen vor allem Bildung vermitteln. Ein Auszug aus dem Programm: „Ein Bild fliegt durch den Äther – das Wunder des radioelektrischen Fernsehens“, „Wie das Radium nach Wien zurückkam“, „Mit Atomkraft zum Mond“, „Schildkrötenfang im Atlantik“ oder „Leo Slezak, der Künstler und Lebenskünstler“.

Das autodidaktische Sprachstudium des Kriegsheimkehrers reicht aus, um als Dolmetscher bei der amerikanischen Militärpolizei zu arbeiten. Später übersetzt er aus dem Englischen Nonsens-Verse von Edward Lear und den viktorianischen Kinderroman „Junge Gäste“ des neunjährigen Mädchens Daisy Ashford, aus dem Irischen religiöse Dichtungen der Kelten, aus dem Schwedischen die „Lappländische Reise“ des Naturforschers Carl von Linné. Er überträgt Quevedos „Lebensgeschichte des Buscón“ des frühen 17. Jahrhunderts aus dem Spanischen und das Testament seines französischen Idols François Villon ins Wienerische – von Artmanns Freund Helmut Qualtinger später zu Jazzbegleitung auf einer Schallplatte konserviert.

H. C. Artmann versucht sich im chaotischen Wien der Nachkriegszeit auch als Edel-Statist am Burgtheater. Er darf Faust und Mephisto – von Ewald Balser und Albin Skoda verkörpert – Stichworte geben. Später lockt auch der Film: Eine kurze Szene im Kinoklassiker „Der Dritte Mann“ über den skrupellosen Schwarzhändler Harry Lime. Der Satz: „Was halten Sie von Joyce?“ wird vom ambitionierten Kleindarsteller zu dialektgefärbt gesprochen – und rausgeschnitten. In dieser Lebensphase gibt es jede Nacht exzessive „Kaffeehaus-, Keller- und Kneipenexerzitien“.

1951 wird der Art Club als Treffpunkt der künstlerischen Avantgarde, der Bohemiens von Wien, gegründet: Savoir-vivre im Souterrain. Man „lebt auf kleinstem Raum bestens aneinander vorbei“. Gerne tritt auch ein schlanker, soignierter Herr nachts hier auf. Was er tagsüber macht, weiß niemand. Irgendwann sickert durch, der Mann sei Dichter.

1953 verkündet dieser die „acht-punkte-proklamation des poetischen actes“. Als Protest gegen das „konventionelle, anonyme, normative“ initiiert H. C. Artmann eine „poetische demonstration“. Die Teilnehmer mit weißgeschminkten Gesichtern deklamieren, begleitet von Lampionträgern, Texte von Baudelaire, Poe und Trakl. Und verursachen ein Verkehrschaos in der Wiener Innenstadt.

Um den fantasievollen Sprachspieler hat sich schon ein Jahr zuvor die „Wiener Gruppe“ formiert, ein Kreis experimenteller Schriftsteller wie Konrad Bayer, Gerhard Rühm, Friedrich Achleitner und Oswald Wiener. Aus verschiedensten künstlerischen Sphären stammend, sind sie sich in der Zersplitterung und Neuordnung der literarischen Form einig, wollen Kunst und Leben verbinden. Mithilfe von radikalen Aktionen, Lautpoesie und visueller Lyrik.

In Artmann-Texten aus der Zeit der „Wiener Gruppe“ findet man 1956 erlesene Anmerkungen wie „ein erzherzog darf kein hühnerauge haben“, „ein lotterleben mit derwischen und baupolieren verbieten“ oder „einen sicheren posten aufgeben, um einer innsbruckerin aus dem hemd zu helfen“.

Zwei Jahre danach erscheinen die Dialektgedichte „med ana schwoazzn dintn“. Poesie pur. Artmanns erster Erfolg. Der Band mit den Balladen aus der Vorstadt wird zur literarischen Sensation Wiens, H. C. zum populären Volksdichter. Man spricht in der Tramway über ihn. Und kulturaffine Bürger laden ihn zu sich nach Hause ein. Obwohl seine Sprache ja aus der Gosse stammt …

Der dichta aus bradnsee erhält erstmals Honorare. Jeden Ersten 4000 Schilling – „am 10. hatte ich nur mehr 400, mit denen musste ich mich bis zum Monatsende durchg’ fretten …“ Und der plötzlich berühmt gewordene Bürgerschreck aus Breitensee bekommt eine Gemeindewohnung zugewiesen. Doch bereits nach einiger Zeit folgt die Delogierung – wegen permanenter nächtlicher Ruhestörung und massivem Mietrückstand.

Die schulterklopfende Anerkennung ufert aus. Es wird zu eng in Wien. Als Dialektdichter hier zu leben, wird immer belastender. Mit einer schwedischen Studentin flüchtet H. C. nach Stockholm. Später findet er in Berlin Asyl. Überall begleitet ihn seine „Olympia“-Reiseschreibmaschine. Manchmal auch eine Muse. Nach diesen wilden Zeiten reist der ruhe- und rastlose kuppler und zuhälter von worten durch ganz Europa. Befindet er sich gerade in Grönland, in Schottland oder in den Niederlanden? Für Elfriede Jelinek ist er ein „Gentleman mit einem Reisekoffer, ein Anarchist, garantiert wieder einmal mit Tausenden von nackten, wispernden Eskimomädchen unterwegs, die aus ihren Körpern Lieder bilden.“

Der Abenteurer Artmann lässt in seinen Büchern Figuren aus fremden Ländern, Lemuren, Vampire und Werwölfe auferstehen. Batman und Robin, Donald Duck und Robinson Crusoe. Seine Fantasie scheint grenzenlos. Wenn der chinesische Schurke Dr. Phoo Manchu brüllt, klingt das so: „Tsen wei wui ting örh bo ming hui!“ und auch die Sprache der blauen Wilden von Carpentaria in Nordaustralien beherrscht der sprachkundige Autor: „Oarrngh mmmflullwp ahrkpp nnnschnl!“

In „Nachrichten aus Nord und Süd“ schreibt er 1978: „Bitte bitte sagt mir doch, wer ich bin, damit ich mich wenigstens in Zukunft danach richten kann.“ Irgendwann findet er in einem kleinen Haus am Ende einer Allee mit schlanken, schönen Birken in Salzburg-Moos Ruhe. Zwischen Föhn- und Lodeneskapaden, aber Artmann genießt es, dass Hasen am frühen Morgen bis an sein Küchenfenster hoppeln. Hier lebt er mit seiner Frau, der Schriftstellerin Rosa Pock, die drei Jahrzehnte verlässlich an seiner Seite bleibt, und Tochter Emily Griseldis.

Der Poet aus Österreich wird längst auch international gewürdigt. Im deutschen Feuilleton schreibt Kritiker-Legende Gerhard Stadelmaier über den Wiener mit den größten lyrischen Kopfwelten: „Der Dichter als Erzieher. Zieht sich Masken übern Kopf. Und legt reimweise die Kinder, die in seinen Lesern stecken, übers Schreckensknie … H. C. (Hans Carl) Artmann, gelernter Schuhmacher und gewordener Poet, Wörtergerber und Dichtungsvernäher, Surrealitätsreimspieler und Fantasieraumvermesser, der kleingeschrieben die größten lyrischen Kopfwelten med ana schwoazzn dintn hintuschte.“

An seinem 60. Geburtstag wird ausgiebig gefeiert. In Berlin. Sechs Verflossene sind da. 60 Rosensträuße mit 60 Rosen. 60 Flaschen Champagner. Und 600 Flaschen Chianti. Zum 70. Geburtstag erhält der inzwischen vielfach ausgezeichnete Dichter aus Breitensee das Ehrendoktorat der Universität Salzburg: „Dr. h.c. H. C. Artmann“. Wie das klingt, das gefällt ihm.

Der Platz vor dem Salzburger Literaturhaus wird nach ihm benannt. Einem Rebellen im Ruhestand. Zu viele Jahre hat er pro Zeile eine Zigarette geraucht. Der Enthusiast, als der er auch immer wesentlich Jüngere mitgerissen hat, ist müde geworden. Er blickt zurück, erschöpft von einem Leben aus Euphorie und Einsamkeit, Tatendrang und Traurigkeit, barocken Allüren und tiefer Melancholie. Auf Erfolge und Exzesse, auch auf seine literarische Spurensuche vergessener Barockdichter, die er in sensiblen Übersetzungen zugänglich gemacht hat. Und auch seine „Asterix“-Nachdichtung ins Wienerische, die nicht nur in seiner Heimatstadt Kultstatus erlangt.

H. C. Artmann. Durch die Verbindung von Avantgarde und Volkstümlichkeit setzt er literarische Maßstäbe. Ein Herr mit Grandezza. Ein rastlos Reisender, der real, im Kopf und in der Sprache unterwegs ist. Ein Mann, der mit fünf Frauen fünf Kinder hat, der mit 40 zum ersten Mal heiratet, aber drei Monate später bereits wieder geschieden ist. Und in einem Gedicht schreibt: „ich bin kein jäger kein hasentöter sechzig kinder möchte ich zeugen keine hasen töten“. Das Leben ist ihm nur allzu bekannt. Aber „sein überschwang hatte niemals eine lächerliche note“ wie er selbst attestiert.

Er lässt sich nie blenden, von leuten, die kommen und etwas in einer sprache sagen, die keiner außer ihnen versteht“. Er ist ein Exzentriker und Individualist, ein Schelm und Provokateur. Ein Dichter, der scheinbar ein Leben lang versucht, seine Biografie zu verschleiern, der sich hinter Masken und Synonymen von der Außenwelt abschirmt. Er sieht sich als Husar, Surrealist, „kurfürstlicher sylbenstecher, chinesischer Hofdichter oder empfindsamer Lauscher an Nachtigallenschnäbeln. Er tritt auch als „Artmann Quirin Kuhlmann“, „Metro Goldwyn Artmann“ oder „Artmann of Arabia“ auf.

Lange Zeit fühlte er sich „für einen Philosophen noch zu knusprig. Ich bin ein elastischer Mensch!“ Doch irgendwann ist er müde geworden, vom Leben. Die Zeiten, als sein milchiger Mopedscheinwerfer die Abende erhellte, als ihn die Vision beflügelte, „den Lenker einfach auszulassen und in die untergehende Sonne hineinzurauschen“, sind vorbei. Auch die wilden Berliner Tage, als er beim Twist-Tanzen in Berlin Günter Grass die Mädchen ausspannte, als er grinsend in einem Sarg liegend sein „Dracula“-Buch präsentierte.

„Aus fernen augen hast du uns angesehen“, meint Ernst Jandl, „gluecklich, wessen zeit mit deiner zusammentraf. mit dir, uns allen voran, haben wir in unserer sprach eine neue dichtung gemacht.

Er hat nie vernünftig gelebt. Die Wirklichkeit hat ihn eingeholt. Er leidet an seelischem Rheuma. Während der letzten fünf Jahre lebte H. C. Artmann wieder in Wien, in der Josefstadt. Flügeltüren. Parkettböden. Gediegene Atmosphäre.

In der Nacht von 4. auf 5. Dezember 2000 ist das Herz zu schwach, um weiterzuschlagen. H. C. Artmann stirbt in seiner Wiener Wohnung.

H. C. Artmann - Bohemien und Bürgerschreck

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