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BONVIVANT UND BÜRGERSCHRECK AUS BREITENSEE

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Begegnungen mit einem Menschen voller Tatendrang und Traurigkeit

Ich hatte das Glück, H.C. Artmann zu kennen. Wir arbeiteten gemeinsam an dem Buch „Menschenbilder“. Ich besuchte ihn immer wieder in seinem Haus in Salzburg, in der Wohnung in Wien, wir unternahmen gemeinsame Reisen. Manchmal auch nur spontane Ausflüge in schattige Wirtshausgärten. Oder Expeditionen in kleine Bars. Wir waren auch immer wieder außerhalb Österreichs, in Europa, unterwegs. Wo immer wir hinkamen, stellte mich H. C. als „mein Freund“ vor. Als ich ihn einmal fragte, ob er zur Präsentation meines Helmut-Qualtinger-Buches nach Hamburg mitkomme, fragte er nur: „Wann müss’ ma in Schwechat sein?“ – „Die Maschine geht morgen früh, um 7 Uhr“, „Ich freu’ mich schon …“ Pünktlich um 5.30 Uhr stand er vor seiner Haustür.

Er war ein Freund, der die Frage eines Magazins, was Glück für ihn bedeute, mit dem Satz beantwortete: „…wenn ich um einen Freund Angst gehabt habe und ich dann die Nachricht bekommen habe, dass alles wieder in Ordnung ist.“

H. C. hat sich immer wieder Zeit genommen, um mir aus seinem Leben zu erzählen. Es war zwischen uns vereinbart, dass ich „gegen Mittag, am besten um zwölf“ anrufe. Er würde mir dann sagen, ob wir uns sehen können. Wenn H. C. einen guten Tag hatte, arbeitete er bis zu seinem Ende mit seiner Frau Rosa, die drei Jahrzehnte verlässlich an seiner Seite war. In den letzten Monaten diktierte er ihr aus dem Gedächtnis. Frei, ohne irgendwelche Notizen. So entstanden noch vier Goldoni-Übersetzungen und ein Opernlibretto im Auftrag des Herbert-von-Karajan-Zentrums.

Rosa stammt aus der Südsteiermark. Sie ermöglichte H. C. viele gelebte Wünsche. Es freute ihn, dass sie selbst zu schreiben begann. Und schöne Gedichte veröffentlichte:

karten

was willst du mehr / als diese karten / mischen /

geben / austeilen / mit denen du spielst / mariage /

doppelkopf / solo / sechsundsechzig / oder tod und

leben / woraus du ersehen kannst / welches spiel

gespielt wird / deine dir gegebenen karten / deine

bedingungen / und der verlauf erst absehbar am ende.

Meist kam H. C. selbst ans Telefon und erzählte mir damals vor 20 Jahren, was er erlebt hatte. Nicht mehr allzu viel. Mit der schon dünnen, leisen Stimme sprach er von „seinem einzigen Fenster zur Welt“, dem Fernsehen. Er sei ein Zapper, könne zwischen mehr als 30 Programmen auswählen. Weil er nicht einschlafen könne, sehe er viel fern. Die Nachrichten. Immer. Am liebsten sei ihm Danielle Spera, „weil’s auch fesch ist“. Außerdem kenne er sie noch aus Paris. Und er liebe gute Fußball-Matches. Und deutsche Krimis. „Den ‚Tatort‘ nicht, die reden immer so gespreizt.“ So, jetzt hätte er „großen Gusto auf Gefrorenes oder eine Salami, am besten eine Mailänder …“ Ich solle halt in den nächsten Tagen wieder anrufen – „gegen Mittag, am besten um zwölf …“

Manchmal besuchte ich ihn dann in seiner Josefstädter Wohnung. Sie ist nicht sehr groß, hell und sonnig. Mit wenigen Möbeln und vielen Büchern, Parkettböden und Flügeltüren, fast großbürgerlich. Mit Blick durch die hohen Fenster auf die belebte Josefstädter Straße. Ich stellte ihm Fragen, aber vor allem hörte ich einfach zu, bei dem, was ihm gerade einfiel. Was er mir aus seinem Leben erzählte.

In diesem Buch berichte ich von den Gesprächen, die wir bis kurz vor seinem Ableben geführt haben. Ich habe versucht, Sequenzen seines Lebens zu beschreiben, hauptsächlich aus seiner Wiener Zeit. Ein Leben, das H. C. Artmann voller Würde gelebt hat. Was sicher nicht immer leicht war, denn – wie Alois Brandstätter meint – „Schriftsteller in Österreich zu sein, das ist gerade so wie Strohhuterzeuger in Lappland“.

H. C. Artmann hat mir viel erzählt: Von prägenden Lebensabschnitten, von der Kindheit und Jugend in Breitensee über das Wien der Nachkriegszeit – zwischen Schleichhandel und „poetischen demonstrationen“ – bis zu den frühen Experimenten als literarischer Avantgardist und bis zur Gründung der „Wiener Gruppe“. Von seinem großen, unerwarteten Erfolg mit Dialektgedichten, von den Reisen eines Rastlosen quer durch Europa. Und schließlich von seiner späten Anerkennung.

Zuletzt durfte ich ihn am 1. November 2000, ein paar Wochen vor seinem Ende, besuchen. Er hatte wieder einen guten Tag. Er saß frisch rasiert, aufrecht und elegant im dunkelblauen Pullover und der grauen Flanellhose in seinem Lederfauteuil. Emily, seine Tochter, und seine Nichte Katharina drehten gerade einen Film über ihn.

Mehrere Stunden erzählte er mir später aus seinem Leben. Manchmal von heftigen Hustenanfällen gebremst. Aber der fast 80-jährige, körperlich schwache Schriftsteller ist weiterhin der Enthusiast, als der er auch immer wesentlich Jüngere mitgerissen hat. Ein Verführer, der die Nähe der Jugend suchte und dabei oft jünger als die Jungen war.

Voller Verve erzählte er von all den schrulligen Figuren aus Breitensee. Von all den prägenden Persönlichkeiten der Peripherie, die in seinen Erzählungen immer wieder liebevoll beschrieben wurden. Und er erwähnte wie beiläufig, dass er bei den Frauen ein „Spätstarter war und mit der ersten im zarten Alter von 26 Jahren geschlafen hatte“. Und gleich ein Kind zeugte. Sein erstes. Sohn Patrick. Später sollten noch vier Kinder folgen: Patricia, Manja, Carl Johan Casimir und Emily Griseldis.

„Eigentlich bin ich ein verhältnismäßig treuer Mensch, wenn ich einmal wo gelandet bin, bleib ich picken. Frauen lernt man nur langsam kennen. Richtig versteht man sie erst, wenn man schon wieder auseinander ist. Wenn’s aus ist, glaubt man, das halt ich nicht aus. Später lacht man darüber …“

Artmann erzählte mir von der abenteuerlichen Flucht aus der Kriegsgefangenschaft, dem allerersten Gedicht, das er für ein Bauernmädchen aus Hollabrunn geschrieben hat. Oder von seiner Erinnerung an das Nachkriegs-Wien, von Existenzen zwischen Bangen und Hoffen, von Euphorie und Enttäuschung. Er schlug sich ganz gut durch, arbeitete als Statist im „Etablissement Ronacher“ und als Übersetzer bei den Amerikanern.

Und H. C. Artmann erinnerte sich an das Exil in Berlin, Mitte der 1960er-Jahre. An das Untermietzimmer im dritten Stock in der Kleiststraße 35. In Berlin-Schöneberg, wo John F. Kennedy im Juni 1963 seine berühmte Rede mit dem Satz „Ich bin ein Berliner“ gehalten hat. Am Türtaferl der Wohnung des aus Wien geflohenen Dichters stand „hans carl artmann – 7x läuten“. Immer kamen Freunde auf Besuch. 24 Stunden Open House. Relikte der vielen Partys sind die Bier- und Whisky-Flaschen, überall am Boden verstreut. Und durchaus stolz erzählte er davon, dass er in der Diskothek „Eden-Saloon“ des Berliner Nachtclub-Königs Rolf Eden in der Damaschkestraße im einen Twist-Tanz-Wettbewerb gewann. Und Günter Grass nur Zweiter wurde.

Plötzlich ist Artmann damals im November 2000, wenige Wochen vor seinem Ableben, in seinen Gedanken wieder in Wien gelandet. Im Ottakringer Wirtshaus „Zur blauen Nosn“ in der Johann-Staud-Straße 17. Wir sollten in den nächsten Tagen rausfahren und nachschauen, was in der Vorstadt, vor allem in Breitensee, noch existiert: Die Tee- und Likörstube der Franciska Marous, der Sparverein „D’ Ameisbachler“, die Gaststätte Hapler, wo einmal jährlich hinten im Extrazimmer die Verkaufsausstellung „Das gute Bild für den Normalverbraucher“ mit Stillleben aller Art stattfand.

Und auch die Pawlatschen, wo früher das Ringelspiel, der Watschenmann und das Kasperltheater gestanden sind, sollten wir unbedingt suchen. Oder das kleine Tschocherl und die Greißlerei hinter der Kirche. Und wir sollten schauen, ob vom Chinesenviertel in der Kuefsteingasse noch irgendetwas zu erkennen ist, ob auf der Steinhoferwiese, einem „wahren Paradies der Beinbrüche, verstauchten Kreuze und ausgekegelten Handgelenke“, noch immer so viel los ist.

Und er wollte mir bei unserer Exkursion das Café Smejkal zeigen, wo man das Bummerl um zehn Groschen ausgespielt hat. Und das 1905 als Zeltkino gegründete „Breitenseer Lichtspieltheater“, in dem er zu Beginn der 1930er-Jahre einen der letzten Stummfilme gesehen hat: „Eine schamlose Frau“ mit Greta Garbo. Und, nach dem Einbau einer Tonanlage, die großen Revue- und Operettenfilme der Ufa wie „Die Drei von der Tankstelle“ mit dem Schlager „Ein Freund, ein guter Freund“.

Hauptdarstellerin des schwungvollen Films, der von der politischen Ohnmacht jener Zeit ablenken sollte, war Lilian Harvey. Der leidenschaftliche Kinogeher Artmann erinnerte sich, dass man damals in den „Illustrierten Blättern“ lesen konnte, dass die aus den Londoner Slums stammende Schauspielerin „ihre in Armut lebenden Angehörigen von der Tür ihrer palastartigen Villa vertreiben ließ, wo sie jeden Tag in deutschem Sekt badete und ihre Fingernägel mit geschmolzenen Perlen überziehen ließ“.

Einmal wartete H. C. am frühen Nachmittag schon unten vor der Haustüre auf mich, Ecke Josefstädter Straße/Schönborngasse. Elegant, im erbsengrünen Corduroy-Twill-Trenchcoat im Raglanschnitt. Der unvermeidbare Tschik – trotz ewiger Bronchitis – zwischen den Fingern. „Soll ich vielleicht mit 79 noch zum Rauchen aufhören?“ Nach der knappen, herzlichen Begrüßung fuhr er mit dem Aufzug wieder in die Wohnung hinauf.

Er war schon zu schwach für unseren Ausflug in seine Kindheit, nach Breitensee. Drei Jahre zuvor rutschte er in der Gardasee-Villa von André Heller am spiegelglatten Parkettboden aus und brach sich das Becken. Seit damals schmerzt jeder Schritt.

Müde von einem Leben aus Euphorie und Einsamkeit, Tatendrang und Traurigkeit hat er sich ein halbes Jahr vor seinem 80. Geburtstag verabschiedet. In „Grammatik der Rosen“ nimmt er 20 Jahre davor das Ende vorweg: „ich lege ein wenig ermüdet mein binokel auf die holzbraune fläche meines fensterbrettes und sage auch als freund adieu, wer weiß, ob ihr mich verstehen könnt, aber es wäre schön, ihr tätet es … adieu!“

H. C. Artmann - Bohemien und Bürgerschreck

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