Читать книгу Ein Leben für die Freiheit - Michael Koch - Страница 9

1. „Indian Wars Aren‘t Over“ – die vielen Gesichter des Völkermords (Michael Koch)

Оглавление

Wer Geschichte und Formen, Themen und Artikulation des indianischen Widerstandes des ausgehenden 20. Jahrhunderts und des beginnenden 21. Jahrhunderts verstehen will, wird nicht umhinkommen, sich mit der Ausrottungs- und Vernichtungspolitik der europäischen Eroberer und Einwanderer gegen die Ureinwohner Amerikas auseinanderzusetzen. Einerseits bleiben ansonsten Gedanken, Intentionen und Aktionen indigenen Widerstands für uns nur schwer verständlich und auch sperrig bezüglich einer interpretatorischen Einvernahme anhand revolutionär-emanzipatorischer Kriterien unseres „europäischen Denkens“ – selbst wenn dies solidarisch gemeint sein sollte.2

Andererseits bleiben die Dimensionen dieses Völkermordes samt seiner Begleiterscheinungen im wahrsten Sinne des Wortes „unvorstellbar“, wenn nicht doch in einem Kapitel einige Aspekte in aller Kürze benannt und beleuchtet werden.

„Indian Wars Aren´t Over“, so lautet die Überschrift eines Solidaritätsplakats für den indianischen politischen Gefangenen Leonard Peltier.3

Kleingedruckt am Rand stehen die Namen von ca. 60 Opfern tödlicher Angriffe auf traditionelle Lakota und AIM-Sympathisanten bzw. -Aktivisten, die vor allen in den Jahren zwischen 1973 und 1976 in der Pine Ridge Reservation stattfanden. Damit soll auf die Kontinuität des Tötens nordamerikanischer Indianer seit den sogenannten „Indianerkriegen“ in der Zeit vom 17. bis zum 19. Jahrhundert hingewiesen werden. Wer sich jedoch mit der Geschichte der amerikanischen Ureinwohner seit der „Entdeckung“ durch Christoph Columbus 1492 befasst, wird den zahlreichen Autoren indianischer, aber auch nicht-indianischer Herkunft zustimmen müssen, dass es sich bei der Bekämpfung der Indianer um den wohl längsten, anhaltenden Völkermord der Geschichte handelt. Dabei verbinden sich über die Jahrhunderte Aspekte von Genozid (Völkermord), Ethnozid (Kulturzerstörung) und Ökozid (irreversible Zerstörung intakter Ökosysteme) zu einer vielgesichtigen und vielschichtigen Geschichte von Ausrottung und Unterdrückung.

Die Stationen dieser Geschichte reichen von der Vertreibung, Umsiedlung, militärischen Bekämpfung und Ausrottung indianischer Völker über deren Dezimierung durch Krankheiten und andere sogenannte „Zivilisationsfolgen“, den Entzug ihrer Lebensgrundlagen bis hin zur Zwangsumerziehung in Internatsschulen, Zwangssterilisation indianischer Frauen und nuklearen Kontaminierung ganzer Regionen. Was an dieser Stelle über das Schicksal der nordamerikanischen Indianer ausgeführt wird, kann mit etwas veränderter Beschreibung auch für das Sterben, Leben und Überleben der Indigenen in Mittel- und Südamerika ausgeführt werden.

Auf all das, was an Entwicklungen in der sogenannten Paläo-Indianischen Periode Nordamerikas und in der Zeit von 7.000 v. Chr. (sogenannte archaische Periode) bis zum 15. Jahrhundert (im Südwesten die sogenannte Pithouse-Pueblo-Periode) stattfand, soll hier nicht näher eingegangen werden. Nur so viel sei gesagt: dass im Südwesten Nordamerikas die ersten nennenswerten Besiedlungen bereits zwischen 12.000 und 10.000 v. Chr. erfolgten. Zwischen 7.000 v. Chr. und der Zeitenwende entwickelten sich Ackerbau und Siedlungen, beides prägte die Lebensweise der indianischen Völker des Südwestens. Keramikherstellung, Baumwollnutzung und Webtechnik kamen in dieser Region zwischen 700 und 1.000 n. Chr. hinzu. Und Charles C. Mann wies in seinem Buch „Amerika vor Kolumbus“ darauf hin, dass im Gegensatz zu unseren Klischeevorstellungen von den Indianern als nomadische, ökologische Ureinwohner tatsächlich sich zur Zeit von Kolumbus die große Mehrheit der alteingesessenen Indigenen südlich des Rio Grande aufhielten. „Sie waren keine Nomaden, sondern erbauten und bevölkerten einige der größten und reichsten Städte der Welt……,lebten …auf Farmen…,ernährten sich von Fisch und Schalentieren…..Mit anderen Worten, Amerika war unermesslich geschäftiger, mannigfaltiger und dichter bevölkert, als es sich die Forscher vorgestellt hatten. Und älter war es auch.“4

Unterschiedliche Studien gehen davon aus, dass in der vorkolumbianischen Zeit, also noch im 15. Jahrhundert, an die 800 unterschiedliche Stämme im Gebiet der heutigen USA lebten, heute sind dies noch etwa 300. Dabei unterschieden sich Lebensformen, Lebensräume und Kulturen oftmals nicht unerheblich zwischen Nomadentum und Sesshaftigkeit, zwischen Pflanzenanbau, Fischerei und Jagd, zwischen dem Leben an Küsten, in Wäldern, Gebirgen, Wüsten oder in den Weiten der Plains und Prärien.

Diesen unterschiedlichen indianischen Völkern standen seinerzeit, berücksichtigt man mal lediglich die Fläche der heutigen USA, knapp zehn Mio. Quadratkilometer zur Verfügung.5 1887, nach der Umsiedlung der Indianer in Reservationen und nach dem Invasionsende des Westens durch die weißen Siedler, waren dies in den USA 558.472 km2 (knapp 5 %), 1900 ca. 300.000 km2 und gegen Ende des 20. Jahrhunderts gar nur noch 215.549 km2 (ca. 2,3 %) der Gesamtfläche der USA.

In dieser Zeit nahm die Anzahl der nördlich des heutigen Mexiko lebenden Indianer drastisch von acht bis zehn Millionen auf nur noch 360.000 (1892) ab. Und wenn wir heute wieder von ca. 2,5 Mio. indianischen und indianisch-stämmigen Amerikanern in den USA reden, dann meint dies Menschen indianischer Herkunft, Fullbloods (Vollblut) und Mixedbloods (also teilweise indianischer Abstammung), Reservationsbewohner, indianische Wanderarbeiter und Stadtindianer. Sicherlich waren nicht all die 7,5 - 9,5 Mio. gestorbenen Indianer Opfer militärischer Aktionen und Vertreibungen durch die Europäer. Viele von ihnen starben mittel- oder unmittelbar an den unterschiedlichsten Folgen der Invasion aus Europa.

Ein oftmals vernachlässigter Aspekt ist dabei, dass Kriege zwischen indianischen Völkern aufgrund deren Einbeziehung in kriegerische Konflikte zwischen den weißen Eroberern (Kriege zwischen Engländern und Franzosen, Spaniern und Engländern, Unabhängigkeitskrieg), durch die Einführung neuer Waffen und von Pferden, aber auch aufgrund der territorialen Vertreibungen vom Osten immer tiefer in den Mittleren Westen und Westen ebenfalls zunahmen. Vor allem Krankheiten, Hunger und Alkohol waren im großen Maße für das Massensterben bei den Indianern verantwortlich und waren erheblich mörderischer als die Gewehre der Eroberer. „Den Indianern fehlten die Abwehrkräfte gegen Malaria, Masern, Tuberkulose und Pocken. Ganze Dörfer wurden oft in wenigen Wochen dahingerafft; die Überlebenden waren zum Widerstand zu schwach. Bereits vor der Gründung der USA ging die indigene Bevölkerung Nordamerikas … um knapp 80 % zurück.“6

Kaum verwunderlich, dass so auch Pläne entstanden, alle Indianer über die Verteilung infizierter Decken und Bekleidung mit Masern zu infizieren, denn im 18. und 19. Jahrhundert galten sie den einwandernden Europäern und nach Gründung der USA auch den neuen Machthabern Nordamerikas als eine Art „menschliches Ungeziefer“, das es zu dezimieren galt.7 So schrieb der britische General Jeffrey Amherst bereits 1752: „Sie täten gut daran, die Indianer mit Laken zu infizieren, auf denen Blatternkranke lagen, oder sich aller sonstigen Mittel zu bedienen, die dazu beitragen können, diese verfluchte Rasse auszurotten.“8

Mit der Besiedlung Nordamerikas durch die Spanier im 16. Jahrhundert und durch die Engländer und Franzosen (und im geringeren Ausmaß auch durch die Niederländer) ab dem 17. Jahrhundert ging nach der Anfangsphase einer freundlichen Aufnahme durch die Indianer der Ostküstenregion und, zumindest bei den Engländern und Franzosen, auch nach anfänglich friedlicher Koexistenz die Vertreibung der Urbevölkerung bei gleichzeitiger Annexion des Landes einher.

Im Zuge der spanischen Besatzung wurden die hochentwickelten Städte und Kulturen der Indigenen zerstört. Nuñez Cabeza de Vaca, der tausende von Meilen durch Mexiko zurücklegte, berichtete bei seiner Ankunft im heutigen Mexico City von ummauerten Städten mit mehrgeschossigen Häusern und Indianern, die in ihrem Verhalten weit kultivierter als die Spanier seien.9 Trotzdem wurde die indianische Bevölkerung im großen Stile versklavt oder massakriert. Alleine auf den Inseln des heutigen Haiti und der Dominikanischen Republik lebten 50 Jahre nach der Landung von Kolumbus nur noch 10 % der dortigen indianischen Bevölkerung.

In den von Engländern besiedelten Ostküstengebieten des heutigen Virginia (ab 1607) und Massachusetts (1620) begann die Vertreibungspolitik erheblich subtiler. Den ersten Winter nach ihrer Ankunft überlebten die Engländer nur mit Hilfe der lokalen Stämme der Powhatan, Massachusetts und Wampanoag, die den Engländern Lebensmittel und Feuerholz brachten und diesen zeigten, wo sie Fisch fangen und wie sie Mais pflanzen konnten. Um sich die Gunst der Indianer so lange zu sichern, bis die Engländer über befestigte und sichere Ansiedlungen verfügten, krönten die englischen Siedler gar einen der Häuptlinge zum König, dessen Tochter, Pocahontas, später von einem Briten geheiratet wurde.

Nach dem Tod dieses Königs endete jedoch dieser (be)trügerische Frieden. Die indianischen Stämme sahen, dass in den 15 Jahren seit Ankunft der Engländer große Teile ihrer bewaldeten Jagdgebiete gerodet und somit viele jener Tiere, die sie als Lebensgrundlage jagten, verschwunden waren. 1622 erhoben sich 30 Stämme, um die Engländer wieder ins Meer zu treiben, hatten jedoch gegen die Waffen der Eroberer keinerlei Chance. Von einzelnen Stämmen, wie z. B. den Powhatan, überlebten gerade noch 10 % der Stammesbevölkerung – und auch diese sollten vertrieben werden. Im nördlicheren Ostküstenbereich, wo 1620 die Pilgrim Fathers landeten, waren 20 Jahre später bereits ganze Stämme ausgerottet worden: „Die Wälder waren fast gänzlich gereinigt von diesen schädlichen Kreaturen“, formulierte der Puritaner Cotton Mather die Vernichtung der Pequot-Indianer.10 Um dem Hunger zu entkommen, gerieten viele der Ostküstenstämme bei der Suche nach neuen, westlicher gelegenen Jagdgründen in Konflikte mit den dortigen Stämmen – die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen indianischen Völkern nahmen in Folge zu.

Gegen Ende des 17. Jahrhunderts erreichte der Machtkampf zwischen Franzosen, Engländern und Spaniern um die Vorherrschaft in der „Neuen Welt“ seinen Höhepunkt, wobei jede dieser drei Kolonialmächte ihre indianischen Verbündeten samt deren Stammesfehden für sich geschickt auszunutzen wusste, um letztendlich dabei auch die indianischen Stämme gegeneinander auszuspielen. Zu dieser Zeit (1675) begannen sich die Stämme der nördlichen Ostküste zu einer Konföderation zu vereinigen, um gegen die immer weiter ins Land vordringenden weißen Siedler vorzugehen, doch bei Rhode Island wurden 1676 die indianischen Krieger vernichtend geschlagen.

Knapp 90 Jahre später wiederholte sich Ähnliches, allerdings bereits erheblich weiter westlich, in der Gegend der großen Seen (Huron, Ottawa, Michigan, Erie). Hier vereinte der Ottawa-Häuptling Pontiac mehrere Stämme zum panindianischen Gegenangriff, um die vorrückenden Briten nach Osten zurückzutreiben. Nach anfänglichen Erfolgen musste Pontiac 1766 seinen Widerstandskrieg jedoch aufgeben und widerwillig mit den Engländern Frieden schließen. Auch weitere panindianische Bündnisaktionen, wie zum Beispiel um den Shawnee Tecumseh, konnten der immer größer werdenden Invasion europäischer Einwanderer nichts mehr entgegensetzen. Und die letzten rechtlichen Restriktionen der britischen Krone, wie zum Beispiel das Siedlungsverbot für Einwanderer westlich der Appalachen, fielen mit der Unabhängigkeitserklärung 1776 und dem darauf folgenden Unabhängigkeitskrieg der 13 Ostkolonien gegen das englische Mutterland, der 1783 mit der Anerkennung der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten endete.

Die Landnahme durch weiße Siedler und die Vertreibung der indianischen Bevölkerung waren unaufhaltsam und fanden im 19. Jahrhundert ihren traurigen Höhepunkt. Die politische Legitimation erhielten die Siedler direkt von den ersten Präsidenten der USA, wie z. B. durch Thomas Jefferson, von 1801 bis 1809 dritter Präsident der USA: „Wir tauschen Land, das sie im Überfluss haben und wir besitzen möchten, gegen Lebensnotwendigkeiten, die wir im Überfluss besitzen und sie haben möchten. Wir gründen Handelsposten und werden zufrieden sein, wenn sie sich verschulden, denn wir werden erleben, dass sie sich willig zeigen, ihr Land herauszugeben, wenn die Schulden ihre Zahlungsfähigkeit übersteigen. … Was ihre Furcht angeht, so nehmen wir an, unsere Stärke und ihre Schwäche sind jetzt dermaßen sichtbar, dass wir nur unsere Hand schließen brauchen, um sie zu zerbrechen.“ „Und wer sich dem Interesse des neuen Staates widersetze, und in die Barbarei zurückfalle, werde wie wilde Tiere in die Wälder der Rocky Mountains getrieben.“11

Und der spätere Präsident Andrew Jackson (1829 - 1837) setzte da noch eins drauf: „Sie (die Indianer, der Verf.) haben weder die Intelligenz, den Fleiß, die moralische Struktur noch das Verlangen nach einer Entwicklung, die so wichtig für die günstige Wende ihrer Lebensbedingungen ist. … So müssen sie notwendig der Gewalt der Umstände weichen.“12 Der US-Historiker George Bancroft behauptete 1834, dass Nordamerika vor dem Eintreffen der Europäer „eine unproduktive Wüste“ gewesen sei. Und weiter: „Seine einzigen Bewohner waren ein paar verstreute Stämme schwächlicher Barbaren“13. Durch solche Äußerungen ermutigt, wurden die Indianer immer mehr zum Hassobjekt der amerikanischen Siedler, die den Indianern jegliches Recht auf Land absprachen, so wie sie Indianerfrauen auch das Recht auf sich selbst absprachen und diese in Folge massenhaft durch Weiße vergewaltigt wurden.

Ein Instrument zur Interessensdurchsetzung der Siedler, deren Zahl von 1812 bis 1852 von sieben auf 23 Millionen anwuchs, war das 1824 als Abteilung des Kriegsministeriums gegründete und ab 1849 dem Innenministerium unterstellte Bureau of Indian Affairs (Büro für indianische Angelegenheiten, BIA). In der ersten Phase seines Bestehens war es vornehmliche Aufgabe des BIA, mit den als souverän erachteten Indianerstämmen Verträge auszuhandeln, um den aus dem Osten kommenden Siedlern Zugänge zur Westküste (sogenannte Durchgangskorridore) zu sichern. Allerdings wurde keiner der im Zeitraum von 1778 bis 1868 zwischen der Regierung der USA und den souveränen indianischen Nationen geschlossenen 394 Verträgen seitens der US-Regierung eingehalten.14 So wurde diese Aufgabe des BIA mit der Zunahme militärischer Siege der US-Armee über die Indianer und mit dem Einstellen weiterer Vertragsabkommen im Jahre 1871 obsolet.

Längst wurde ein groß angelegter Vertreibungsplan für einzelne indianische Völker umgesetzt. Gesetzliche Grundlage war der 1830 unter Präsident Andrew Jackson vorgelegte „Indian Removal Act“. Allerdings sah dieser Plan vor, dass alle Gebiete östlich des Mississippi den Weißen und das gesamte Land der Vereinigten Staaten westlich des Flusses mit Ausnahme der Staaten Missouri und Louisiana sowie des Territoriums von Arkansas den Indianern vorbehalten sein solle.

Diese „Ewige Grenze“, wie sie 1834 im „Gesetz zur Regelung des Handels und der Beziehungen mit den Indianerstämmen und zur Einhaltung des Friedens in den neuen Siedlungsgebieten“ genannt wurde, sollte durch die militärischen Streitkräfte der Vereinigten Staaten geschützt werden. Die Siedler stoppte dies allerdings kaum. Und so wurde die „Ewige Grenze“ kurzerhand nach Westen verschoben. Und nachdem Kalifornien zum 31. Bundesstaat wurde und der Weg der Siedler bis zur Pazifikküste geöffnet werden sollte, wurde die „Ewige Grenze“ der „Manifest Destiny“ geopfert, jener Doktrin, nach der Europäer als überlegene Rasse auserkoren seien, in Amerika das Land und seine Ureinwohner zu beherrschen.

Die Mitte des 19. Jahrhunderts beginnende Gegenwehr der indianischen Völker und vor allem der Prärieindianer konnte diese Entwicklung nicht mehr aufhalten. Die Vertreibung der Indianer in Reservate und die permanente Verkleinerung ihres Lebensraumes waren die Folgen. Manche Reservate waren nahe der ursprünglichen Lebensgebiete der jeweiligen indigenen Nationen, andere lagen viele hundert Meilen entfernt. Viele Stämme wurden nach Inkrafttreten des „Indian Removal Acts“ in weit entfernte Gegenden zwangsumgesiedelt. Besonders bekannt wurden dabei vor allem die Vertreibung der Apachenstämme im Südwesten der USA und der „Lange Marsch“ der Navajo sowie der „Pfad der Tränen“ der im Südosten lebenden indianischen Stämme nach Oklahoma.

Allein bei diesem „Trail of Tears“, dem Marsch in das über 2.000 km entfernt gelegene neue Territorium, starben seit 1838 mindestens 4.000 Cherokee, mindestens 500 Chickasaw. Von den Muskogee starben schätztungsweise etwa 10.000, d.h. 50 % des Volkes sowie rund 2.500 Choctaw an den direkten oder indirekten Folgen der Vertreibung.

Bei dem „Langen Marsch“ der Diné (Navajo) aus dem heutigen Arizona in das Bosque Redondo Reservat in Neu Mexiko starben bereits beim ersten Konvoi 1864 von 2.500 Navajo 323 Personen an Kälte, Hunger, Krankheit und Erschöpfung. Vor allem Kinder, Schwangere, Alte und Kranke, die bei dem fast 500 km langen Marsch nicht mithalten konnten, wurden durch die Soldaten der US-Armee gnadenlos getötet. Beim folgenden Konvoi erreichten von 946 Navajos gerade noch 836 Bosque Redondo. Am Ende lebten 9.000 Navajo und 400 Mescalero-Apachen in einem Reservat, dessen Boden unfruchtbar war, dessen Bäume fast alle für den Bau des in der Nähe gelegenen Fort Sumner gefällt wurden und dessen alkalihaltiges Flusswasser ungenießbar war. Um unter diesen Bedingungen überhaupt überleben zu können und Schutz vor der Sonnenhitze zu finden, lebten die internierten Diné und Mescalero in Erdlöchern, die ein wenig Schatten und Kühle gewährten. Nach drei Jahren waren bereits 10 % der Navajo und Mescalero an diesen Lebensbedingungen gestorben.

Die amerikanische Regierung, die zehn Millionen Dollar in das Unternehmen gesteckt hatte, beauftragte General Tecumseh Sherman mit der Untersuchung der Zustände – nicht nur aus Gründen der Menschlichkeit, sondern auch, um Geld zu sparen. Sherman war erschüttert über die Lage der Diné und schickte einen Bericht an General Ulysses S. Grant, der bald Präsident der Vereinigten Staaten werden sollte. Am 1. Juni 1868 unterzeichneten Navajo-Häuptlinge in Fort Sumner einen Vertrag, worin die US-Regierung dem Diné-Volk ein Reservat in seinem alten Land zuteilte und den Überlebenden die Rückkehr bewilligte. Im Gegenzug verpflichteten sie sich, von nun an in Frieden mit den amerikanischen Siedlern zu leben.15

Als die Diné in ihre Heimat zurückkehrten, fanden sie ihre Hogans zerstört und ausgebrannt, ihre Pfirsichplantagen mit über 5.000 Obstbäumen gefällt und ihre Maisfelder verwüstet vor. Ihr Vieh war verschwunden oder sinnlos abgeschlachtet worden, und ihre Trinkwasserbrunnen waren teilweise vergiftet.

Diese Liste der Vertreibungen und deren Folgen lässt sich weiter ausführen. Viele der Reservationen lagen in Gegenden, in denen das Überleben für die nun dort angesiedelten Natives schwer war: kaum Wasser, wenig Vegetation, extreme Temperaturen, kaum mehr Wild zum Jagen. Allerdings zeigte sich im Laufe der Jahrzehnte, dass ein Großteil der nordamerikanischen Bodenschätze, wie z. B. Gold, Kohle, Kupfer, Uran usw., genau in diesen Territorien lag.

Die Gebiete der Lakota, Dakota, Nakota, denen im Vertrag von Fort Laramie 1868 ein Territorium von Wyoming bis Minnesota, der kanadischen Grenze bis Nebraska zugesichert wurde, wurden nach dem Fund von Gold in den Black Hills zunehmend verkleinert, was zu immer neuen Konflikten führte. Nachdem in den USA die Regierung 1871 dazu überging, mit den Indianern keine Verträge mehr abzuschließen, wurde den Indianern jegliches Mitspracherecht entzogen. Nun bestimmte die US-Regierung die Neuschaffung, Verkleinerung oder Vergrößerung von Reservaten („Erlass-Reservate“).

In den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts bäumten sich gegen diese Vertragsbrüche und gegen die anhaltende Besiedlung der ihnen vertraglich zugesicherten Territorien vor allem die Stämme der Plains- und Prärieindianer ein letztes Mal auf. Die Schlacht am Little Big Horn River am 25. Juni 1876 mag hierfür als Symbol stehen. Doch so spektakulär und geschichtsträchtig diese Schlacht und der Sieg der indianischen Verbündeten über die 7. US-Kavallerie von Lieutenant Colonel Custer auch gewesen sein mag, so sieht die blutige Bilanz der militärischen Auseinandersetzungen zwischen US-Soldaten und den indianischen Verteidigern ihres Landes in der Zeit der sogenannten Indianerkriege zwischen 1790 und 1891 eindeutig anders aus. Den hierbei gefallenen 2.283 Soldaten stehen ca. 400.000 indianische Tote gegenüber.16 Dabei starben viele bei grausamen Gemetzeln und Massakern der US-Kavallerie. Hundert Jahre später rüttelten Bücher wie Dee Browns „Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses” (1970) und Kinofilme wie Arthur Penns „Little Big Man“ oder Ralph Nelsons „Soldier Blue – Das Wiegenlied vom Totschlag“ (beide ebenfalls aus dem Jahr 1970) viele junge 68er auf. Durch die zeitlicher Nähe zu den Vietnam-Kriegs-Massakern der US-Army in My Lai aber auch zum neu entstehenden indianischen Widerstand brachten sie das Thema des Völkermords an den nordamerikanischen Indianern wieder in die politische Öffentlichkeit. Dabei war die reale Dimension dieser Gemetzel erheblich brutaler und barbarischer als die schon teilweise schwer erträglichen filmischen Darstellungen:

Nach Sonnenuntergang, am 28. November 1864, verließ Colonel J. M. Chivington mit seiner Truppe „Fort Lyon“ im Bundesstaat Colorado. In der Dunkelheit ließ der Oberst ein Camp umstellen, in dem sich 500 Indianer zur Nacht rüsteten. … Als Indianer den Aufzug der weißen Soldaten bemerkten, informierten sie erschrocken ihren Führer, der die weiße Fahne und die Fahne der Weißen zum Zeichen seiner Friedfertigkeit aufziehen ließ. … Ohne jede Ankündigung … und Pardon wurde das Camp gestürmt. Zuerst machten sie sich über die Männer her … Dann waren die entsetzten Frauen an der Reihe, deren Schreie nach und nach verstummten. Nun waren nur noch die Schreie der Kinder zu hören, dann verstummten auch sie … Als sich nichts mehr regte, was indianisch war, schnitten die weißen Soldaten die reglosen Körper auf. Sie trennten den Frauen die Brüste ab, und dann, Höhepunkt der gespenstischen Nacht, skalpierten sie die Opfer. Am Ende lagen 450 grausam zugerichtete Menschen, wo noch wenige Stunden zuvor die Idylle des Nachtlagers geherrscht hatte.17

Bei der Rückkehr nach Denver wurden Chivingtons Truppen, die an ihren Hüten abgeschnittene Brüste und Genitalien, Skalpe von Kindern und große abgezogene Hautfetzen der massakrierten Cheyenne befestigt hatten, von der Bevölkerung begeistert begrüßt und gefeiert.

Ähnlich wie das Sand-Creek Massaker verliefen zahlreiche weitere Gemetzel, wie z. B. das Massaker am Washita River, ebenfalls an Cheyenne-Indianern:

Die im Winter 1868 in einem Lager am Washita River lagernden Cheyenne unter ihrem Häuptling Black Kettle litten Hunger, da die von der Regierung versprochenen Lebensmittellieferungen ausblieben. Zahlreiche junge Krieger wollten diesen Zustand nicht länger hinnehmen und machten sich auf in die ehemaligen Jagdgründe am Smoky Hill. Der Indianeragent Wynkoop eilte zu Black Kettle und bat ihn, die jungen Krieger zurückzuhalten.

„Unsere weißen Brüder entziehen uns die Hand, die sie uns am Medicine Lodge gereicht haben, aber wir werden versuchen sie festzuhalten“, sagte Black Kettle. Doch immer wieder brachen junge Krieger auf, um Nahrung zu beschaffen und sich für die gebrochenen Versprechen zu rächen. General Sheridan wollte das unterbinden und ein abschreckendes Beispiel geben, was den Indianern bevorstand, wenn sie aufbegehrten.

Anfang November 1868 wurde Black Kettle bekannt, dass Truppen unter George Armstrong Custer auf dem Weg waren, und er bat, seinen Stamm in der Nähe von Fort Cobb lagern zu lassen. Der Kommandant des Forts lehnte ab, er gab jedoch die Zusicherung, Black Kettle würde nicht angegriffen, wenn er und seine Krieger ruhig blieben. Aber die Vernichtung seines Dorfes war bereits beschlossen.

Im Morgengrauen des 27. November 1868 kamen Custers Truppen. In der Nacht hatte es geschneit, und Nebel lag über dem Lager. Die Indianer hatten nicht bemerkt, dass Custers Truppen vor dem Lager ausschwärmten. Custer hatte klare Weisungen erhalten und gedachte diese mitleidlos auszuführen, um sich nach seiner einjährigen Zwangspause erneut zu profilieren. Mit dem Angriffssignal des Hornisten und unter den Klängen der Regimentskapelle, die den Militärmarsch der 7. Kavallerie spielte, stürmten die Truppen in das schlafende Dorf, ohne auf Widerstand zu stoßen, und das Massaker begann. Die fast nackt aus ihren Zelten in den Schnee flüchtenden Indianer wurden niedergemacht. 103 Indianer wurden binnen Minuten getötet, 53 Frauen und Kinder gefangengenommen. Über 800 Indianer-Ponys wurden auf Befehl von Custer erschossen.18

Es mag ein trauriges Zeugnis über den Zivilisationsgrad des weißen Amerika sein, dass gerade in Nähe dieser Stätten übelster Massaker an den Cheyenne Ortschaften die Namen der beiden Kriegsverbrecher „Chivington“ und „Custer“ tragen und beide über 150 Jahre später immer noch als Helden von Teilen der weißen Bevölkerung ver- und geehrt werden.

Die sogenannten Indianerkriege endeten mit dem Massaker von Wounded Knee im Jahr 1890, 16 Tage, nachdem der Lakota-Medizinmann Sitting Bull bei seiner Festnahme durch indianische Polizisten in Kanada erschossen wurde. 300 meist unbewaffnete Indianer, darunter viele Frauen, Kinder und Alte, waren unter Führung ihres an einer schweren Lungenentzündung erkrankten Häuptlings Spotted Elk (Big Foot) auf dem Weg zur Pine Ridge Agency, um dort bei Häuptling Red Cloud in Sicherheit den harten Winter überstehen und Schutz vor den sie verfolgenden Soldaten finden zu können. Keinen Tagesritt von Pine Ridge entfernt trafen die Minneconjou-Lakota nahe des Flüsschens Wounded Knee, in der Nähe jenes geheimen Ortes, an dem die Lakota das Herz des in Fort Robinson, Nebraska, ermordeten Häuptlings Crazy Horse bestattet haben sollen, auf Soldaten und wurden durch diese zu einem Lagerplatz der Kavallerie gebracht. Dort wurden sie von dem zu diesem Zeitpunkt noch die Operation leitenden Major Samuel Whiteside recht fair behandelt. Den entkräfteten Indianern wurden Zelte und Proviant übergeben, und der Regimentsarzt kümmerte sich um den erkrankten Häuptling, vor dessen Zelt sogar ein Ofen aufgebaut wurde. Die Situation änderte sich am späten Abend, als Colonel J. W. Forsyth mit dem Rest der 7. US-Kavallerie eintraf und die Leitung der Gesamtoperation übernahm. Forsyth feierte mit seinen Soldaten die Festnahme Big Foots – es wurde massenhaft Whiskey getrunken. Ein indianischer Zeuge, der sich von den Soldaten unbemerkt angeschlichen hatte, hörte bereits in der Nacht, dass die alkoholisierten Soldaten immer wieder in Rachegedanken aufgrund der Niederlage am Little Big Horn und des Todes von George Armstrong Custer verfielen und warnte daraufhin seine Leute. Als am kommenden Tag die Indianer entwaffnet werden sollten und sich dabei ein Krieger, der nach Aussagen eines Nachfahren von Big Foot schwerhörig gewesen ist, weigerte sein Gewehr abzugeben und bei der Rangelei bei seiner Entwaffnung sich ein Schuss aus seinem Gewehr löste, eröffneten die Soldaten sofort mit Gewehren und später auch mit Hotchkiss-Kanonen das Feuer auf das indianische Camp.

Laut Zählung starben bei diesem Massaker 153 Minneconjou-Lakota, viele waren verwundet und einige konnten auch schwerverletzt in die umliegenden kleinen Rinnen und Schluchten (Ravines), in denen auch einige Frauen und Kinder Zuflucht gefunden hatten, entkommen. Die Soldaten forderten die sich dort versteckenden Lakota auf, aus den Ravines hochzukommen, dann würden sie medizinisch versorgt werden. Für diejenigen, die diesen Worten glaubten, und dies war die Mehrzahl der sich dort verbergenden Lakota, sollte ihr Vertrauen tödliche Folgen haben. Sobald sie den oberen Rand der kleinen Senken erreicht hatten, wurden sie durch die Soldaten erschossen.

Die Bilder des im Schnee liegenden steif gefrorenen Leichnams von Big Foot und der in Massengräber geworfenen Leichen der getöteten Lakota zählen bis heute zu den meistverbreiteten Aufnahmen jener Zeit und sind damit Zeugnisse jenes grausamen Mordens und Tötens der US-Kavallerie, das noch am 30.12.1975 offiziell durch das US-Verteidigungsministerium als legitime Schlacht bezeichnet wurde.

Eine weitere zentrale Todesursache für viele Native Americans lag in den Folgen von Unterernährung und Hunger. Diese wiederum korrespondierten mit drei Entwicklungen.

Erstens starben viele Indianer an Unterernährung verbunden mit Erschöpfung im Rahmen ihrer territorialen Vertreibung und Zwangsumsiedlung – entweder direkt im Verlauf dieser ethnischen Säuberungsaktionen oder aber, da es in den zugewiesenen Reservationsgebieten kaum ausreichende Jagd-, Fischerei- oder Anbaumöglichkeiten gab.

Zweitens wurden einige Reservate permanent so verkleinert bzw. nach dem „General Allotment Act“ von 1887, auch „Dawes Act“ genannt, so parzelliert, dass die zugewiesenen Parzellen auf die Dauer für die Ernährung der Familien kaum ausreichend waren.

Drittens wurden mit der gezielten Ausrottung der Bisons den nordamerikanischen Indianern eine ihrer wesentlichsten Lebensgrundlagen entzogen.

„Der Bison war alles für die Indianer. Er war ihr Leben. Er war Tag und Nacht. Was sie sahen, rochen, aßen oder anfassten, bestand aus Bison. Er war das Zentrum ihrer Kultur.“ Bisons lieferten nicht nur ausreichend Fleisch für die Ernährung. Bisonmägen dienten lange Zeit als Koch- und die Blase als Aufbewahrungsbehälter. Hirn, Niere und Leber wurden als Gerbmaterial eingesetzt. Gegerbtes Fell mit und ohne Haare wurde zur Herstellung von Decken, Winterkleidung, Material für Sättel, Zeltplanen, Satteltaschen und Bekleidung genutzt. Ungegerbte Rohhaut diente der Herstellung von Aufbewahrungsboxen, Trommeln, Messerscheiden usw. Seile und Schnüre wurden aus Bisonhaar gedreht, und aus Haut- und Hufresten wurde Leim gekocht. Hörner wurden als Löffel, Trink- und Pulverhörner verwendet, Zähne und Knochen dienten der Schmuckherstellung und Bisonschädel als Altarbestandteile bei indianischen Zeremonien. Die Sehnen konnten als Nähmaterial oder Bogensehnen genutzt werden, und der getrocknete Büffeldung ersetzte oftmals Holz als Feuerungsmaterial.19

Somit wird deutlich, dass die Beziehung zum Bison gerade für die Plains- und Prärieindianer auch erheblich deren Kultur als nomadische Jäger determinierte. Die systematische Ausrottung der Büffel in den USA betraf die indianischen Völker daher sowohl existentiell als auch kulturell und war eindeutig Bestandteil geplanter Ausrottungspolitik. „(Büffeljäger) haben in den vergangenen zwei Jahren mehr zur Lösung der ärgerlichen Indianerfrage beigetragen als die gesamte Armee in den vergangenen 30 Jahren. Sie zerstören damit den Proviant der Indianer … Sendet ihnen (den Büffeljägern, MK) Pulver und Blei …, lasst, um einen dauerhaften Frieden zu sichern, sie töten, häuten und handeln, bis alle Büffel ausgerottet sind.20

Und General William Tecumseh Sherman wurde zitiert mit seiner Aussage „Es wird klug sein, all jene Sportsmänner aus England und Amerika zu einer großen Büffeljagd einzuladen, um richtig Tabula rasa zu machen.“21 Tausende Jäger strömten in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts in die Great Plains, wobei jeden Tag ca. 5000 Bisons abgeschlachtet wurden. 1875 war die südliche und 1882 die nördliche Bisonherde der USA ausgelöscht. Mit ursächlich hierfür war auch, dass 1870 in Deutschland ein neuartiges Gerbverfahren entwickelt wurde, dass Bisonhaut zu hochwertigem Leder werden ließ. Allein in diesem Jahr wurden über 2 Millionen Bisons getötet. Lag die Zahl der Bisons in Nordamerika bis zum 16. Jahrhundert bei über 50 Mio. Tieren (manche Wissenschaftler gehen sogar von einer Zahl von über 80 Millionen Tieren aus), so lebten nach der systematischen Ausrottung 1889 in den USA gerade noch ca. 542 Exemplare und in Kanada ca. 250 Exemplare.22 Andere Zählungen ergaben, dass es in den USA 1884 gerade noch 325 und 1902 gar nur noch 23 frei lebende Bisons (Pelican Valley) in den USA und in Kanada nur 8 frei lebende Büffel gab.

Mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert nahm der Genozid an den Indianern ein neues Gesicht an. Die militärische Bekämpfung und Massaker wurden nun vor allem durch Strategien der „Pazifizierung“ und der kulturellen Entwurzelung und Entfremdung (Ethnozid) abgelöst. Die Indianer sollten aus ihren bisherigen gemeinschaftlichen Lebensformen herausgelöst und im Sinne der europäischen Ideologie individuellen Grundbesitzes „zivilisiert“ werden. Ich will dies anhand einiger Beispiele kurz aufzeigen.

Am 8. Februar 1887 unterzeichnete Präsident Grover Cleveland den „General Allotment Act“, der die Aufteilung indianischer Ländereien an einzelne Familien vorsah. Eine solche Denkweise widersprach völlig der indianischen Tradition, dass Land niemals in Privatbesitz übergehen könne. Territorien würden zwar von den jeweiligen Völkern für Jagd, Fischerei, Sammeln von Wildpflanzen (Kräuter, Wurzeln, Rinden, Wildreis, wilde Rüben usw.) und Ernte angebauter Pflanzen (Mais, Kürbis, Bohnen usw.) genutzt und als Lebensraum definiert und auch gegenüber anderen indianischen Völkern entweder verteidigt oder aber erobert. Doch prinzipiell gilt für traditionelle Indianer bis heute „Mother Earth is not for sale“, denn sie verstehen sich in symbiotischer Einheit mit allen sie umgebenden Dingen, Pflanzen und Tieren ihrer Territorien.

Nun sollten also die Reservationsländereien nach einem ausgeklügelten System privatisiert werden, wobei der damit verbundene weitere Landraub erst einmal verdeckt blieb. Nach dem Gesetz sollte jedes Familienoberhaupt 160 acres (ca. 480 km2), jeder unverheiratete Mann 80 acres und jedes Kind 16 acres erhalten. Dies klingt zwar nach großen Flächen, ist jedoch in Anbetracht der Größe der eigentlichen indianischen Gebiete, selbst der Reservationsgebiete, nur ein Bruchteil des Landes. Das nicht verteilte Land sollte dann an weiße Siedler durch das BIA langfristig verpachtet werden.

1888 sollte ein Folgegesetz vor allem die Zerschlagung der „Great Sioux Reservation“ regeln. Statt einem gemeinsamen großen Reservat sollten in diesem Gebiet sechs kleine Reservationen entstehen und dann das restliche Land zur Besiedlung durch Weiße freigegeben werden (über 36.000 km2). Allerdings lehnten die Lakota mehrheitlich bei einer Befragung (traditionell müssen 75 % der befragten männlichen Lakota bzw. der auf dem Reservat lebenden Indianer solche Gesetze unterzeichnen) dieses Gesetz ab. Langfristig konnten sie aber diese Zersiedelungspolitik nicht verhindern.

Ein weiteres Folgegesetz aus den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts erlaubte dann den indianischen Eigentümern den Verkauf dieser zugewiesenen Ländereien, zunächst bis zu maximal 120 acres und später die gesamten 160 acres.

Dabei wurden Verkauf oder aber auch Verpachtung ebenfalls durch das Bureau of Indian Affairs vorgenommen, das dann die Transaktionen managte, die Einnahmen kassierte, verwaltete und den verkaufenden oder verpachtenden Familien ihr Geld irgendwann auszahlte.

Dies ist bis heute noch so. Die Pachtgebühr kassiert das gesamte Jahr über das BIA und zahlt dann die wenigen Centbeträge pro acre zum Jahresende/-anfang an die indianischen Eigentümer aus. Solche Verpachtungen laufen dann noch über sehr lange Zeiträume.

1914 war von den US-Reservationen 1 % im Besitz des Staates, 19 % im Privatbesitz indianischer Familien und 80 % im Besitz des Stammes, der diese Ländereien wiederum bis heute an weiße Farmer und Rancher, Firmen und Industrien verpachten kann.

Bei den Lakota der Pine Ridge Reservation sind z. B. ca. 25 % des Gebiets für einen Zeitraum von 50 Jahren an Weiße verpachtet. Wohin die Einnahmen dann tatsächlich gehen, ob damit das Wohl der jeweiligen Stämme und Gemeinden gemehrt wird und ob die Investition dieser Gelder im Interesse der Mehrheit der jeweiligen Reservationsbewohner ist, mag an dieser Stelle dahingestellt bleiben.

Deutlich werden die Folgen des Dawes Act, wenn man sich vorstellt, wie über Generationen die Ländereien aufgrund der Anzahl der Erben immer kleiner werden:


Der Muskogee-Creek Medizinmann und Bürgerrechtler Philip Deere beschreibt die Auswirkungen und neuen Konflikte, die durch den „General Allotement Act“ für sein Volk bis in das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entstanden sind, sehr deutlich in dem von Daniel C. Rohr herausgegebenen Buch „Das entzündete Feuer - Botschaften und Reden“(1986, S. 73 f).

Diese Fraktionalisierung des Landes führte dazu, dass in Wisconsin sich 2.300 Natives das Eigentum an 0,3 Quadratkilometern Land teilen oder in der Pine Ridge Reservation 6.000 Parzellen im Besitz von ca. 200.000 Eigentümern sind, die über jede Nutzung dann mehrheitlich entscheiden müssen.

Derzeit verwaltet das Innenministerium (DOI) treuhänderisch ca. 226.000 Quadratkilometer indianischen Landes, davon ca. 43.370 Quadratkilometer für einzelne Indianer, aufgeteilt in 493.909 Parzellen bei nahezu 3 Mio. Anteilseignern. Die restliche Fläche ist Stammesland. Für die Eigentümer bringt diese treuhänderische Verwaltung kaum Ertrag: fast 50 % des Landes erzielt keinen Gewinn, und 2013 erhielten 60 % der indianischen Eigentümer lediglich 25 Dollar oder weniger für die Fremdnutzung ihres Landes.23

Drei weitere Gesetze sollen an dieser Stelle noch kurz erwähnt werden. Bereits drei Jahre vor Erlassen des „General Allotment Act“ wurde 1884 ein Verbot der Ausübung indianischer Religion erlassen. 1924 erhielten alle Indianer der USA den Status US-amerikanischer Staatsbürger. In manchen Reservationen wurden erst vier Jahre zuvor die letzten bewaffneten Reservationswachen der Armee abgezogen. Das Gesetz räumte der indianischen Bevölkerung zwar mehr Rechte ein, doch eine mögliche weitere Bedeutung dieses Gesetzes sollte erst drei Jahrzehnte später im Rahmen der Umsiedlungs- (relocation) und Termination-Politik der US-Regierung deutlich werden. 1934 wurde unter Präsident Franklin D. Roosevelt der „Indian Reorganisation Act“ verabschiedet. Dieses Gesetz sollte dazu beitragen, „die kulturelle und kommunale Identität der Stämme wieder aufzubauen. Die Indianer konnten Stammesräte wählen und erhielten nicht verteiltes Land zurück sowie deutlich mehr finanzielle Unterstützung für Landwirtschaft, Bildung, Kunsthandwerk und Gesundheit.“24

Traditionelle Indianer sahen hierin allerdings einen weiteren Versuch der Zerstörung ihrer Kultur und Selbstbestimmung. Für die Traditionellen war immer noch das Häuptlingssystem Leitbild der Stammesorganisation. Manche Stämme wie die Diné kannten nicht einmal ein hierarchisches Häuptlingssystem. Konkreter Anlass für die Schaffung der Stammesräte war tatsächlich das Bestreben, die reichen Kohlevorräte auf dem Land der Diné und Hopi abzubauen, doch für Verträge bedurfte es eines Vertragspartners. Also wurden mit den Stammesräten eben solche neu geschaffen. An dem Modell der sogenannten Stammesregierungen (Tribal Council) kritisierten und kritisieren auch heute noch viele Natives, dass mit der Übernahme des Regierungsmodells der westlichen Demokratien Machtmissbrauch, Korruption, Interessenspolitik und die Spaltung der Community Einzug gehalten haben. (In diesem Zusammenhang sei an dieser Stelle auf die Junta de Buen Gobierno, den Rat der guten Regierung, in den zapatistischen Gemeinden in Süd-Mexiko verwiesen. Dieses Modell versucht in den indigenen Gemeinden der Zapatisten mit einem Modell horizontaler, rotierender und kollektiver Instanzen die Entstehung personen- oder gruppenbezogener Macht aufgrund von Regierungsverantwortung zu verhindern.25

Die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts markierten eine erneute Wende. Der zunehmende Energie-, Wasser- und sonstige Ressourcenbedarf des Nachkriegsamerikas führte dazu, zur Deckung dieses Bedarfs neue Talsperren zu bauen, Grundwasservorkommen für die Versorgung fern gelegener Städte zu nutzen und zwecks Uran-, Kohle-und Kupferabbau ganze Landschaften zu verwüsten. Die Regierung bezeichnete diese Gegenden als „nationale Opfergebiete“ (national sacrifice areas), die den Interessen des „amerikanischen Gemeinwohls“ zu opfern seien. Und wieder wurden Indianer umgesiedelt, deren heilige Orte entweder geflutet oder zu Abbaugebieten erklärt. Längst war den Regierenden und Herrschenden klar geworden, dass über 60 % aller relevanten Bodenschätze auf indianischem Gebiet lagen. Was lag also näher als einen erneuten Versuch der Vertreibung zu unternehmen? Schließlich waren die Indianer doch nun Bürger der USA. Für was also Sonderrechte und Staatsausgaben für Bildungs- und Gesundheitswesen, Sozialprogramme und Lebensmittelhilfen in indianischen Reservationen? Wäre es nicht endlich Zeit für die Reservationsbewohner, diese Orte der Armut und Ausgrenzung zu verlassen und in die Großstädte zu ziehen und endlich die Reservationen aufzulösen? So könnten auch alle Garantien aus den Verträgen zwischen den indianischen Völkern und den USA hinfällig werden, die bislang regelten, dass Grund und Boden in Reservationen einen besonderen Gemeinschaftsstatus haben und daher nicht einfach individuell genutzt bzw. weiterverkauft werden können.

Die unter Präsident Eisenhower gestartete Terminations- und Umsiedlungs-Politik wurde bereits um 1943 entwickelt und zwischen 1953 und 1958 zwangsweise umgesetzt. Der „Indian Relocation Act“ trug dazu bei, dass tausende indianischer Familien in die Großstädte zogen und dort in kürzester Zeit in den ethnischen Ghettos der Stadtindianer in den klassischen Deklassierungskreislauf von Arbeitslosigkeit, Armut, Verelendung, Alkohol und Sucht, Gewalt und Apathie gerieten. Zwar verpflichtete sich die Regierung, die in die Städte wechselnden Indianer finanziell zu unterstützen, „jedoch nur, bis sie ihre ersten Arbeitsverhältnisse gefunden hatten. Nach Auflösung dieses ersten Arbeitsverhältnisses, aus welchem Grund auch immer, gab es für sie keine Hilfen mehr, und auch der Weg zurück in die Reservation blieb ihnen nun versperrt.“26

Zwischen 1953 und 1967 wurden ca. 61.600 Natives durch dieses Umsiedlungsprogramm in die Städte vertrieben, bis 1972 ca. 78.000, von denen ca. ein Drittel arbeitslos blieb. Um diese Umsiedlung zu erreichen, stoppte die US-Regierung sämtliche Unterstützungsleistungen des Bundes an die Reservationen. „Es wurde eine Liste mit sämtlichen Stämmen erstellt, die genügend fortgeschritten waren, um sofort terminiert, also aufgelöst, zu werden. Bis 1962 wurden 120 meist kleinere Stämme, jedoch auch einige größere wie die Menominee in Wisconsin oder die Klamath in Oregon, kurzerhand aufgelöst. Davon betroffen waren rund drei Prozent aller Indianer, die meisten an der Westküste wohnhaft. Die Indianer verloren ihren autonomen Sonderstatus. Sie mussten Steuern zahlen, was sie meist nicht konnten, und erhielten keine staatliche Unterstützung mehr. Die in der Vergangenheit vertraglich zugesicherten regelmäßigen Entschädigungszahlungen, als Gegenleistung für die Besiedelung indianischen Landes durch die Weißen, liefen aus. So waren die Indianer bald von Sozialhilfe abhängig. Sie verloren die Kontrolle über ihr Reservat und über ihr Land. Alleine zwischen 1953 und 1957, also in den ersten vier Jahren der Terminationspolitik verloren die Indianer 1,8 Millionen acres (7.300 km2). Bis zum Ende der Terminationspolitik sollten es über 2,4 Millionen acres (9.700 km2) sein.“27

Diese Politik wurde von Dillon Myer beaufsichtigt und vorangetrieben, jenem Mann, der während des Zweiten Weltkrieges für die Internierung japanisch-stämmiger US-Bürger verantwortlich war. Für diejenigen, die sich weigerten, ihre Reservationen zu verlassen, brachen harte Zeiten an. Viele Menschen, vor allem Alte, Kranke und Kleinkinder, starben an den Folgen von Hunger, Unterernährung, Kälte oder mangelnder medizinischer Versorgung. Leonard Peltier, indianischer politischer Gefangener und AIM-Aktivist, beschrieb diese Zeit wie folgt:

Hunger war das Einzige, von dem wir genügend hatten: Oh ja, davon hatten wir ausreichend, genug für jeden. Wenn verzweifelte Mütter ihre Kinder mit aufgequollenen Bäuchen ins Krankenhaus brachten, lächelten die Schwestern und sagten ihnen, die Kinder hätten nur „Blähungen“. Ein kleines Mädchen, das ganz in der Nähe von uns im Reservat wohnte, starb an Unterernährung. Für mich wurde sie „aufgelöst“.28

Ein weiteres Instrument, die indianische Bevölkerung in das System des weißen Amerika zu assimilieren, war die groß angelegte Umerziehung indianischer Kinder. Das Motto lautete „Kill the Indian – save the man“, zu Deutsch „Töte den Indianer, rette den Menschen“. Diese Zurichtung und Umerziehung erfolgte zum einen in den nordamerikanischen Internatsschulen (USA: Boardingschools, Kanada: Residential Schools), die entweder durch christliche Kirchen oder das Bureau of Indian Affairs (USA) bzw. das Department of Indian Affairs and Northern Development (Ministerium für indianische Angelegenheiten und Entwicklung des Nordens, Kanada) betrieben wurden, zum anderen durch die Freigabe indianischer Kinder zur Adoption und Pflege.

Der kanadische Spielfilm „Wo ich zuhause bin“ (Where The Spirit Lives) von Bruce Pittman aus dem Jahr 1989 zeigt sehr eindringlich die unmenschliche Praxis der Kindesentführung, Umerziehung und systematischen kulturellen Entwurzelung junger Natives in den Residential- oder Boarding Schools. Gegen den Willen der Eltern, Großeltern oder sonstigen Verwandten wurden die indianischen Kinder von Regierungsbeamten aus ihren Familien herausgeholt und in die Umerziehungsschulen gebracht. Hier mussten sie zuallererst ihre Haare abschneiden lassen, wurden mit DDT „von Ungeziefer befreit“ und anschließend in Anstaltskleidung gesteckt. Das Reden in ihrer eigenen Sprache, das Wahrnehmen eigener religiöser Zeremonien war den Kindern strengstens untersagt. Bei Regelverstößen wurden die Kinder geschlagen und angekettet oder durch Essensentzug bestraft. Auch das Reinigen des Mundes mit Seife war bei solchen Anlässen eine der üblichen Sanktionen. Aus dem Sanktionskatalog der US-Indian Boardingschools des BIA wurden Strafen wie Kahlrasur oder das Anlegen von Handschellen erst 1970 verboten.

Diese Form der Boardingschools, die in den USA erst in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts und in Kanada 1988 (andere Quellen sagen 1996) geschlossen wurden, waren häufig nicht nur Orte von Misshandlungen, sondern auch des massenhaften Missbrauchs indianischer Kinder. Wenn nach einigen Jahren die Kinder diese Umerziehungsschulen und Folterstätten weißer, christlicher „Zivilisation“ verließen, waren sie meist völlig von ihrer indianischen Herkunft entfremdet. Weder waren sie ihrer Stammessprache mächtig, noch kannten sie die Geschichte ihrer Kultur und ihrer Unterwerfung. Ihnen waren die Zeremonien ihrer Religion genauso fremd wie ihre engsten Familienangehörigen. Der indianische Aktivist, Singer/Songwriter und Schauspieler Floyd Crow Westerman (u. a. „Der mit dem Wolf tanzt“) schrieb in dem Song „Wounded Knee“ aus dem Album „The Land Is Your Mother“29 über seine Zeit an der Wahpeton Indian Boarding School in Nord-Dakota, „You put me in your boarding school, made me learn your white man rule, be a fool“30.

Doch nicht nur die gezielte Zurichtung indianischer Kinder für das Leben in der weißen „Gewinnergesellschaft“ beschrieb er, sondern den persönlichen Schmerz der Trennung, den tausende indianischer Kinder, Eltern und Familien durchmachten: „Zuerst dachte ich, ich sei in dem Bus, weil meine Mutter mich nicht mehr mochte, doch dann sah ich sie weinen. Es tat ihr weh. Und mir tat es weh, dies zu sehen. Ich werde das niemals vergessen.“

Dennis Banks, Mitgründer des American Indian Movement, beschrieb die Folgen seiner Boardingschool-Zeit und der dortigen Akkulturationsbemühungen u. a. durch die dort zur Verfügung stehenden Geschichtsbücher, die Indianer als „mörderische, blindwütige Wilde“ darstellten, wie folgt:

In einem dieser Bücher war ein Bild eines grinsenden Indianers, der ein kleines, blondes, weißes Mädchen skalpierte … Ich begann mich selbst dafür zu hassen, Indianer zu sein, und ich bildete mir immer mehr ein, ein echter weißer Junge zu sein. Meine weißen Lehrer und deren Bücher lehrten mich, meine eigenen Leute zu verachten. Weiße Geschichte wurde so zu meiner Geschichte, denn es gab auch keine andere. Wenn sie mit uns einmal in der Woche ins Kino gingen – in die 12-Cent-Matinee, jubelte ich für Davy Crockett, Daniel Boone und General Custer. Ich war auf der Seite der Kavallerie-Massaker an den Indianern. In meinen Fantasien war ich John Wayne, der Siedler vor den roten Feinden rettete. Ich träumte, ich sei ein Cowboy. Meine Lehrer waren sehr erfolgreich bei meiner Gehirnwäsche. Sie hatten mich zu einem „Apfel“ gemacht – außen Rot innen Weiß.31

Zu dem Genozid des 18. und 19. Jahrhunderts ist somit also der Ethnozid hinzugekommen. Allerdings überlebten viele Schüler diese Internierung nicht. In Kanada, wo in der Zeit zwischen 1870 und 1996 ca. 150.000 indigene Kinder aus ihren Familien herausgerissen wurden, lag die Sterblichkeitsrate der Schüler nach fünfjährigem Aufenthalt in einer indianischen Residential School bei ca. 35 - 60 %, vor allem, da viele der Schülerinnen und Schüler hier an Tuberkulose und Unterernährung litten. Oftmals erfuhren die Angehörigen nichts über Verbleib, Leben oder Tod, Todeszeitpunkt und -ursache oder Bestattungsort ihrer Kinder. Und wäre dies nicht schon schlimm genug, so wurde in den 40er und 50er Jahren des 20. Jahrhunderts die mörderische Internatsschul-Praxis in Kanada zusätzlich noch für medizinische Versuche an erkrankten und unterernährten Kindern genutzt.32

Weniger öffentliche Aufmerksamkeit wurde einer anderen, bis in die heutigen Tage anhaltenden Praxis der Kindesentnahme zuteil, nämlich der massenhaften Unterbringung indianischer Kinder bei Pflegefamilien und der Freigabe indianischer Kinder zur Adoption. Ende der 60er und Mitte der 70er Jahre stellte die „Association on American Indian Affairs“ (AAIA) fest, dass 25 - 35 % der indianischen Kinder nicht bei ihren Familien lebten. Mehrheitlich wurden die Kinder bei nichtindianischen Pflegeeltern untergebracht. So lebten zu dieser Zeit zum Beispiel in Minnesota laut der AAIA-Untersuchungen nur eines von 100 indianischen Pflegekindern und in Wisconsin gar nur eines von 1.158 Kindern bei indianischen Pflegeeltern. Als Gründe für die Fremdunterbringungen mussten immer wieder Aussagen herhalten, dass es für die Kinder und ihre Entwicklung doch viel besser wäre, nicht von ihren Eltern oder ihrem Volk erzogen zu werden. Die Familien seien zu arm, die Wohnmöglichkeiten wären zu primitiv oder es fehle an sanitären Einrichtungen. Mary Crow Dog schrieb, dass eine Toilette mit Wasserspülung für weiße Sozialarbeiter wohl wichtiger sei als eine gute, fürsorgliche Großmutter und dies allemal ein Grund wäre, die Kinder an weiße Fremde zu geben. Hierbei zeigt sich auch in ganz besonders perfider Weise die Kumpanei nichtindianischer Missionare und Sozialarbeiter, die selbst regelrechte Entführungen unterstützen, wie folgender Fall dokumentiert:

Zwei Frauen aus Wisconsin, die während der Weihnachtsferien 1971 die Pine Ridge Reservation besuchten, um ein Kind zur Adoption zu finden, baten die Mutter der dreijährigen Benita Rowland um Erlaubnis, das Kind auf eine mehrwöchige Reise mitnehmen zu dürfen. Auf Drängen eines örtlichen Missionars … unterschrieb Benitas Mutter ein Papier, das angeblich den zwei Frauen gestatte, mit dem Kind diese Reise zu machen. Sie nahmen prompt Benita nach Wisconsin mit und weigerten sich, sie den Eltern zurückzugeben. Es stellte sich heraus … dass das Papier … in Wirklichkeit eine Vereinbarung war, wonach sie alle Rechte aufgab und der Adoption von Benita zustimmte. Monatelang bemühten sich die Eltern erfolglos um die Rückkehr ihres Kindes. Der Schriftverkehr zeigt, dass die zwei Frauen – eine davon eine Geschichtsprofessorin an der University of Wisconsin – bereit waren, Benita käuflich zu erwerben. In einem Brief an Benitas Mutter rechtfertigten sie ihre Handlung mit dem Grund, dass ‚Gott es so gewollt habe. … Wir nahmen Ihnen Benita nicht weg; Sie gaben die physische Geburt, die wir nicht geben konnten, und wir können ihr die Möglichkeiten bieten, die Sie ihr nicht bieten können … so gehört sie uns beiden: Doch vor allem gehört sie dem Herrn.33

Ein Bericht des National Council of Juvenile and Family Court Judges aus dem Jahr 2011 zeigt auf, dass nach wie vor eine unverhältnismäßig hohe Zahl indianischer Kinder in Pflegefamilien und -einrichtungen zwangsuntergebracht ist. In einigen Reservationen sei sogar wieder eine zunehmende Tendenz solcher Kindsentnahmen zu verzeichnen, wobei keines dieser Kinder in eine indianische Pflegefamilie käme, auch wenn es diese gäbe. Die Wahrscheinlichkeit für ein indianisches Kind, aus der eigenen Familie herausgenommen und dann fremdplatziert zu werden, ist zwölf Mal höher als für weiße Kinder.

Brennpunkt dieser Entwicklung und Situation ist weiterhin Süd-Dakota. Hier werden jährlich ca. 600 Kinder aus den Familien genommen. 63 % der indianischen Kinder in diesem Bundesstaat sind nach Angaben der National Indian Child Welfare Association in Pflegeverhältnissen untergebracht.34

Dieses traurige Kapitel indianischer Geschichte kann allerdings nicht beendet werden, ohne auf zwei weitere Phänomene, nämlich die langjährige Praxis der Zwangssterilisation von indianischen Mädchen und Frauen und den Ökozid in den Abbauregionen von Uran, hinzuweisen.

Die massenhafte Zwangssterilisation indianischer Mädchen und Frauen vor allem in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts war ein weiterer Versuch, Amerika zu de-indianisieren. Diese Form des Völkermordes blieb lange Zeit der öffentlichen Wahrnehmung des weißen Amerika verschlossen und war auch hier in Europa unbekannt. Jedes Jahr wurden tausende, vor allem junge Frauen im gebärfähigen Alter, ohne deren Wissen und Einwilligung während Zahn-, Blinddarm- oder ähnlichen Operationen sterilisiert. Einzelne Berechnungen gehen davon aus, dass ca. 25 % der indianischen Frauen in dieser Zeit sterilisiert wurden. Im gleichen Zeitraum nahm die Geburtenrate der indianischen Bevölkerung um 25 % ab. Ähnliche Sterilisierungsprogramme wurden in den USA an afroamerikanischen und puertoricanischen Frauen und Mädchen sowie mit US-Unterstützung auch in lateinamerikanischen Ländern (Bolivien und Brasilien, später auch Peru) vor allem an Indigenen durchgeführt.

Anderen jungen Indianerinnen wurde gleich die Gebärmutter entfernt, und im Falle von Schwangerschaften wurden indianische Mädchen zur Abtreibung „beraten“. Erst mit dem Erwachen der Red Power-Bewegung und dem weltweit größer werdenden Interesse am Schicksal der nordamerikanischen Indianer, das sich auch im IV. Russell-Tribunal von 1984 niederschlug, wurde diese Genozidpraxis gegen die amerikanischen Ureinwohner einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.

Das „American Indian Journal“ schrieb über diese Praxis: „Sie nahmen unsere Vergangenheit mit dem Schwert und unser Land mit der Feder. Jetzt versuchen sie, unsere Zukunft mit dem Skalpell zu nehmen.“35

Zu der bisher beschrieben Genozid- und Ethnozidpraxis kam seit Ende der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts noch der Ökozid aufgrund der Zerstörung intakter Ökosysteme hinzu. Wie in Australien, Nigeria und einigen GUS-Staaten beginnen Anfang und Ende des nuklearen Kreislaufs, Uranabbau und Endlagerung, auch in den USA und Kanada vor allem in den Gebieten der indigenen Völker. Die Folgen sind Verstrahlung von Luft und Wasser, Vergiftung der Nahrungskette, Kontaminierung von Minenarbeitern aufgrund gesundheits- und lebensgefährdender Arbeitsbedingungen beim Uranabbau, toxische Umweltbelastung durch Chemikalien als Folge der Uranverarbeitung.

In den Uranabbauregionen Arizonas, Süd-Dakotas (beide USA) und Saskatchewans (Kanada) leben Teile der Hopi, Navajo (Dineh), Lakota/Dakota (Sioux), Cree, Chippewa und Dene in partiell radioaktiv verseuchten Reservationsgebieten. International tätige Konzerne hinterlassen in den genannten Regionen radioaktiv strahlende Abfälle, offene Probebohrlöcher und stillgelegte oder noch genutzte Abbaugebiete, die Wasser und Luft, Pflanzen, Wild und Vieh vergiften und Leben und Gesundheit der dort lebenden Menschen bedrohen.

So gab es 1986 in der Navajo-Reservation über 650 aufgelassene Bohrlöcher, Minen und Stollen und sechs stillgelegte Uranmühlen. Vor allem männliche Reservationsbewohner sahen in der Minenarbeit eine Chance, der vorherrschenden Armut zu entkommen. Über mögliche Gefahren erfuhren die indianischen Minenarbeiter nichts. 90 Cent Stundenlohn als Anfangseinkommen boten die Uran-Minen ihren Minenarbeitern. Nach den Sprengungen unter Tage durften diese dann in die unbelüfteten staubigen Stollen, um dort das Uranerz abzubauen. Ein Großteil des Uranerz-Gesteins blieb nach dessen Zerkleinerung durch die Gesteinsmühlen in von Wind und Wasser ungeschützten Tailings liegen und kontaminiert somit seit über 50 Jahren die gesamte Umgebung. In einigen Regionen wurde hieraus sogar Baumaterial für den Haus- und Straßenbau hergestellt.

Längst sind diese Siedlungen verlassen und gleichen abgeriegelten Geisterstädten. Erst nachdem die Bewohner dieser Wohnsiedlungen, meist Native Americans oder Angehörige der verarmten weißen Arbeiterklasse, über unerklärliche Symptome klagten und viele Bewohner schwer erkrankten, wurde dieser Skandal aufgedeckt.

Weitere seit langem bekannte und nachweisbare Folgen der Uranwirtschaft für Native Americans:

in der Pine Ridge Reservation/Süd-Dakota liegen die gemessenen Radioaktivitätswerte des Grund- und Oberflächenwassers an mehreren Stellen um ein Mehrfaches über dem erlaubten Grenzwert;

auffällig hohe Zahlen von Fehl- und Totgeburten sowie Missbildungen in Süd-Dakota und Nord-Saskatchewan.

das Jobwunder endete für viele Navajo- und Dene-Uranminenarbeiter aufgrund fehlender bzw. unzureichender Arbeitsschutzmaßnahmen und mangels Risikoaufklärung tödlich;

Western-Schoshone-Indianer leben in den kontaminierten Atomtestgebieten Nevadas, zudem drohte ihnen bis zum Amtsantritt von US-Präsident B. Obamas ein gigantisches Endlager hochradioaktiver Abfälle.

Die Gesundheitsstudie der Women of All Red Nations (WARN) aus dem Jahr 1980 beschreibt ausführlich die hohe Rate an Knochenkrebserkrankungen, problematischen Schwangerschaften oder genetischen Defekten als mögliche Folgen der nuklearen Kontaminierung des Trinkwassers in Teilen der Pine Ridge Reservation aufgrund von Uranvorkommen, -abbau und -verarbeitung sowie Einsatz uranhaltiger Munition in militärischen Versuchsgeländen (bombing ranges) in den Badlands. Und für die Navajo gilt fast vierzig Jahre später, also Ende der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts, dass Lungen- und Knochenkrebs sowie Nierenerkrankungen häufiger vorkommen als in der Gesamtbevölkerung, denn nicht nur die Minenarbeiter sondern auch deren Familien waren und sind radioaktivem Staub, Trinkwasser und kontaminierten Lebensmitteln ausgesetzt. (D.Hahn, 2017).

Und wenn dieses Kapitel überschrieben ist mit „Indian Wars Aren‘t over“, so sollten abschließend noch zwei weitere Aspekte erwähnt werden.

Erstens ist hier auf das Schicksal zahlreicher indigener Mädchen und Frauen hinzuweisen, die immer wieder Opfer von Entführungs-, Sexual- und Tötungsdelikten werden, die eben nicht von Familien- oder Stammesangehörigen begangen wurden. Anlässlich der Ermordung der 22-jährigen, im achten Monat schwangeren Lakota Savannah LaFontaine-Greywind schrieb Leonard Peltier: „Unsere indigenen Frauen sind zehnmal häufiger Opfer von Gewalttaten als jede andere Gruppe von Frauen. Und dies ist Gewalt von Non – Natives, das ist nun mal statistisch erwiesen. Unsere Frauen werden mehr als andere Frauen entführt, ermordet oder werden vermisst.“ (Statement from Leonard Peltier regarding Murdered Native Women, 30. August 2017).

Zweitens bezieht sich dies auch auf die Reaktionen des weißen Amerika auf die erwachende Gegenwehr vieler Indianer seit den 60iger Jahren gegen weitere Landvertreibung und Uranabbau, gegen die Zerstörung intakter Landschaften und spiritueller Orte, gegen rassistische Polizeiübergriffe und Justiz sowie die anhaltenden Versuche, die Forderung nach Selbstbestimmung und Einhaltung der Verträge aus dem 19. Jahrhundert zu unterdrücken. Die Bedeutung von Land ist dabei nach wie vor wichtiges Element indianischer Spiritualität und Philosophie. „Mother Earth“ oder „Pacha Mama“ ist untrennbar mit dem Leben und Denken traditioneller Indianer und Indios verbunden. Dabei ist der Mensch ein Bestandteil eines großen Kreislaufs und somit lediglich ein Element der Dinge und (Lebe)Wesen eines Territoriums, die ihn umgeben. Aktuell hat dies in Mexiko Subcommandante Marcos beschrieben, in dem er ausführte:

Ein indianisches Volk ohne eigenes Territorium ist kein indianisches Volk mehr. Die Sprache und diese Dinge zerfallen allmählich, aber wenn das Land zerstört wird, dann haben wir keine Wurzeln mehr. Es ist so, als würden sie unsere ganze Familie töten … Es ist, als würden sie dir die Seele herausreißen.36

Oder wie es die Anishinabe-Aktivistin Winona LaDuke formulierte: „Wenn ein Volk keine Kontrolle über sein Land hat, hat es auch keine Kontrolle über sein Schicksal.“

Es war der Black Power- und Black Panther-Aktivist und -Theoretiker Kwame Turé alias Stokely Carmichael, der dies in seiner Konsequenz so ausdrückte: „Wenn von Befreiung gesprochen wird, von wahrer Befreiung, dann ist vom Land die Rede. Und wenn vom Land in dieser Hemisphäre die Rede ist, dann ist auch von den amerikanischen Indianern die Rede.“37 Am Ende des vorliegenden Buches wird dieser Aspekt indianischen Widerstands anhand anhaltender Konflikte und Kämpfe um die Zerstörung und profitorientierte Nutzung von Land nochmals deutlich. Und auch hier wird sich wieder zeigen, dass vor allem Indigene ins Fadenkreuz beauftragter Killer geraten, sobald sie sich für Umweltschutz und Menschenrechte engagieren (Kap. 8).

______________

2 Zum Problem der Kolonialisierung indianischen Widerstands z. B. durch die Kategorien materialistischen Denkens s. a. Kap. 3: Von Red Power zu AIM …

3 hierzu ausführlicher Kap. 4 ff.

4 Charles C. Mann: Amerika vor Kolumbus, S. 38 f, 2016

5 unterschiedliche Quellen benennen 9.629.091 km2 bzw. 9.809.000 km2

6 E. Frey: Schwarzbuch USA, 2008, S. 25

7 L. L. Mathias: Die Kehrseite der USA, 1971, S. 287

8 Claus Biegert: 200 Jahre ohne Verfassung. 1976. S. 21

9 V. Hopkins: USA Der Südwesten, 1998, S. 34

10 Claus Biegert: a.a.O., S. 19

11 R. Winter: Ami Go Home. 1989. S. 138

12 ebd., S. 140

13 zitiert nach Charles C. Mann, Amerika vor Kolumbus, S. 36

14 siehe Kapitel 3 „Treaty Council“

15 http://de.wikipedia.org/wiki/Langer_Marsch

16 C. Biegert: a. a. O., S.23

17 R. Winter: a. a. O., S. 140 f

18 http://de.wikipedia.org/wiki/Angriff_am_Washita

19 W. Haberland: 2014, S.21; 1986, S. 17 f und H.& H. Koch: 2014

20 General Philip Sheridan, zitiert nach Michael S. Sample: Bison. Symbol of the American West, 1987, S. 32

21 zit. nach Fotowand im „Museum of American Bison“, Rapid City 2014

22 Michael S. Sample, a. a. O.; Sample, H. & H. Koch: 2014, S.,90, 127; Jörg Michel TAZ 4.5.2017, S. 9.

23 M. Seiller: COYOTE, 100/2013-14

24 E. Frey. a. a. O. S. 36

25 S. a. Subcomandante Marcus: Kassensturz. 2009

26 American Indian Movement Support Group Hamburg, 1975, S. 8

27 http://de.wikipedia.org/wiki/Termination_(Indianerpolitik

28 L. Peltier: Mein Leben ist mein Sonnentanz. 2000. S. 113

29 in Deutschland erschienen bei Trikont „Unsere Stimme“ Schallplatten GmbH, München

30 „Ihr habt mich in euer Internat gebracht, mir eure Regeln beigebracht, einen Idioten aus mir gemacht“

31 D. Banks: a.a.O., S. 28

32 u. a. M. Seiller: COYOTE 100/2013-14

33 zit. nach: U. Wolf: Mein Name ist Ich Lebe. 1980, S. 161 f

34 Quelle: u. a. M. Seiller, COYOTE 92/2011

35 ebd. S. 154

36 Subcomandante Marcos, a. a. O., S. 45

37 zit. nach W. LaDuke: Vom Natürlichen zum Synthetischen und wieder zum Natürlichen zurück, in: W. Churchill (Hrsg.) Das indigene Amerika und die marxistische Tradition, 1993, S. 36

Ein Leben für die Freiheit

Подняться наверх