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PETER IM HOTEL
ОглавлениеLONDON, 28. JULI, 15.29 UHR
London im Sommer kann erdrückend sein. Ein Hitzekessel liegt über der Acht-Millionen-Einwohner-Stadt. Die Luft ist heiß und drückend, wie in einem unbelüfteten Raum, auf den den ganzen Tag die Sonne brennt. Peter ist durchgeschwitzt. Er ist zu Fuß unterwegs vom Bahnhof Liverpool Street zu seinem Hotel, den Rollkoffer hinter sich herziehend, den Rucksack auf dem Rücken klebend. Den Nächsten, der ihm vom angeblich ständig schlechten Wetter in Großbritannien erzählt, werde er persönlich zusammenstauchen, hat er sich irgendwo zwischen der Fenchurch Street und dem Tower überlegt.
Peter ist erleichtert, als er in etwa 30 Metern Entfernung ein Hotel-Schild an einem Gebäude sieht: Das sollte es nun endlich sein – seines! »Ein traditionelles englisches Hotel, zentral gelegen«, hatte es in der Beschreibung im Internet geheißen. Wenn man davon absieht, dass Peter vom Bahnhof Liverpool Street – der ebenfalls als zentral beschrieben wird – bis hierher nun eine knappe dreiviertel Stunde zu Fuß unterwegs gewesen ist, mag das zutreffen. Er beschließt, sich die soeben gemachte Erfahrung in sein Gedächtnis zu meißeln: Entfernungen scheinen in dieser Millionenstadt relativ zu sein.
Peter wischt sich den Schweiß von der Stirn und richtet seinen Rücken auf. Ein Taxi wäre eine gute Idee gewesen. Oder wenigstens eine Fahrt mit dem Bus oder der U-Bahn. Aber Peter war erstens geizig und kannte sich zweitens mit dem Nahverkehrsnetz in London nicht ansatzweise aus. Und eigentlich hatte er nach seiner langen Zugfahrt einfach keine Lust mehr auf öffentlichen Nahverkehr.
Peter atmet noch einmal tief durch, dann setzt er sich wieder in Gang. Er rückt dem lang ersehnten »Hotel«-Schild immer näher. Es hängt es an einem alten Gebäude: hell, fünf Stockwerke hoch, dezent verziert, vermutlich aus der Zeit der Jahrhundertwende. Leider ist wohl seitdem nicht mehr viel an dem Haus getan worden, vermutet Peter. Der Putz bröckelt an einigen Stellen und er ist mit einer feinen dunkelgrauen Schicht von den Abgasen der vergangenen Jahrzehnte bedeckt. Auch das Werbeschild sieht arg mitgenommen aus. Am Fenster hängt eine Leuchtschrift: »Vacancies«. Im Dunkeln muss man das »V« vermutlich erahnen – es schimmert nur noch schwach. Peter beginnt, sich erneut zu ärgern: Er hatte dieses Hotel über eine Internetseite gebucht, in der es sehr viel vollmundiger angepriesen worden war. Da stand etwas von »typisch englischem Charme« – Peter hofft, dass die Engländer mit diesem Hotel nicht bereits ihr gesamtes Charmepotenzial ausgeschöpft haben. Er atmet einmal mehr durch und schleppt sich und sein Gepäck die wenigen Treppenstufen hinauf zum Eingang.
GUTE NACHT – NUR MIT DEM RICHTIGEN SCHILD
Mit den Schildern »Vacancies« (freie Zimmer) und »No Vacancies« (keine freien Zimmer) weisen britische Hotels und Pensionen vor allem in Touristengegenden auf ihre aktuelle Auslastung hin. Man tut vor allem bei Bed-&-Breakfast-Pensionen gut daran, diese Information ernst zu nehmen und nicht dennoch einen Versuch zu unternehmen, ein Zimmer zu bekommen. Meist hängt »No Vacancies« vor der Tür, gerade weil die Betreiber nicht noch 20 weiteren Gästen sagen möchten, dass ihre Betten komplett belegt sind.
Es riecht muffig. Das Haus mag 100 oder mehr Jahre an diesem Standort hinter sich haben – viel gelüftet worden ist in dieser Zeit jedenfalls nicht, mutmaßt Peter. Doch die Atmosphäre gefällt ihm. Die Wände sind weiß, an der Decke hängt Stuck, ein kleiner Kronleuchter ziert den Eingangsbereich, gleich links steht ein schmaler Rezeptionstresen aus dunklem Holz – und fast hätte er den kleinen Mann dahinter übersehen. Mittleres Alter, Haarkranz, penibel gebügeltes Hemd, Manschettenknöpfe: Hier ist es endlich, das England, das Peter erwartet hatte. Der Rezeptionist schaut hoch.
»Guten Nachmittag, checken Sie ein?«, fragt er. Peter stutzt. Denn das eben Ausgesprochene hörte sich eher nach »Gu’Nachtg, Checkn?« an. Was für ein seltsamer Dialekt. Wo war denn das gute alte Oxford-Englisch, das ihm sein Lehrer in der 11. Klasse so penetrant beibringen wollte, als sich Peter nach einem USA-Schüleraustausch tief in seiner Amerikaphase befand. Er war derart angetan vom amerikanischen Lebensstil, dass er auch im Unterricht begann, Worte so wie seine Gastfamilie von der Westküste mit breitestem Akzent auszusprechen. Bis ihn sein Lehrer, Herr Heitmüller, vor die Wahl stellte. Peter beherrschte das amerikanische Englisch als Elftklässler mit drei Wochen USA-Erfahrung bei Weitem nicht so perfekt, als dass er nicht doch immer wieder auf britische Ausdrücke hätte zurückgreifen müssen. »Wenn du amerikanisches Englisch sprechen willst, dann mach es richtig«, hatte ihn Herr Heitmüller damals aufgefordert. »Oder lass es sein.«
Der eingeschüchterte USA-Fan ließ es widerwillig sein.
Schade eigentlich, überlegt sich Peter nun in dieser Sekunde an der Rezeption seines Londoner Hotels. Wenn er das perfektioniert hätte, könnte ich den Herrn vielleicht besser verstehen. Peter lächelt und nickt freundlich. Ja, er möchte gern »nchckn«.
Die Reaktion war offenbar korrekt. Der gebügelte Herr verfällt in eine Prozedur, die Peter als Eincheckphase analysiert.
»Ihr Name, Sir?«, fragt der Rezeptionist. Doch es kommt wieder nur »Nämsör« bei Peter an. Der will gerade höflich nachfragen, was der Herr denn wohl mit seiner Frage gemeint habe, da hält dieser ihm schon eine Anmeldekarte unter die Nase, worauf er bereits die auszufüllenden Felder angekreuzt hat: Name, Anschrift, Zahlungsart, Kennzeichen.
Kennzeichen? Peter macht einen Strich. Er will zwar noch einen Wagen anmieten für den größten Teil seines Urlaubs, doch hier in London verzichtet er dankend auf die aktive Teilnahme am Straßenverkehr. Er hat ausnahmslos Horrorgeschichten darüber gehört.
»Single? Twin? Double?«
Das wird Peter jetzt doch ein bisschen zu persönlich. Ja, er ist seit Kurzem wieder Single, nein, er hat keinen Zwillingsbruder, und Doppel? Sind wir hier beim Tennis? Ach, Blödsinn – Peter begreift es mit leichter Verzögerung: Der Herr fragte lediglich nach dem Zimmerwunsch. »Single«, sagt er, ohne so recht zu begreifen, was der Herr mit »Twin« gemeint haben könnte.
Peter erhält seinen Zimmerschlüssel, nicht ohne noch über die Frühstückszeiten aufgeklärt zu werden: 7 bis 9.30 Uhr. Da heißt es, rechtzeitig aus dem Bett zu kommen. Peter nimmt sein Gepäck und schleppt es die schmale steile Treppe hinauf – seine Frage nach einem Fahrstuhl wurde vom Herrn hinter der Rezeption diesmal lautlos verneint, mit schlichtem Kopfschütteln. Er sei defekt, liest er auf einem Schild, auf das der Herr zeigt. Der Monteur sei benachrichtigt und werde noch heute erwartet, heißt es darauf weiter. Also zu Fuß los.
Peter hat noch nie ein derart verbautes Gebäude erlebt: Auf kleinstem Raum sind in diesem Hotel Unmengen an Treppenstufen integriert. Einmal muss er sogar vier Stufen hinaufsteigen, um einen knappen Meter weiter wieder vier Stufen hinabzugehen, Koffer und Rucksack immer im Schlepptau.
Gefühlte 1000 Stufen weiter ist Peter am Ziel: Zimmer 27. Er steckt den Schlüssel ins Schloss und öffnet die Tür. Wow! Peter ist beeindruckt: In so wenig Raum so viele Möbel zu stellen, dürfte eine echte Leistung sein: Kurz nach der Zimmertür beginnt bereits das Bett, im Anschluss die Wand. Links neben dem Bett steht ein kleiner Nachttisch, direkt angrenzend die nächste Wand mitsamt einem kleinen Fenster nach draußen. Rechts neben dem Bett steht ein kleiner Schrank, daneben befindet sich eine geöffnete Tür – vermutlich folgt dahinter das Badezimmer. Alles in allem nicht viel Fläche zur freien Bewegung. Eher Käfighaltung als Biostandards.
Peter hievt sein Gepäck ins Zimmer und schließt die Tür hinter sich. Neben der Eingangstür entdeckt er nun noch ein kleines Fernsehgerät. Doch auch ein Blick ins Badezimmer heitert ihn nicht weiter auf: Dusche, Waschbecken und Toilette sind darin auf ebenfalls kleinstem Raum untergebracht. Wenn er sich anstrengt, überlegt Peter, müsste er zumindest seine Füße duschen können, während er auf der Toilette sitzt, und sich parallel die Zähne am Waschbecken putzen. Aber wer will das schon?
Peter setzt sich aufs Bett und lässt sich nach hinten fallen. Irgendetwas kommt ihm seltsam vor. Er tastet mit den Händen das Bett ab und blickt auf: Es fehlt eine Federdecke. Peter hat sich auf eine dünne Wolldecke fallen lassen, die auf einem Laken liegt. Mehr gibt es – abgesehen vom Kopfkissen – nicht. Peter überkommt ein leichtes Gefühl von Ekel, als er daran denkt, wann diese Wolldecke wohl das letzte Mal gereinigt worden ist. Er setzt sich auf und erblickt auf dem zweiten Nachttisch zwischen Bett und Schrank erfreut einen Wasserkocher, zwei Becher und ein kleines Körbchen mit Teebeuteln und löslichem Kaffee. Ein Tee nach dieser Anreisetortur – das wäre jetzt genau das richtige. Aber was mag ihm das Hotel dafür berechnen? Das Teuerste an solchen Übernachtungen sind ja meist die Preise der Minibars. Neulich in Paris hatte sein Hotel vier Euro für eine Cola verlangt. Dafür könne er sich einen ganzen Träger kaufen, hatte sich Peter daraufhin an der Rezeption echauffiert. Und nun eine ganze Teeplantage? Sei es drum – Peter lässt es drauf ankommen. Er kocht sich Wasser auf für einen Beutel Earl Grey, lehnt sich einmal mehr zurück und denkt an seine Jugend, die er in einem Zimmer ähnlicher Größe verbracht hatte. Ein Grund mehr, sich in das Londoner Getümmel zu stürzen, statt zu lange im Hotelzimmer zu verbringen.
KLEINE TEEKUNDE
Earl Grey ist eine traditionell aus chinesischen Teeblättern zusammengestellte Teemischung, die – ebenfalls traditionell – mit Bergamotteöl aromatisiert wird. Heute gibt es jedoch überwiegend andere Varianten, auch mit indischen Teeblättern. Zudem wird in der Massenproduktion meist künstliches Aroma zugegeben statt Bergamotteöl. Benannt ist der Tee nach dem britischen Premierminister Charles Grey (1764–1845), der in seiner Amtszeit neben anderem das Preismonopol der East India Company im Teehandel aufhob.
Was hat Peter falsch gemacht?
Es war lange Zeit gar nicht so leicht, in Großbritannien ein gutes, aber bezahlbares Hotel zu finden. Britische Hoteliers hatten sich auf ihren Traditionen ausgeruht und auf den Reiz, den ihre Hotels früher einmal gehabt haben mochten. Doch viele vergaßen, dass man selbst eine Privatwohnung dann und wann renovieren sollte – ein Hotelzimmer, in dem fast jede Nacht neue Gäste wohnen, erst recht.
Vor allem seitdem immer mehr internationale Ketten auf die Insel drängen und sich dort auch einige britische Billigketten ausgebreitet haben, sind die alteingesessenen Hoteliers jedoch unter Druck geraten. Die finanziell meist bestens aufgestellten Konzerne eröffnen fast monatlich neue Hotels, werben mit günstigen Preisen, und schicken alle paar Jahre Maler, Maurer und Innenarchitekten durch ihre Häuser, um stets ein gewisses Niveau an Ausstattung zu halten (wozu sie mitunter durch Verträge verpflichtet sind). Wer heute bei der Hotelsuche auf das Kleingedruckte achtet, auf die Lage und sich idealerweise auch noch ein paar Bilder oder Bewertungen anderer Gäste im Internet heraussucht, der ist meist gut bedient und dürfte nicht so schnell hereinfallen.
Unterschieden wird in Großbritannien zwischen Einzelzimmern (Single), Doppelzimmern (Double) und jenen Doppelzimmern, in denen nicht ein großes Bett mit einer großen Decke, sondern zwei kleine voneinander getrennte Betten stehen (Twin). Sind Sie also beispielsweise mit einem Kollegen oder Bekannten unterwegs, mit dem Sie sich ein Zimmer teilen, bietet sich Letzteres an – es sollte auch in jedem Hotel erhältlich sein.
Wer Wert auf Federbetten legt, sollte das rechtzeitig an der Rezeption sagen – oder besser schon bei der Buchung angeben. Denn die sind nach wie vor meist nur in großen Hotelketten üblich. Kleine Häuser halten an der Tradition fest, bei der man sich mit einem Laken zudeckt, auf dem wiederum eine Wolldecke liegt. Das ist mitunter gewöhnungsbedürftig und vor allem im Winter nicht immer ausreichend warm.
Der Wasserkocher samt Teebeuteln gehört übrigens zum festen Inventar von Hotels und Pensionen in Großbritannien (und im Grunde auch fast dem gesamten englischsprachigen Ausland). Sie dürfen ihn kostenlos benutzen, quasi als Aufmerksamkeit des Hauses.
Dialekte
Die englische Sprache ist reich an Dialekten, doch anders als in Deutschland sind sie nicht zwingend mit einzelnen Regionen verbunden. Auch das Klassendenken spielt mit hinein. Gut gebildete, wohlsituierte Briten legen meist überall im Land Wert darauf, ein reines Englisch zu sprechen, ganz gleich, aus welcher Region sie stammen. So sind Dialekte beispielsweise in Finanz-, Unternehmer- und Politikkreisen selten zu finden. Darüber hinaus gibt es aber im ganzen Land Dutzende von sprachlichen Unterschieden. Eng mit London verknüpft ist beispielsweise das sogenannte Cockney English, ein Slang, der früher von Bewohnern der City of London gesprochen wurde. Bestimmte Reime sind typisch für diesen Dialekt, außerdem wird das »H« dabei nicht gesprochen. Da sich die City of London inzwischen zum Finanzdistrikt der Stadt entwickelt hat, ist auch das Cockney English deutlich verdrängt worden. Man hört es heute nicht mehr oft auf der Straße. Auch die früheren Arbeiterregionen um Manchester haben ihren eigenen Dialekt entwickelt, der für Auswärtige mitunter schwer zu verstehen ist. Typisch für einige schottische Regionen ist das rollende »R«. In Nordirland wird häufig die letzte Silbe eines Satzes betont. Insgesamt ist es wie bei deutschen Dialekten: Man kann sich auch als Auswärtiger »reinhören« und versteht es dann recht gut.