Читать книгу Fettnäpfchenführer Großbritannien - Michael Pohl - Страница 15
Оглавление5
PETER GEHT SPAZIEREN
LONDON, 29. JULI, 9.55 UHR
Mit Anarchie haben die Briten nichts am Hut. Dachte Peter zumindest bislang. In dieser Sekunde ist er sich da allerdings nicht mehr ganz so sicher: Er steht an einer Fußgängerampel unweit seines Hotels in London. Vor ihm ein auffälliger schwarzer Kasten mit einem kleinen weißen runden Knopf, darüber ein leuchtender Schriftzug mit dem Wort »Wait« (Warten) – die Ampel zeigt für Fußgänger rot, wer die Straße überqueren möchte, muss ganz offensichtlich auf den Knopf drücken. Kennt man, auch aus Deutschland. Peter ist Fußgänger, also drückt und wartet er, wie er das als Kind von seinen Eltern und später in der Schule im Verkehrserziehungsunterricht eingebläut bekommen hat. Ganz logisch. Aber wieso ist er der Einzige, der wartet? Seit gut einer Minute steht er vor dem leuchtenden Hinweis »Wait«, und seitdem ziehen links und rechts Fußgänger an ihm vorbei auf die andere Straßenseite. Gut, ein Auto ist seit einer Minute auch nicht vorbeigekommen – aber wenn die Ampel doch nun mal rot zeigt ...
Peter erinnert sich an eine Begegnung mit einem Polizisten daheim in Deutschland, als er nach der Arbeit auf dem Fahrrad an einer menschenleeren Straße bei Rot über die Ampel gefahren war. Der eifrige Beamte zeigte sich damals weder beeindruckt von der Tatsache, dass weit und breit kein Auto in Sicht gewesen war, noch dass Peter aus Erfahrung wusste, dass einem in jener Gegend der Stadt um die damalige Uhrzeit praktisch nie auch nur irgendein Verkehrsmittel begegnete. 20 Euro Bußgeld und eine ausgiebige Belehrung über die deutschen Straßenverkehrsregeln waren die Folge. Seitdem hatte sich Peter nie wieder über diese Straße gewagt, ohne mindestens dreimal nach jeder Seite Ausschau zu halten nach einem eventuell auflauernden Polizisten. Bei Rot war er dann allerdings weiterhin dann und wann gefahren.
Peter beginnt unruhig zu werden, und zieht nun auch hier in London die Möglichkeit in Erwägung, sich in Bewegung zu setzen, zeige die Ampel, was sie wolle. Doch die nimmt ihm die Entscheidung in diesem Moment ab: Der Schriftzug »Wait« erlischt, stattdessen leuchtet ein kleines grünes Ampelmännchen auf und es erklingt ein schriller, penetranter Piepton. Allein der würde jeden über die Straße treiben, ganz gleich, welche Farbe das Ampelmännchen hat.
Peter schüttelt den Kopf: Anarchie im Straßenverkehr – wenn das die Königin wüsste. Er marschiert weiter in Richtung U-Bahn-Station. Im Hotel hatte er einen kleinen Stadtplan bekommen, der zwar vor Werbeanzeigen nur so strotzte, auf dem aber auch die U-Bahn-Linien eingezeichnet waren. Peter wollte sich den Hyde Park anschauen, und so hielt er Ausschau nach der U-Bahn-Station. Wo er aussteigen musste, wusste er immerhin: Marble Arch hieß die Station, die sich offenbar an einer Ecke des Parks befand – dort musste er hin.
MARBLE ARCH
Marble Arch ist ein bekannter Torbogen in London. Das aus weißem Marmor erstellte Bauwerk (daher der Name) steht heute an einer Ecke des Hyde Parks am Ende der Oxford Street, direkt neben der gleichnamigen U-Bahn-Station. Entworfen wurde es 1828 vom Architekten John Nash jedoch für einen anderen Ort: Marble Arch stand bis 1850 als östliches Eingangstor vor dem Buckingham Palace, dessen heutiges Aussehen in Teilen ebenfalls von Nash entworfen worden war. Dann wurde der Torbogen im Zuge von Umbauarbeiten an seinen heutigen Ort versetzt – er stand dem neuen Ostflügel im Weg, an dem sich heute der bekannte Balkon befindet, auf dem sich die königliche Familie zu besonderen Anlässen zeigt. Der Konstantinbogen in Rom stand Pate für den Entwurf des Marble Arch.
Doch noch war er nicht einmal an der U-Bahn-Station. Vor lauter Stadtplanstudiererei wäre Peter vorhin schon beinahe überfahren worden, weil er beim Überqueren einer Straße instinktiv auf die falsche Straßenseite geschaut hatte. An Überwegen sind in London auf dem Asphalt Hinweise angebracht wie »Look right« oder »Look left« (»Rechts schauen« / »Links schauen«). Aber wer die Straße zwischendurch mal überqueren wollte, musste selbst aufpassen. Für ungeübte Kontinentaleuropäer keine leichte Übung, wie Peter inzwischen einsehen muss.
An einem Zebrastreifen wird er erneut auf die Probe gestellt: Unter dem Eindruck des dichten Autoverkehrs in der Londoner Innenstadt stellt sich Peter brav an den Rand des Fußweges und wartet darauf, dass ein Auto anhält und ihn die Straße überqueren lässt. Doch aus irgendeinem Grund scheint es nicht sein Tag zu sein: Niemand tut ihm diesen Gefallen. Peter sieht schon die Schlagzeilen vor sich: »Deutscher Tourist an Zebrastreifen verhungert«, als sich neben ihm eine alte Dame mit einem Gehwagen an den Straßenrand stellt, um offenbar selbst auf die andere Straßenseite zu gelangen. Sie grüßt erst Peter freundlich, dann den nächsten nahenden Autofahrer und rollt auch schon los auf den Zebrastreifen. Der Autofahrer hebt die Hand zum Gruß und lässt sie passieren. Peter nutzt die Chance und schickt sich an, ebenfalls auf die andere Seite zu gelangen.
Er versteht die Welt nicht mehr: Er ist in einem Land, in dem ihn alte Damen über den Zebrastreifen helfen müssen – und nicht umgekehrt. Ob das etwas damit zu tun hat, dass auch die Autos auf der »falschen« Seite fahren? Peter hat für heute genug von Experimenten im Straßenverkehr: Er beschließt, den Rest des Weges mit einem der alten schwarzen Londoner Taxis zurückzulegen.
LONDONS TAXIS
Sie sind in etwa so berühmt wie die roten Telefonzellen oder das englische Frühstück: Die schwarzen Taxis werden überall auf der Welt mit London in Verbindung gebracht. Dabei gibt es sie in vielen britischen Städten.
Hinter dem schwarzen Taxi verbirgt sich heute das Modell X4 des Herstellers London Taxis International Limited (LTI). Das Unternehmen aus Coventry ist eine Tochterfirma der Manganese Bronze Holdings und stellt die Fahrzeuge seit 1989 her (damals unter der Bezeichnung LTI Fairway). Vorgänger waren der FX4 und FX3 – mit Letzterem hatte der Automobilhersteller Austin 1948 den Grundstein für die Black Taxis der noch heute vorherrschenden Bauart gelegt. Das Unternehmen wurde schnell zum Marktführer in diesem Segment. Schwarz aber waren die britischen Taxis genau genommen bereits zuvor: 1897 stellte die London Electrical Cab Company ein Modell vor, das wegen seines Geräusches unter der Bezeichnung Hummingbird (Kolibri) bekannt wurde. Kurz darauf folgte die erste Benzinvariante.
Vom Fahrzeugmodell abgesehen unterscheidet sich Taxifahren in Großbritannien heutzutage nicht wesentlich von dem in Deutschland: Fahrzeuge können vorab bestellt, an einem Taxistand gemietet oder auf der Straße herangewinkt werden. Der Fahrpreis wird über ein Taxameter geregelt, das Fahrzeit, Streckenlänge und Tageszeit berücksichtigt. Fürs Trinkgeld wird in der Regel einfach bis zum nächsten Pfundbetrag aufgerundet – oder auf ein paar Pfund mehr, ganz nach Belieben.
Neben den Black Taxis gibt es vor allem in London sogenannte Minicabs, private Fahrer mit Fahrzeugen unterschiedlicher Hersteller. Viele von ihnen haben kein Taxameter – deswegen tut man gut daran, den Preis vor der Fahrt auszuhandeln. Wichtig: Bei Minicabs auf das offizielle Siegel von Transport for London an der Scheibe achten (sieht ähnlich aus wie das U-Bahn-Symbol mit einem Kreis, den ein Strich durchbricht, dazu der Hinweis »Private Hire«) – denn es gibt auch illegale Minicabs, deren Benutzung nicht erlaubt ist.
Was hat Peter diesmal falsch gemacht?
Im Grunde nichts – nur sind Theorie und Praxis nicht immer dasselbe. Streng genommen gilt auch im Straßenverkehr des Vereinigten Königreichs die international übliche Regel: Bei Rot stehen, bei Grün gehen – egal, ob für Fußgänger, Auto- oder Fahrradfahrer. Doch in der Praxis hat sich eine andere Verfahrensweise etabliert: Weil der Autoverkehr in Großbritannien viele Jahre als der einzig wahre Weg der Fortbewegung galt, hatte er auch im Straßenverkehr meist Vorrang. Das führte dazu, dass Grünphasen für Fußgänger mitunter überaus selten und vor allem kurz waren. Der kleine Mann von der Straße nahm so sein Schicksal selbst in die Hand: Er überquerte die Straße, sobald sie frei war – egal ob bei Rot oder Grün. Das funktionierte leidlich, wurde oftmals selbst von Polizisten so gehandhabt und etablierte sich mit den Jahren. Und wie es so ist: Einmal etabliert, lassen sich solche heimlichen Regeln nur schwer wieder ändern – auch wenn das Überqueren der Straße bei Rot im Vereinigten Königreich für Fußgänger genauso wenig erlaubt ist wie in den meisten anderen Ländern. Als Kontinentaleuropäer sollte man sich indes durchaus gut überlegen, wann, wo und bei welcher Farbe man auf die andere Straßenseite geht. Der Linksverkehr bewirkt leider auch, dass man in seinen eingefahrenen Bewegungsabläufen instinktiv zur falschen Seite schaut, und im schlimmsten Fall ein Auto auf der Straße übersieht.
Ironie dieser Entwicklung: Die erste Fußgängerampel der Welt stand ausgerechnet in England, vor dem Parlament von Westminster. Sie wurde am 10. Dezember 1868 aufgestellt und glich einem Eisenbahnsignal, das bei Dunkelheit mit Gaslampen betrieben wurde.
Für Autofahrer gilt diese anarchische Entwicklung übrigens nicht: Wer mit seinem Fahrzeug ein Rotlicht missachtet, kann empfindlich zur Kasse gebeten werden. Zudem gilt bei vielen Fußgängerampeln eine Besonderheit: Es gibt neben Grün und Rot noch eine Art Übergangsphase, in der für Autofahrer das Gelblicht blinkt und für Fußgänger das Grünlicht. In dieser Zeit dürfen Fußgänger nicht mehr beginnen, die Straße zu überqueren, sie dürfen aber in Ruhe zur anderen Straßenseite gehen, wenn sie noch zu Beginn des Blinkens damit begonnen haben. Autos dürfen anfahren, sobald sich wirklich kein Fußgänger mehr auf der Fahrbahn befindet – selbst wenn das Gelblicht noch blinkt. Zur Warnung sei gesagt: Briten sind sehr empfindlich, was Drängeln angeht: Selbst wenn sich ein Fußgänger Zeit lässt beim Überqueren der Straße, muss man ihm diese Zeit lassen. In keinem Fall sollte man hupen und erst recht nicht anfahren oder auch nur beginnen zu rollen.
Auch bei Zebrastreifen gilt eine etwas andere Regel als in Deutschland: Autofahrer sollten darauf achten, ob ein Fußgänger den Zebrastreifen überqueren möchte, und dann möglichst auch anhalten – verpflichtet ist man dazu aber erst, sobald ein Passant auch wirklich den Fuß auf der Straße hat. Als Fußgänger bedankt man sich per Handzeichen beim Autofahrer, wenn dieser angehalten hat. Zu erkennen sind Zebrastreifen im Vereinigten Königreich oftmals schon von Weitem durch gelb blinkende Glaskugeln auf einer weißen Stange am Straßenrand. Und mitunter auch durch ältere Damen und Herren in signalgelben Mänteln: Im ganzen Land sind nach wie vor Schülerlotsen im Einsatz, die meist mit großem Ehrgeiz Kinder auf dem Schul- und Nachhauseweg über die Straße geleiten. Wenn ein solcher Lotse mit seinem Schild die Fahrbahn versperrt, tut man als Autofahrer gut daran, umgehend anzuhalten.
Übrigens soll auch der Zebrastreifen in Großbritannien erfunden worden sein: Nach einzelnen Experimenten hielt er dort 1949 in den Straßenverkehr Einzug und wurde 1951 auch gesetzlich verankert. Inzwischen gibt es zumindest testweise Abwandlungen: Sogenannte Tigerstreifen, also gelbe Balken auf schwarzem Asphalt, die formal auch Radfahrern das Recht geben, die Straße zu überqueren, ohne dabei vom Rad abzusteigen.