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PETER FRÜHSTÜCKT

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LONDON, 29. JULI, 9.05 UHR

Beinahe wäre Peter kopfüber irgendwo zwischen dem ersten und zweiten Stockwerk in seinem Hotel auf der Treppe aufgeschlagen. Mit beiden Händen krallt er sich an das Treppengeländer. Warum zum Himmel sind die Stufen hier bloß so steil? In seinem gewohnten Tempo kann er wohl an diesem Morgen nicht zum Frühstück hinuntergehen, das leuchtet Peter jetzt ein. Ganz vorsichtig setzt er seinen Weg fort, Stufe für Stufe, bis zum Erdgeschoss, so als steige er eine Leiter hinab. Aus einem Raum mit Wandkamin und Stuckdecke duftet es nach gebratenem Speck. Nein, genau genommen riecht das ganze Erdgeschoss danach. Die Küche scheint keinen besonders effektiven Abzug nach draußen zu haben. Peter rümpft die Nase. Eigentlich ist er in puncto Frühstück eher der Müsli-Typ, der bestenfalls mal eine Ausnahme für ein Schokocroissant macht. In keinem Fall aber ist er jemand, der morgens eine vollwertige warme Mahlzeit verdrückt. Und Hannelore hat ihm wahre Horrorgeschichten über das englische Frühstück erzählt.

Peter atmet tief durch und betritt den Raum. Vielleicht gibt es ja wenigstens guten Kaffee, tröstet er sich. Wobei – auch davor hat ihn Hannelore gewarnt.

»Guten Morgen, was für ein wundervoller Tag.« Eine ergraute Dame weit jenseits der 60 flötet Peter an; aus seiner Sicht mit übertrieben guter Laune.

»Guten Morgen«, kontert Peter. Eigentlich möchte er hinzufügen: ›Was für ein wundervoller Tag nach einer schlaflosen Nacht und einer eiskalten Dusche in diesem verwanzten Schuppen, Sie dämliche Kuh.‹ Doch er formuliert es spontan anders: »Ja, ein wirklich schöner Tag.«

Peter nimmt an einem kleinen Tisch in der Ecke Platz und schaut sich um. Neben ihm ist auf einem Tisch ein eher dürftiges Büffet aufgebaut: Ein Kunststoffkrug mit Müsli, ein Stapel kleiner Cornflakes-Portionspackungen, ein Keramikkrug mit Milch und ein paar Schälchen, aufeinandergestapelt. Was davon riecht bloß so penetrant nach gebratenem Speck, fragt sich Peter und merkt gar nicht, dass die Dame von eben vor ihm steht.

»Full Breakfast, my dear?«, fragt sie und lächelt ihn einmal mehr an.

Peter schaut fragend. Hat sie ihn eben »my dear«, mein Lieber, genannt? Da möchte er doch lieber der Kumpel von den zahlreichen Leuten sein, die ihn bereits als solchen bezeichnet haben, als »der Liebe« dieser Dame. Er schüttelt sich kurz und entgegnet: »Äh, ja ja ja, bitte.«

»Gern, mein Lieber. Bitte bedienen Sie sich selbst vom Müsli.« Sie zeigt in Richtung Mini-Büffet, doch Peter nimmt das gar nicht mehr wahr: Sie hat ihn schon wieder »Lieber« genannt. Peter ist verwirrt. War das eine Anmache oder ist das hierzulande so üblich? Er verwirft spontan den ersten Gedanken, guckt sie an und flötet zurück: »Danke, meine Liebe.«

Sie lächelt, als wenn sie sich schon Jahrzehnte kennen würden: »Tee oder Kaffee?«

Peter bestellt Kaffee und macht sich auf, um sich am Büffet mit einem Schälchen Müsli und Milch zu versorgen. Kaum hat er sich hingesetzt, stellt ihm die liebe Dame einen kleinen Ständer mit diagonal geteilten Toastscheiben auf den Tisch, dazu ein Kännchen Kaffee: »Hier ist Ihr Kaffee und ein bisschen Toast, Love

Love, Liebster – was fährt die Dame wohl noch alles auf? Peter sorgt sich, doch der Hunger bringt ihn wieder auf das Thema Frühstück zurück.

Warmer Toast, heißer Kaffee. Peter hatte sich das warme Frühstück irgendwie anders vorgestellt. Er löffelt sein Müsli auf und bedient sich sogleich bei den Scheiben, solange sie noch warm sind. Die Marmeladenauswahl auf dem Tisch ist begrenzt. Peter dreht die kleinen Gläser mit der Schrift zu sich: Orange, Orange – und Orange.

MARMELADE ODER JAM?

Marmelade kennt man hierzulande genauso wie in Großbritannien. Doch verbirgt sich hinter diesem Begriff auf der Insel nicht immer ganz dasselbe wie in Deutschland: Briten nennen ausschließlich Brotaufstriche aus Zitrusfrüchten Marmelade – meist werden für die Zubereitung Orangen verwendet, teilweise inklusive der (fein geraspelten) Schale. Wer beispielsweise Erdbeer-, Himbeer- oder Brombeermarmelade haben möchte, muss nach Jam verlangen. Hinter diesem Begriff verbergen sich alle Marmeladensorten, die keine Zitrusfrüchte enthalten. Vor allem in Kochbüchern werden diese auch oft als Preserves bezeichnet. Und auch Gelee gibt es in Großbritannien, unter dem einheitlichen Begriff Jelly. Die EU hat diese Unterscheidung übrigens in einer Verordnung aufgegriffen – streng genommen ist das, was viele in Deutschland als Marmelade bezeichnen, Konfitüre.

Peter muss lachen: Er erinnert sich an eine Folge der Fernsehserie Monty Python’s Flying Circus, in der es in einem Restaurant zwar zig Gerichte gab, jedes einzelne aber nur aus Spam bestand, einer Art Pressfleisch. In diesem Hotel scheint das Frühstück aus Orangenmarmelade zu bestehen.

MONTY PYTHON’S FLYING CIRCUS

Die Komikergruppe Monty Python ist ein Stück britisches Kulturgut. In Großbritannien gehört das Team um John Cleese, Michael Palin, Graham Chapman (gestorben 1989), Terry Gilliam, Eric Idle und Terry Jones seit den frühen siebziger Jahren zu den bekanntesten Schauspielern. Zwischen 1969 und 1974 produzierte die Gruppe 45 Folgen der Fernsehserie Monty Python’s Flying Circus, die mit ihrem schwarzen Humor, dem abrupten Ende eines Sketches ohne nennenswerte Pointe sowie der Etablierung des Running Gags als stilbildend für weite Bereiche der britischen Comedy gilt. Absolut unüblich zu jener Zeit war, dass ihre Gags gern auch auf Kosten der BBC gingen, in deren Programm die Serie lief.

Sketche von Monty Python genießen in Großbritannien etwa jenen Stellenwert, den hierzulande höchstens Loriot erreicht hat: Jeder Fernsehsehzuschauer hat früher oder später das komplette Werk gesehen. Monty Python’s Flying Circus wurde 1974 eingestellt, nachdem bereits zuvor John Cleese ausgestiegen war. Zwei Folgen wurden eigens fürs deutsche Fernsehen gedreht – eine davon sogar auf Deutsch. Die Originalserie gab es hingegen auch hierzulande lange nur auf Englisch mit deutschen Untertiteln zu sehen. Der Versuch einer Übersetzung 1998 floppte.

Bemerkenswert ist, dass nahezu alle Mitglieder von Monty Python im späteren Leben auch als Solokünstler erfolgreich waren: John Cleese drehte zahlreiche Spielfilme sowie die ebenfalls legendäre Fernsehserie Fawlty Towers. Michael Palin reiste in mehreren Serien für die BBC um die Welt. Terry Gilliam schuf unter anderem Kinoerfolge wie Brazil. Eric Idle spielte in etlichen Filmen, unter anderem in In 80 Tagen um die Welt, ist der breiten Mehrheit aber vor allem durch sein Lied Always Look on the Bright Side of Life bekannt. Graham Chapman erlangte vor allem als Brian in Das Leben des Brian Erfolg, schrieb aber auch den Film Dotterbart. Terry Jones drehte mehrere Dokumentationen, schrieb Kinderbücher und zudem das Buch zu Douglas Adams Computerspiel Raumschiff Titanic.

Peter schaufelt die Toastscheiben in sich hinein. Es ist irgendwie lockerer als daheim in Deutschland. Und ein bisschen größer. Gar nicht so übel, findet er. Vom Kaffee kann man das nicht gerade behaupten. Er ist exakt, wie Hannelore ihn beschrieben hat: eine Mischung aus dünnem, entkoffeinierten und handelsüblichem, löslichen Kaffee. Peter lässt das Experiment nach der ersten Tasse sein.

Er lehnt sich zurück. Okay, den Kaffee üben wir noch mal, aber sonst ordentlich, listet er in Gedanken auf. In diesem Augenblick steht die ältere Dame wieder vor ihm und setzt Peter einen bis an den Rand vollgepackten Teller vor: zwei Spiegeleier mit einem dünnen Fettfilm, ein Klecks gebackener Bohnen, gebratener Speck, zwei kleine Würstchen, die so aussehen, als seien sie nicht ganz durchgebraten, dazu ein Kartoffelrösti und zwei halbe, ebenfalls heiße Tomaten.

»Etwas braune Soße für Sie, mein Lieber?« Die Dame ist schon wieder am Tisch und stellt Peter eine kleine Flasche mit bräunlichem Inhalt vor die Nase. Peter reißt die Augen auf: Wer, um Himmels willen, soll das denn noch alles essen?

Was hat Peter diesmal falsch gemacht?

Es entspricht nicht ganz der Wahrheit, dass Briten jeden Morgen ein komplettes warmes Frühstück (Full English Breakfast) essen – in Bed-&-Breakfast-Pensionen und vielen Hotels wird es aber in der Tat regelmäßig serviert, Morgen für Morgen. Das Frühstück gilt auf der Insel als wichtigste Mahlzeit des Tages, und als solche soll sie die Gäste für viele Stunden satt machen. In der Regel besteht die warme Variante aus:

 einem Spiegel-, Rühr- oder pochierten Ei

 gebratenem Schinken

 gebratenen Würstchen

 gegrillten halbierten Tomaten

 gebackenen Bohnen in Tomatensoße

 gebratenen Champignons

 Toast

Dazu gibt es regionale Unterschiede. Während in England meist ein Kartoffelrösti dazu serviert wird, gibt es vor allem in Wales und Irland sogenannte Potato Farls oder auch Potato Bread. Dahinter verbirgt sich eine Art Kartoffelbrot, das platt wie ein Pfannkuchen ist. Die Alternative in preiswerteren Unterkünften ist manchmal in der Pfanne gebratenes Toastbrot, das entsprechend viel Fett aufgesogen hat. Da stellt die sogenannte Brown Sauce, eine braune, säuerliche Soße, die geschmacklich und äußerlich irgendwo zwischen Ketchup und Barbecue-Soße angesiedelt ist, für viele schon eine Erleichterung dar, das Frühstück überhaupt verdauen zu können.

BROWN SAUCE

Brown Sauce, nach dem Markennamen auch »HP Sauce« genannt, ist die mit Abstand bekannteste Würzsoße im Vereinigten Königreich – auch wenn sie nach der Übernahme des Herstellers durch Heinz seit 2007 gar nicht mehr auf der Insel hergestellt wird, sondern in den Niederlanden. Sie besteht unter anderem aus Schoten des Tamarindenbaums, Malzessig, Zucker und diversen Gewürzen. Gegessen wird Brown Sauce vor allem zu Fleischgerichten und zum warmen Frühstück. Zur Herkunft des Namens gibt es zwei Varianten: Zum einen soll »HP« für »Houses of Parliament« stehen, wo die Soße in einem Restaurant erstmals genutzt worden sein soll. Eine Zeichnung des britischen Parlamentsgebäudes ziert bis heute die Flaschen der Soße. Andere behaupten, es seien die Initialien von Harry Palmer, der das Rezept der Soße kreiert haben soll. Ein ganz anderer, nämlich Frederick Gibson Garton, ein Lebensmittelhändler aus Nottingham, meldete jedoch 1896 das Patent für HP Sauce an.

In Schottland findet man auf seinem Teller zudem mitunter Black Pudding. Das klingt nach einem süßen Nachtisch, ist es aber nicht. Black Pudding ist eine Art dunkler Grützwurst, die scheibchenweise in der Pfanne gebraten wird. Statt Black Pudding gibt es manchmal auch eine Scheibe Haggis, das schottische Nationalgericht: mit Innereien und Haferflocken gefüllter Schafsmagen. Unter anderem solche Delikatessen dürften es sein, der die britische Küche ihren miserablen Ruf zu verdanken hat.

Man kann seinen Magen aber morgens auch noch weiter strapazieren. Ebenfalls in Schottland wird häufig Porridge serviert, gesalzener und gekochter Haferbrei, meist ergänzt um Sirup, Butter und Zucker.

Standard in Hotels und Pensionen ist auch das sogenannte Continental Breakfast, ein minimalistisches kaltes Frühstück, bestehend aus:

 Toast

 Cornflakes

 Müsli

 Orangensaft

 Joghurt

 Marmelade

Besteht das Continental Breakfast aus einem Büffet, dürfen sich in der Regel auch jene Gäste bedienen, die noch ein warmes Frühstück serviert bekommen.

Kaffee oder Tee

Getrunken wird dazu Tee oder Kaffee – man sollte bei beidem nicht zu viel erwarten. Wie in Deutschland hält sich die Qualität der Heißgetränke beim Frühstück meist in Grenzen. Wer guten Kaffee sucht, der sollte einen der Coffee Shops aufsuchen, die in Großbritannien inzwischen an jeder Ecke eröffnet haben und die meist hervorragende Getränke auf Espressobasis servieren. Guten Tee gibt es meist in den traditionellen englischen Cafés – das vor allem auf dem Land oftmals aushängende Schild »Tea Room« schützt nicht zwangsläufig vor einer Enttäuschung. Mitunter servieren diese kleinen Kaffeehäuser die einfachsten Supermarktteebeutel.

Hat man ein Hotel ohne Frühstück gebucht, eignen sich solche Cafés und Coffee Shops übrigens auch hervorragend für ein kleines Frühstück. Die Qualität ist mitunter deutlich besser als in manchen Hotels.

Höfliches Liebkosen

Kosenamen sind vor allem bei älteren Briten sehr populär. Man sollte sich also nicht wundern, wenn man von jemand Wildfremdem beiläufig Love, Darling oder Honey genannt wird – dahinter stecken keine tiefgreifenden Absichten, sondern es handelt sich lediglich, wie bei so vielem im Vereinigten Königreich, um ein gewisses Maß an Höflichkeit. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass in der Regel ältere Wildfremde den jüngeren Wildfremden liebkosen – nicht aber umgekehrt. Zudem ist das Ganze im Wesentlichen höflich, wenn ein Geschlecht ein anderes Love nennt. Versuchen Sie dies beim Selben, könnte der- oder diejenige es schon eher seltsam auffassen.

Fettnäpfchenführer Großbritannien

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