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7 In der Mondlandschaft des Toten Gebirges

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Hochalpine Drei-Tages-Durchquerung auf dem Ausseer Weg

Die Strecke durch das Tote Gebirge auf dem historischen Ausseer Weg ist eine lange, hochalpine Durchquerung für sehr konditionsstarke Geher durch eine faszinierende Karstlandschaft. Unterwegs wird man mit viel Einsamkeit belohnt.

Anforderung/Schwierigkeit

Mittel bis schwer, sehr gute Kondition, Trittsicherheit und Schwindelfreiheit erforderlich, nur bei absolut sicheren Wetterverhältnissen begehen!

Tourencharakter

Gut markierte Wege, alpine Steige im weglosen Gelände über stark verkarsteten Untergrund, seilversicherte, ausgesetzte Passagen

Tag 1

Aufstieg auf das Prielschutzhaus. Hinterstoder (591 m) – Prielschutzhaus (1422 m)

900 Hm auf/100 Hm ab/6 km/2.30 Std.

Tag 2

Überschreitung des hochalpinen Plateaus über die Brotfallscharte und den Ausseer Weg bis zur Pühringerhütte (1638 m)

1400 Hm auf/1200 Hm ab/12,5 km/8 Std. Prielschutzhaus bis Brotfallscharte 2.30 Std. – Großer Priel 0.45 Std. – Rotkogelsattel 3 Std. – Pühringerhütte 1.30 Std.

Leichtere Variante über die Klinserschlucht, Temlbergsattel

1000 Hm auf/800 Hm ab/10 km/6 Std.

Tag 3

Abstieg über die Lahngangseen zum Grundlseer Gößl (720 m)

300 Hm auf/1200 Hm ab/9,1 km/3.30 Std. Elmsee bis Vorderer Lahngangsee 1.45 Std. – Gößl 1.45 Std.

Gesamt 3 Tage, 14 Std.

Ausgangspunkt/Endpunkt

Hinterstoder (591 m)/Gößl (712 m)

Auf der Strecke bieten sich etliche Bademöglichkeiten in kristallklaren Berg- und Talseen. Der alte Reitweg wurde von Hand in den Fels geschlagen, um den Aufstieg des Wiener Adels, der zu Kaiserzeiten in Bad Aussee logierte, mit seinen Dienern samt Kaffeegeschirr bis auf den Priel zu ermöglichen. Man kann ihn in beiden Richtungen begehen. Warum die Variante von Nordost nach Südwest ein Gewinn sein kann, erschließt sich am Ende der Tour!

Zum PrielschutzhausAn einem Freitag Ende Juli treffe ich meinen Mitwanderer Engelhard am Bahnhof Hinterstoder, er reist aus Niederbayern an, ich aus Linz. Vom Bahnhof fährt man noch gut 20 Minuten mit dem Kleinbus bis zur Haltestelle Schiederweiher. Der Sommer kam spät nach einem schneereichen Winter, und nach den jüngsten Niederschlägen ziehen noch einige tiefhängende Nebelstreifen über die Hänge. Die Prognose für das Wochenende verspricht Sonne und niedrige Gewittergefahr – perfekte Bedingungen! Wir schultern die Rucksäcke, in denen sich Trinkflaschen für drei Liter Wasser befinden, und queren die Brücke über die Krumme Steyr, deren zart türkisgrünes Quellwasser nur wenige Grade erreicht. Bei der ersten Gabelung nach dem Johannisgut nehmen wir den linken Weg. Entlang des Bachs geht es bis zum Schiederweiher, der mit seinem eiskalten Wasser nur harte Zeitgenossen zum Bade lädt. Beim Foto-Spot am Wehr verschleiert noch der Dunst den Blick auf die Stodertaler Könige: die markante Spitzmauer-Ostwand, den Brotfall (2360 m) und den Großen Priel.


Naturdenkmal am Grundlsee


Spitzmauer und Großer Priel werden auch »Stodertaler Könige« genannt.

Es geht fast eben dahin durch Fichtenwälder und mediterran anmutende Kiefernhaine mit zartem Unterbewuchs voller Orchideen. Am Wegesrand nickt uns eine Ästige Graslilie mit ihrer durchscheinend weißen Blüte zu. Gut eine Stunde lang zieht sich der Weg auf der Schotterebene des Talschlusses dahin, bevor er nach der Materialseilbahnstation jäh ansteigt. Wir ziehen flott hinauf, am Bach mit den vom Wasser glatt geschliffenen Gumpen entlang. Ihre feine, hellgraue Oberfläche mutet wie Porzellan an – nur wer sich ein paar Meter links vom Weg durch die Haselgebüsche schlägt, erhascht einen Blick. Bald erreichen wir einen schönen Buchenwald und am späten Nachmittag unser Tagesziel, das Prielschutzhaus, eine komfortable Hütte, die als Ausgangspunkt für Kletterer und für Bergtouren auf die Spitzmauer (2446 m) und den Großen Priel dient. Beide Paradegipfel sind auch als Tagestouren machbar, jedoch mit jeweils fast 2000 Höhenmetern im Auf- und Abstieg werden sie von den meisten Wanderern mit einer Hüttenübernachtung an zwei Tagen bewältigt.

Direkt neben der Hütte zeigen einige Wegweiser die umliegenden Ziele an: »Pühringer 6 Stunden« ist da zu lesen. Das beschreibt den kürzeren Weg über die Klinserschlucht. Für den nächsten Tag haben wir aber Größeres vor und gehen darum früh schlafen: Die Etappe wird fordernd sein – zumal wir einen Gipfel mitnehmen wollen. Wir packen die Rucksäcke und füllen alle Flaschen mit Trinkwasser, denn auf dem langen Weg gibt es keine einzige Quelle.

Durch die MondlandschaftUm halb sechs stehen wir auf; draußen auf der Terrasse begrüßt uns die Spitzmauer im feuerroten Morgenmantel. Über Wurzeln und Latschen folgen wir dem Weg bis zu einer Gabelung und halten uns dort rechts. Über anhaltend 30 Grad steiles Schrofengelände mit viel Geröll geht es bergan, bis wir nach einer guten Stunde das steile Schneefeld im Kühkar queren, das uns zum Einstieg einer Steilstufe führt. Rund 70 Höhenmeter mit einer guten Seilversicherung sind hier zu überwinden, teils ein wenig exponiert, bis wir plötzlich auf der Brotfallscharte stehen und sich mit einem Mal der Blick über das gewaltige Gebirge und die uns bevorstehende Tagesetappe öffnet. Das Gelände mit den unendlich vielen Dolinen, die Mondkratern gleichen, hat etwas Surreales. Fast scheint nicht sicher, ob wir uns noch auf der Erde befinden oder den Planeten soeben verlassen haben.


Ein wunderbarer Badeplatz am Vorderen Lahngangsee

Frühes GipfelglückRechter Hand winkt in nur einer guten halben Stunde und zusätzlichen 200 Höhenmetern der Gipfel des Großen Priels. Kein Wölkchen steht am Himmel – das Wetter soll halten. Wir sind früh dran und laufen zügig der Morgensonne entgegen und über den exponierten Grat, der zum großen roten Gipfelkreuz führt. Vor ein paar Jahren hat der Sturm das schwere, stählerne Kreuz wie einen Strohhalm geknickt. Kürzlich wurde ein identischer Nachbau mithilfe eines Hubschraubers wieder im Fels verankert. Wir sind die Einzigen um diese Zeit auf dem Gipfel des Großen Priels und genießen den Augenblick der Stille angesichts der mächtigen Tief- und Fernblicke. Jene Momente des Innehaltens sind mir ein wichtiger Teil des Bergwanderns geworden. Weiter drüben erhebt sich im Gegenlicht der Warscheneckstock, der den östlichsten Teil des Toten Gebirges bildet. Am Horizont sieht man bis zum Ötscher in Niederösterreich.

Die Sonne steigt schnell hoch und entfaltet ihre Kraft. Auf 36 °C soll das Thermometer im Tal steigen – hier oben auf über 2000 Metern werden es um die 20 °C. Über den weitläufigen Rücken geht es westwärts hinab bis zum Fleischbanksattel, wo von Norden ein paar Wanderer über den steilen Steig mit der großen Felsstufe von der Welserhütte hinaufkommen.

Der Weg über das PlateauAb hier beginnt nun der eigentliche Ausseer Weg sowie jener Abschnitt des Gebirges, der ihm seinen düsteren Namen verlieh. Auf den ersten Blick gibt es nur Gestein; nackter Fels, so weit das Auge reicht. Hier wird einem bewusst, wie wichtig der große Wasservorrat und die absolut stabile Wetterlage für diese Tour sind. Wer nicht genug zu trinken dabei hat, stößt bald an seine Grenzen, denn die Sonne knallt erbarmungslos auf das schattenlose Gelände nieder. Sollte man in ein Unwetter geraten oder in stundenlangen Regen und Sturm, bleibt als einzige Chance, unter einem Felsvorsprung oder in einer Höhle das Ende des Schlechtwetters abzuwarten. Ein Handynetz gibt es hier nicht, und so könnte nicht mal ein Notruf abgesetzt werden. Falls ein sommerlicher Schneefall die auf den Fels gemalten Bodenmarkierungen überdeckt, wäre es unmöglich, in diesem ewigen Auf und Ab einen Weg zu finden. Wer aber gut plant und die Wetterentwicklung im Auge behält, kann ein unvergessliches Bergerlebnis mit nach Hause nehmen.


Die mäandernde Teichl im Osten des Toten Gebirges


Tiefe Dolinen am Ausseer Weg

Nach dem Gipfel fallen wir in ein meditatives, schweigendes Gehen, passieren tiefe Dolinen – jene vertikalen Schächte, die das Wasser in den Fels gefressen hat, balancieren über Mäanderkarren und schreiten über glatte, ebene Felsplatten. Je länger wir gehen, umso mehr Leben entdecken wir in diesem vermeintlichen Ödland. Winzig klein, an das raue Klima angepasst, wachsen hier zahllose Überlebenskünstler, die in den buntesten Farben blühen wie der kobaltblaue Frühlingsenzian, die pinke Clusius-Primel und das gelbe Alpen-Sonnenröschen. Rechts liegt der von hier kaum ausnehmbare Schermberg mit seiner gigantischen Nordwand.

Rast mit GämsenAm späteren Vormittag legen wir auf einem sanften, mit alpinem Rasen bewachsenen Hügel eine Pause ein. Seit dem Priel haben wir niemanden mehr getroffen, und das wird heute bis zum Nachmittag auch so bleiben. Wir befinden uns auf 1900 Metern auf Höhe des Rotgschirrs, eine Stunde Gehzeit vom Rotkogelsattel entfernt. Einige Schneefelder haben sich hier vom Winter gehalten. Auch den Gämsen ist es heiß in ihrem dunklen Fell. Sie liegen zur Kühlung auf dem Altschnee – manche haben alle Viere in die Himmelsrichtungen ausgestreckt, andere stellen mit der Breitseite den größtmöglichen Kontakt zur kühlenden Schneeoberfläche her. Ein lustiger Anblick angesichts des traurigen Faktums, dass auch hier der Klimawandel angekommen ist. Ich setze meinen Sonnenhut und die Sonnenbrille auf. Es ist Mittag geworden und allein der Gedanke an den bei der Pühringerhütte gelegenen Elmsee verleiht uns Flügel.

Abkühlung in SichtNach der Rast geht es leichtfüßig über das Gestein hinauf zum Rotkogelsattel und von dort einen wenig ausgebauten Abschnitt über eine 300 Meter hohe Geländestufe hinab. Vermutlich war die ursprüngliche Wegführung anders. Als wir den dampfenden Dschungel aus Graualpendost, Alpenlattich und Pestwurzen unterhalb des Elms durchqueren, wird die Hitze unangenehm, Fliegen surren in der Luft. An der romantischen Pühringerhütte legen wir das Gepäck ab, befreien unsere brennenden Füße von den Wanderstiefeln und flitzen barfuß über weiche Almböden bis zu einem großen Felsen am Ufer, wo wir ins eiskalte Wasser des Elmsees springen. Den Spätnachmittag verbringen wir an der Pühringerhütte, einer gemütlichen hölzernen Hütte, die nur per Hubschrauber versorgt werden kann. Die Wirte nehmen jedoch immer wieder den langen Zustieg auf sich, um frischen Salat aus dem Tal zu holen. Das Alpenglühen auf dem Rotgschirr ist der letzte wunderbare Eindruck des Tages.

Im MärchenlandDer Plan war, auszuschlafen und gemütlich zu frühstücken, aber die Enge des Lagers und die Gewohnheit treiben uns früh hinaus. Es ist fünf Uhr, es soll wieder heiß werden. Zum Glück haben wir schon am Abend bezahlt. Die Nacht war klar und kalt, und über dem See liegt Nebel. Dahinter glüht der Salzofen (2070 m) im Sonnenaufgang feuerrot.

Der erste Teil des gut ausgebauten Weges führt durch eine Märchenlandschaft. Immer wieder kann man erkennen, dass hier einst viel Aufwand betrieben wurde, um kleine Senken mit Geröll anzufüllen und den Weg zu begradigen. Der Karst ist von üppiger Spaltenvegetation dschungelartig überwachsen, und alles blüht. Zirben und Kiefern wachsen auf wasserzerfressenen Felsblöcken. Das Gelände ist von Einsturzdolinen, Gräben, Schächten und Rundhöckern durchzogen. Rechts des Weges finden wir das Kleine Windloch. Aus der Schachtdoline pfeift ein starker Wind, der meine langen Haare senkrecht in die Höhe pustet, wenn ich mich darüber beuge. Engelhard kann sich vor Lachen kaum halten. Der Höhlengang ist mit einer weiteren Öffnung weiter oben beim Elm unterirdisch verbunden, wobei durch Druck- und Temperaturunterschiede der Wind entsteht. In der Elmgrube mit den schönen hölzernen Jagdhütten zweigt nach Westen der Weg zum Appelhaus ab. Hier könnte man die Tour auch noch um einen oder zwei Tage verlängern.


Das Gehgelände im Karst erfordert volle Aufmerksamkeit.

See um SeeWir aber nehmen den Abstieg über die Lahngangseen, von denen der obere in einer Senke etwas abseits des Weges schwieriger zu erreichen ist. Am blitzblauen unteren See führt der Wanderweg direkt am Ufer entlang und an seinem südlichen Ende findet man traumhafte Badegelegenheiten. Auf einem großen Felsen am Ufer vernichten wir die letzten Lebensmittel aus unseren Rucksäcken. Auch die Wasserflaschen hatten wir am Brunnen bei der Pühringerhütte angefüllt. Weiter geht es talwärts, immer an der Flanke des Salzofens, einer massiven Felswand, entlang bis zum Außengatterl, wo auf einem Marterl zu lesen ist, dass hier einst eine Sennerin vom Blitz getroffen wurde.

Bald lösen Fichten- und Buchenwälder die alpinen Weideflächen ab, doch dieses Jahr herrscht erschreckende Trockenheit. Je weiter wir in Richtung Grundlsee hinabsteigen, umso brauner wird die Landschaft. Oberhalb des Sees hat der Jungwald sein grünes Laub abgeworfen.

Wir biegen in den Weg 214 ab, ein kleiner Steig, der zwischen ein paar uralten, romantischen Bauernhäuschen auf die Dorfstraße nach Gößl und direkt bis zum Seeufer führt. Im türkisen Wasser erfrischen wir unsere heißen Füße und müden Körper – was für ein perfekter Abschluss nach zwei Tagen ohne Dusche! Die Bushaltestelle liegt nur ein paar Meter entfernt in Richtung Bad Aussee. Während der Wartezeit spendet eine große Weide am Seeufer Schatten. Der Bus bringt uns direkt zum Bahnhof, wo sich unsere Wege trennen: Engelhard fährt in Richtung Bayern und ich nach Linz.

Vergessene Berge

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