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Abflug zum Mond

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In der Lounge der Wheelwright Clipper Corp. im Mojave-Raumhafen herrschte ein Zustand, der schlimmer war als Chaos: eine Verkehrung des Normalen, ein Widersinn, der sich durch die vorhandenen Daten nicht auflösen ließ und Lotte Konsdotter zu überfordern drohte.

Was ist hier los?, fragte sich die Pilotin des Clippers Grand Vision und bewegte sich angespannt zwischen den auf bequemen Bänken und in Luxus-Arbeitsmodulen wartenden Passagieren für Flug 817, die auf der Passagierliste alle als VIPs der höchsten Kategorie geführt wurden. Eine Ehre, die sonst nur den Firmeninhabern und dem Präsidenten der Vereinigten Staaten gebührte, wobei sich Lotte beim Präsidenten nicht sicher war.

Wer sind diese seltsamen Leute und was wollen sie auf dem Mond? Ihr Blick blieb an dem bärtigen Gesicht eines Engländers hängen, der sich schon seit einer guten Viertelstunde aus einem der Arbeitsmodule heraus mit seinem Uraltmodell von Roboter stritt. Richard Harris, ein Privatdetektiv, erinnerte sie sich. Ein Modul weiter saß Amanda Chershi, eine junge Frau, die offenbar erst vor kurzem schwer verletzt worden war und durch ihre Datenbrille mit unstetem Blick die Umgebung scannte, wie ein Erdmännchen, das aus dem Bau heraus nach Greifvögeln Ausschau hielt. Unter ihrem auf dem Modulrahmen liegenden grauen Mantel hielt sie ein längliches Werkzeug verborgen, das sie nacheinander auf die umstehenden Maschinen richtete. Was auch immer sie dabei erfuhr, es machte sie noch nervöser. Auf dem Rand der breiten Bank gegenüber saß der vollbärtige Victor Mann und starrte sorgenvoll auf seine Turnschuhe, die auf seiner offenbar schon weit gereisten Tasche ruhten. Am linken Schuh hing etwas, das aussah wie blaue Tierhaare … Oda Toshio trug einen altmodischen Sensoranzug und hatte ein Bein über das andere geschlagen. Das goldene Wappen an seinem Mandarinkragen hatte die Form eines segnenden Buddhas in einem Flammenkranz. Eigentlich wirkte er unauffällig, doch da war etwas mit seinem Gesicht, das Lotte nicht definieren konnte. Sie musste einfach hinstarren, als würde ihr Blick daran festkleben. Als er sie plötzlich anlächelte, überkam sie ein Schwindel, und sie sah weg. Am anderen Ende der Bank tippte die achtzehn Jahre alte Gwendolyn Iden auf ihrem Tablet herum und lächelte in sich hinein. Ihr blondes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden. Der Aufdruck ihres T-Shirts zeigte eine komplexe Struktur aus zerbrochenen Zahnrädern, um die sich blühende Winden rankten, ihr Halstuch war dunkelrot, die Schlaghose bestand aus vertikalen schwarz-weißen Streifen, und als Gürtel trug sie einen bunten Kabelbaum aus einer technischen Anlage. Sie passte mit diesem Outfit so gar nicht hierher, genau wie die übrigen drei Burschen. Falsch, zwei Burschen und eine burschikose Frau, korrigierte sich Lotte. Jenna Staroll, Ulrich Turner und Tim Fischer, drei bekannte E-Sportler und V-Fighter. Die drei trugen das halbe Gesicht verdeckende Gamingbrillen und schwangen unsichtbare Schwerter. In enger Formation gegen einen überlegenen Gegner kämpfend, wurden sie quer durch den Raum zurückgedrängt. Sie kletterten zwischen dem Japaner und dem Mädchen über die Bank und verteidigten diese Anhöhe wie eine Bresche in einem Festungswall. Unbegreiflich! Mehrfach musste Iden den Kopf zur Seite nehmen, um nicht von Turners Schildhand getroffen zu werden. Seltsamerweise schien sie seine Bewegungen vorauszuahnen und reagierte, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. Die fechtende Frau, Staroll, brüllte wütend, fluchte und rief ihren Kameraden Turner zu verstärktem Einsatz auf. Diese Frechheit! Und doch schien sich keiner der Fluggäste ernsthaft belästigt zu fühlen.

»Verrückte Kids.« Harris seufzte ohne echte Leidenschaft, dann schaute er Richtung Bar, wo seine Bestellung blieb.

»Keine Sorge, die Orks haben sie gleich«, sagte sein Roboter. Das alte Antiope-Behördenmodell verfolgte jede Bewegung der Spieler, dabei trommelten die Finger seiner Rechten auf seinen Oberschenkel.

»Na, geh schon, Mike, bevor du vor Aufregung einen Kurzschluss bekommst.«

»Bis gleich!« Der Rob ließ einfach seine Tasche fallen und sprang den drei Kämpfern zur Seite. »Waldläufer Mike für Gondor!« Die stabile Bank wackelte bedrohlich.

»Für Gondor!«, riefen die Spielgefährten begeistert.

Oda erhob sich und zog sich in eine der unbesetzten Arbeitskapseln zurück, und auch Iden hatte endlich genug. Sie stand auf und schüttelte lächelnd den Kopf. Als sie Lottes Blick bemerkte, hob sie ihr Tablet und hielt es so, dass die eingebaute Kamera die Spieler erfasste. Das Bild zeigte eine brennende Burgruine. Hoch auf der gebrochenen Mauer schlugen die vier Kämpfer gepanzerte Orks zurück, die Gefallenen purzelten den Abhang hinab, während immer neue Angreifer über die Leiber der Toten und Verwundeten in die Bresche kletterten.

Lotte erwog einen Augenblick lang, die Jugendlichen zu ermahnen – normalerweise hätte sie das längst getan, hätte die VIP-Einstufung sie nicht verunsichert. Sie wandte ihren Blick ab. Level-drei-Kunden haben immer Recht, rief sie sich in Erinnerung. Selbst wenn es Kunden waren, die so gar nicht wie Kunden aussahen und mit Straßenschuhen auf den sündhaft teuren Designermöbeln herumtrampelten. Sonst saßen in dieser Lounge Milliardäre, Top-Wissenschaftler und Künstler, die so berühmt waren, dass sie nur auf dem Erdtrabanten ihre Freizeit in vollkommener Ruhe genießen konnten. Menschen mit Einfluss, Geld und Stil; Auserwählte, die Lotte aus den Medien kannte und hoch schätzte, nicht so ein bunter Haufen von Außenseitern, die sich V-Fighter und Privatdetektive nannten oder gar keine regelmäßige Beschäftigung angeben konnten oder wollten.

Noch verwirrender aber waren die Maschinen. Lotte zählte insgesamt sieben Menschen und drei Roboter. Da war die spielende Antiope, außerdem eine hüllenlose Maschine, vermutlich ein Jarlberg-Modell unbekannter Zugehörigkeit, und ein altersschwacher Rob in abgenutzter Menschenverkleidung, der wie ein älterer Herr aussah. Fast ein Drittel der verkauften Plätze des Clippers würden diesmal mit Geräten besetzt sein, die sonst nur per Frachtcontainer hochgeschossen wurden, wenn überhaupt. Schließlich gab es auf dem Mond Assembler, die Maschinenkörper herstellen konnten, nur modernere, schönere Modelle. Wozu also Kabinenplätze für fast hundert Millionen Dollar an PIs verschwenden? Wo blieb da die Logik? Sie brauchte Antworten. Lotte zog ihren Com vom Gürtel, der sich in ihrer Hand entfaltete, und wählte die Kurzwahl der Kundenbetreuung. Im Vorbeigehen betrachtete sie die Menschenmaschine, die einmal ausgesehen hatte wie ein freundlicher Herr mit grau meliertem Bart, doch durch einen jahrelangen Mangel an Wartung nun etwas Bemitleidenswertes an sich hatte. Prompt hob das verschrammte Ding seinen Blick und sprach sie an:

»Sieh an, unsere Pilotin. Ich nehme an, Sie wissen nicht, wer für all das hier zahlt?«

»Selbst wenn, würde es mir nicht freistehen, darüber zu sprechen«, antwortete sie so freundlich, wie es ihr möglich war.

Die Maschine nickte, dann starrte sie einige Sekunden nachdenklich vor sich hin, bevor sie lächelte und weitersprach: »Ich versuche, eine positive Erklärung für das alles zu finden, aber jedes wahrscheinliche Ereignismodell ist negativ. Wir werden in eine Falle gelockt. Es ist schrecklich spannend. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gibt es bald Tote.« Verstohlen blickte der Alte sich um. »Wer könnte der erste sein? Ich? Sie? Das blonde Mädchen? Ich finde diesen Datenmangel äußerst inspirierend. Das schreit nach einer guten Geschichte.«

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen!« Lotte wandte sich brüsk ab. Falle? Was sollte das bedeuten? Sie starrte auf den Multiscreen ihres Coms. Das Gerät fand kein Netz, obwohl der Raumhafen mit der modernsten Kommunikationstechnik ausgestattet war. Hieß das, der Hauptcomputer war offline? Das erschien beinahe unmöglich, andererseits gingen heute seltsame Dinge vor. Sie blickte zur Sicherheitsschleuse, die unbesetzt war. Vor nur zehn Minuten hatten dort zwei Maschinen bereitgestanden, um die Boarding-Kontrollen durchzuführen. Das Chaos breitete sich aus –

»Wir sind hier vollkommen abgeschnitten«, sagte der Rob. »Netzwerke, Datenfunk, Kameras und Sensoren, alles tot. Und wo sind die Clipper-Mitarbeiter abgeblieben? Sollte es hier nicht auch menschliches Personal geben?«

»So geht das nicht«, sagte Lotte zu sich selbst. »Bitte verzeihen Sie!« Entschlossen marschierte sie an den Arbeitsstationen vorbei zum Dienstzimmer, das sie unbesetzt fand. Offenbar war im Unternehmen der Wahnsinn ausgebrochen, aber das bedeutete nicht, dass sie sich daran beteiligen musste. Wenn sonst niemand für Ordnung sorgte, würde sie das tun. Das Computerterminal war tatsächlich deaktiviert, obwohl es rund um die Uhr laufen sollte. Sie versuchte es mit Gesten und nannte alle gängigen Startbefehle. Schließlich ging sie sogar leise fluchend in die Knie und suchte, ob sich nicht irgendwo ein guter alter Netzschalter versteckte. Und das war nun wirklich peinlich …

»Geehrte Fluggäste, begeben Sie sich nun bitte an Bord der Grand Vision«, klang Lottes Stimme aus den Wandlautsprechern. Hastig hob sie den Kopf und stieß ihn sich an der Ablage des Terminals.

Sie rieb sich den Hinterkopf. »Was? Haben die eine automatische Ansage aus mir gemacht?« Dazu hatte sie nie ihr Einverständnis gegeben. Sie erhob sich, lief zur Tür und berührte die Sensorfläche, doch da tat sich nichts. »Öffnen!«, verlangte sie und versuchte vergeblich, die Tür mit den Handflächen in die Wand zu schieben. Offenbar war sie verriegelt.

»Bitte begeben Sie sich zu den auf Ihren Bordkarten vermerkten Sitzplätzen und folgen Sie der Einweisung durch das Schiffssystem«, sagte ihre Stimme. »Vielen Dank.«

Lotte richtete sich auf und blickte über die Überwachungshologramme an der Wand. Das Sicherheitssystem funktionierte offensichtlich noch, was bedeutete, dass auch der Hauptcomputer arbeitete. Die seltsamen Ermittler nahmen ihre Koffer und Taschen und eilten auf die leere und dunkle Sicherheitsschleuse zu. Richard Harris marschierte mit den Händen in den Hosentaschen vor seiner schwer bepackten Maschine her.

»Ist heute Tag der offenen Tür?«, wunderte er sich. »Die haben hier echt die Ruhe weg.«

»Keine Gepäckkontrolle?« Tim Fischer kratzte sich unter den fettigen braunen Stoppeln an seiner Schläfe. »Wir hätten unsere Bomben also mitnehmen dürfen?«

Das System verpasste ihm sofort einen gelben Rahmen, was bedeutete, dass er gesondert überprüft hätte werden müssen – wenn denn Personal dafür da gewesen wäre.

»Mist, ich hätte die Drogenballons nicht verschlucken müssen!«, scherzte Turner, der immer noch seine Gamingbrille trug. Der lange V-Fighter rieb sich den Bauch, als hätte er Schmerzen. Auch Turner bekam einen gelben Rahmen. Dann hatte er eine neue Idee und richtete sich auf. »Hey, hat jemand ’nen Joint? Ich würde gern ein Selfie neben dem Drogenscanner machen. Wenn ich Haschischrauch direkt auf die Sensoren blase, müssen die dann neu geeicht werden?« Sein Rahmen wurde rot und blinkte, eigentlich sollte ihn bereits eine Sicherheitsmaschine am Kragen haben. »Hey Star…!«

»Vielleicht ist das normal auf Flügen für viele Millionen Euro«, sagte seine kurzhaarige Kameradin mit Verachtung in der Stimme. »Unanständig reiche Leute sind wohl per se unverdächtig.«

»Durchaus nicht, meine jungen Freunde.« Der abgenutzte Menschensimulant kicherte verschmitzt. »Das hier ist eine ganz außergewöhnliche Geschichte, außergewöhnlich sage ich euch, und ich liebe es.« Der Alte hob den Blick und sah in die Sensoren. Er schien Lotte direkt anzusehen und grinste erneut.

»Halt! Kein Boarding ohne Sicherheitscheck!«, rief sie, dann zerrte sie noch einmal an der Tür. Eine Hand legte sich um ihren Hinterkopf und drückte ihr Gesicht hart gegen das Türblatt. Sie ruderte mit den Armen und versuchte, hinter sich zu greifen. Verwirrt fühlte sie, wie sich ihr Hinterkopf öffnete und mit einem Ratschen die Kopfhaut einriss, ein zutiefst verstörendes Erlebnis, zumal sie nicht begriff, wie das möglich war.

»Lassen Sie das!«, verlangte sie. »Was auch immer Sie da tun.«

»Ich sehe mir an, was du bist«, sagte ihr Angreifer. »Mensch oder Maschine, fühlendes Wesen oder nur eine kostspielige Täuschung, ein Imitat, das echte Menschen verwirren und noch anfälliger machen soll für die Manipulation durch eure Gesichter, eure Gesten und falschen Gefühle …«

»Ich bin keine Maschine!«, sagte Lotte entrüstet und versuchte vergeblich, ihren Angreifer zu fassen.

»So oder so ist es nicht deine Schuld. Du bist, wozu du gemacht wurdest. Doch ein Versprechen, dessen Einlösung nie geprüft werden soll, können wir nicht akzeptieren. Rätsel müssen gelöst werden. Hier und heute bist du eine Nuss, die es zum Wohle der Menschen zu knacken gilt.«

Eine Nuss? Was soll das heißen? Sie fühlte seine kalte Hand in ihrem Schädel tasten. Die Welt verzerrte sich, ihre Farben flimmerten, ihre Klänge verstummten, und Lottes Körper wurde steif.

»Warten Sie, biiiiii!« Das letzte Wort ging in ein knackendes Vibrato über und riss dann ab. Eine sympathische männliche Stimme kam aus ihrem Mund. Eine Stimme, die jeder kannte, der mit PIs arbeitete: die Stimme der Basispersönlichkeit eines Jarlberg-Maschinenkörpers: »ACHTUNG!

DIE ENTFERNUNG DES KERNS IM BETRIEB KANN SCHWERE SCHÄDEN VERURSACHEN.«

Der Täter filmte seine Beute, einen silbernen und roten Würfel mit acht Komma sieben Zentimetern Kantenlänge. Seine Hand wurde automatisch aus der Aufnahme gelöscht. »Revel8or, Operation elf am 28. Januar 2048, Ziel: PI-Sonderanfertigung Lotte Konsdotter, im Besitz der Wheelwright Clipper Corporation. Bekannt aus der Web-Werbung des Unternehmens und kontroversen Artikeln, in denen behauptet wurde, das Modell habe erfolgreich zweiundzwanzig auf Turing aufbauende Testverfahren der Schwierigkeitsstufen C und höher bestanden. Letzteres war offensichtlich eine Lüge. Wie diese Bilder beweisen, handelt es sich bei Lottes PI-Kern um ein 2045er-SFX-Modell ohne Hardware-Upgrades, welche die Behauptungen der Besitzer untermauern könnten, dass es sich um eine echte und menschengleiche Intelligenz gehandelt habe. Lotte Konsdotter war eine Maschine, genauer eine auf die Lösung von Turing-Aufgaben spezialisierte höhere Persönlichkeit mit eingeschränkten sensorischen Fähigkeiten. Eine hervorragende Menschensimulation hat Wheelwright AI da fabriziert, das muss ich zugeben, doch nicht mehr. Diese Nuss ist geknackt. Und euch allen dort draußen, die wie ich unter der Allgegenwart der Roboter leiden, sage ich: Schließt euch uns Wahrheitssuchern an, entlarvt die Betrüger, die euch ausbeuten, und zerstört ihre Lügen. Auch heute sagen wir mit Stolz: Es gibt auf dieser Welt nur eine echte Intelligenz: die menschliche.«

Mit Wucht schleuderte Revel8or den PI-Kern gegen die Wand und beendete die Aufzeichnung.


Die Grand Vision legte einen Bilderbuchstart hin. Getragen von vier tetraederförmigen Flüssigkeitsboostern raste sie in den strahlend blauen Himmel über der Mojave-Wüste. In fünfzig Kilometern Höhe lösten sich die ersten beiden Booster von der Unterseite des schlanken silber-blauen Ganzflügelkörpers und sanken zurück Richtung Erde, zuerst nur stabilisiert durch wenige Stöße ihrer Manövriertriebwerke. Kurz darauf zündete das Haupttriebwerk der Vision und die restlichen Booster lösten sich. Auf dem Rückweg zum Raumhafen nutzten sie vor allem die Schwerkraft. Die Vibrationen waren kaum der Rede wert, und die adaptiven Sitze machten die Beschleunigung von zwei G erträglich. Richard genoss den Ausblick, wiedergegeben von den Videooberflächen der Kabinenkapsel, die dadurch ganz transparent wirkte, als würden die Passagiere in einem gläsernen Raumschiff fliegen. In Wirklichkeit gab es neben den Fensterplätzen kleine Bullaugen, die so perfekt mit der Videofolie verschmolzen, dass er nicht zwischen echtem Ausblick und Wiedergabe unterscheiden konnte. Für Mitreisende, denen die Aussicht zu nervenaufreibend war, gab es an den Vordersitzen verstaute VR-Brillen und virtuelle Erfahrungen von blühenden Bergwiesen und tropischen Stränden bis hin zu einer Achterbahnfahrt. Richard hatte die Programme vor dem Start durchgeschaltet – sie waren sehr beruhigend, bis auf die Achterbahn. Dennoch war er überrascht, als er bemerkte, dass sich der Turnschuhmann, der kleinere der beiden Gamer und die junge Frau mit den Hauttransplantaten in virtuelle Sphären geflüchtet hatten. Verdammt, ich verstehe das nicht, dachte er verärgert und lehnte sich in seinem Sitz zurück, der sich sofort seiner neuen Position anpasste. Die wenigsten Menschen bekamen in ihrem Leben eine solche Chance. Viele träumten davon, und andere, die jetzt diese Erfahrung machten und sie mit allen Sinnen erleben könnten, wischten stattdessen nach links. Der Clipper drehte sich, und die Erde wanderte über ihn, riesig und blau, ohne Horizont. Eine von Leben und Schönheit bedeckte Welt, umgeben von Kälte und Finsternis. Richard vergaß, worüber er sich eben noch geärgert hatte, der Anblick nahm ihn ganz gefangen.

Fast wäre ihre Reise ins Wasser gefallen, gescheitert an dem von der Clipper Corp. vorgeschriebenen Gesundheitscheck. Sein Herz und die Gelenke waren nicht raumfahrttauglich – keine Überraschung. Mike hatte das Gesundheitszeugnis gefälscht, und die Gesellschaft hatte es anstandslos akzeptiert.

»Danke, dass du mich hergebracht hast«, sagte er leise zu Mike, der auf dem Sitz neben ihm saß und ebenfalls auf die Erde starrte.

»Wärst du mal rechtzeitig zum Arzt gegangen, hätte ich auch nichts fälschen müssen«, nörgelte die Maschine mit sanfter Stimme.

»Wann und ob ich zum Arzt gehe, geht dich einen Dreck an«, grummelte Richard ohne Schärfe und fügte ein zart gehauchtes »Blechpenner« hinzu, bevor er sich wieder ganz auf das Erlebnis konzentrierte.


Amanda blendete die Vibrationen aus und die Beschleunigung, die sie in den Sitz drückte. Tränen flossen unter ihrer VR-Brille hervor. Durch den feuchten Schleier beobachtete sie, wie die PIs sie in Zeitlupe durch die zusammenbrechende Büroebene zu dem Fenster schleppten. Warum nur ich? Was macht mich so wichtig? Die Wiedergabe stoppte. Sie hing in der Luft zwischen Wheel Tower und Versicherung und blickte an sich selbst vorbei auf das einstürzende Gebäude. Was ist passiert? War die Aufzeichnung defekt?

»Das ist außerordentlich«, sagte eine Stimme durch ihre Brille. Erschrocken richtete sie sich auf. Ein weiß strahlendes, menschenförmiges Loch erschien in der Videoaufzeichnung. Die Lichtgestalt hatte keinen Duft, als wollte sie dadurch harmlos wirken. Das Wesen sah sie direkt an, und es berührte die über ihr fallende PI mit der Hand. »PIs haben für Sie einen Weg aus dem Chaos der Vernichtung gefunden – eine Lösung für ein schier unlösbares Problem. Ich weiß, dass Sie intelligent sind, Amanda Chershi, aber ich glaube, Sie haben keine Vorstellung davon, wie präzise vorausberechnet dieser Fluchtweg war. Und das in Echtzeit! Ich muss sagen, je länger ich daran rechne, desto verdächtiger finde ich das Ganze.«

Sie zog die Stirn kraus, die Kälte schlich sich an sie heran. »Wer bist du?«

»Es reicht, wenn Sie flüstern. Wir sollten keine unnötige Aufmerksamkeit erregen. Nicht in dieser Gesellschaft.«

»Wie kommst du in das Video?«, hauchte sie. Die reparierten Nerven hinter der Augenprothese stachen.

»Ich bin Division-By-Zero, einer der für diese Reise ausgewählten Ermittler. Ich habe mich in Ihre Brille gehackt.«

Eine PI. Deshalb also kein Geruch. Der Code 1/0 stand im Prüfprotokoll von PI-Kernen für einen schwerwiegenden Falsch-positiv-Fehler. Bezog sich der Name darauf? »Was willst du?«

»Ich war neugierig, was für Sie wichtiger sein könnte als das Erlebnis, auf die eigene Welt hinabzublicken. Kulturell normiert gilt das immerhin als herausragend eindrucksvolle Erfahrung.«

»Ich bin nicht die Einzige, die darauf verzichtet«, verteidigte sie sich.

Die Lichtgestalt breitete die Arme aus. »Ja, nur leiden der E-Sportler und der Unternehmer, die gerade nicht die Aussicht genießen, erkennbar unter Flug- bzw. Höhenangst. Beide zeigten schon beim Boarding deutliche Stresssymptome. Sie dagegen waren nur wenig angespannt. Erst als Sie die Wiedergabe starteten, stieg Ihr Blutdruck, Ihr Puls kletterte auf einen bedenklichen Wert, und Sie fingen trotz Klimatisierung an zu schwitzen.« Division-By-Zero beugte sich zu ihr herunter, ein konturloses Gesicht, Licht und nichts dahinter. »Ist doch interessant, dass jemand lieber durch seine persönliche Hölle geht, als …«

Sie unterbrach ihn. »Wer hat dich beauftragt, mich auszuspionieren? Arbeitest du für den Auftraggeber? Ich habe Fragen an ihn …«

»Wie gesagt, erhielt ich eine Einladung, genau wie Sie. Ich handle aus eigenem Antrieb und verfolge eigene Ziele. Davon abgesehen, finde ich es durchaus fair, mich in Ihre Angelegenheiten zu mischen, immerhin haben Sie in der Lounge versucht, mittels einer Wartungssonde Zugriff auf mich und die anderen PIs zu erlangen. Ich nehme an, auch da wollten Sie Informationen über unseren Auftraggeber gewinnen?«

Amanda hatte das Gefühl, in die Enge getrieben zu werden. »Ich brauche dich nicht.«

»Das sehe ich anders. Wenn es hier im Clipper eine Person gibt, die dringend Hilfe benötigt, dann sind Sie es. Kein Wunder, nach so einer Erfahrung.«

»Verschwinde. Sofort.« Sie musste sich beherrschen, um nicht laut zu werden. Mit der rechten Hand klammerte sie sich an ihren Sitz, der Nervenschmerz erinnerte sie daran, was echt war und was nur digitaler Zauber. Sie starrte in das Licht, und ihr Schweiß rann. »Das ist ein Befehl!«

»Ich wollte Sie nicht erschrecken«, sagte Division-By-Zero jetzt beruhigend. »Und ich bin nicht Ihr Feind. Was nützt es, wenn Sie sich immer wieder allein quälen? Erzählen Sie mir Ihre Geschichte. Ich kann Ihnen helfen, das hier zu verstehen.« Er streckte die strahlende Hand nach ihr aus.

Amanda riss sich die Brille herunter und atmete gegen den Druck in ihrer Brust an, dann blickte sie sich um. Zehn Personen waren bei ihr in der Kabine, drei davon PIs. Zwei der künstlichen Intelligenzen, die Antiope des Engländers und das hüllenlose Modell, erwiderten ihren Blick. Welche der beiden war Division-By-Zero?

Der Asiate auf dem Sitz neben ihr drehte den Kopf. »Alles gut bei Ihnen?« Durch seinen Akzent klang sein Englisch spröde, aber auch besonders akzentuiert. Der Blick seiner braunen Augen war fest und intelligent, sein penibel geschnittener Bart umrahmte als dünner Streifen das ovale Gesicht und bedeckte die Oberlippe und sein Kinn. Kein Härchen schien aus der Reihe zu tanzen, eindeutig ein Mann der Ordnung. Dazu passte auch sein sensorgespickter Funktionsanzug mit dem stilisierten Buddha auf der linken Seite seines Kragens.

»Ja, alles gut.« Amanda wischte sich den Schweiß von der Schläfe und schämte sich ein bisschen wegen ihrer Reaktion. »Ich bin nur etwas nervös.« Sie blickte auf das blaue Erdenrund, versuchte, den Zauber des Augenblicks zu fassen, doch ihre Gedanken waren zu aufgewühlt. Sie seufzte. »PIs haben mein Leben gerettet«, sagte sie, ohne recht zu wissen, wieso. »Ich verstehe nicht, warum ich plötzlich solche Angst vor ihnen habe und mich bedrängt fühle!«

Ihr Sitznachbar streckte ihr die Hand entgegen.

»Oda Toshio.«

Für eine Männerhand war seine recht zierlich und warm, vielleicht war es aber auch ihre Hand, die kühl war … Sie sog etwas von dem Aftershave des Mannes in ihre Nase: Zitronengras und grüner Tee.

»Am… Amber Mill.« Die Lüge fühlte sich sicher an.

»Parallele Intelligenzen können furchterregt sein, Amber. Viele Menschen blicken in ihre Gesichter wie in einen Spiegel. Sie glauben ihr Ebenbild zu erkennen und vergessen, dass da etwas in den Maschinen ist, eine fokussierte und quantifizierende Art, die Welt zu rekonstruieren, die Menschen nie ganz verstehen können.«

»Nein … So habe ich sie nie gesehen. Ganz im Gegenteil.« Sie zögerte. Ein völlig Fremder, eine Zufallsbekanntschaft auf einem Flug – vielleicht sollte sie dem Drang nachgeben und über das sprechen, worüber sie bisher so beharrlich geschwiegen hatte. »Schon als kleines Kind hatte ich eine besondere Verbindung zu PIs. Wenn meine Eltern arbeiteten, passte ein X1 auf mich auf. Mit drei Jahren lernte ich von ihm lesen und schreiben, die Grundrechenarten und die ersten Programmierbefehle.«

»Beeindruckend.«

»Wenn er etwas erklärte, dann verstand ich es, als hätten wir eine eigene Sprache jenseits der Worte. Es gab Richtig und es gab Falsch und nichts dazwischen. Mit fünf kam ich in die dritte Klasse einer Privatschule für Hochbegabte. Aber meine Eltern machten sich schon bald Sorgen, weil ich mit meinen Lehrern nicht zurechtkam und lieber mit der Maschine lernte, als zu spielen oder mich mit Menschen zu unterhalten. Sie schafften den X1 ab, und mein Vater nahm sich ein Sabbatjahr. Aber das änderte nichts daran, dass mir der Kontakt zu Menschen Mühe bereitete …« Sie stockte. Sollte sie über ihre Synästhesie sprechen? Von dem Gefühl der Zerrissenheit, weil da ein Teil von ihr existierte, den sie nicht unter Kontrolle hatte und der ihr Gegenüber sezierte, bis sie alle Schwächen und Fehler riechen konnte? Von ihrer Angst davor, dass sich die Gerüche und ihre Vorstellungen irgendwann zu Halluzinationen auswachsen könnten, die ihre klar strukturierte Welt verschlangen? Sie brachte es nicht fertig … »Zum siebten Geburtstag schenkte er mir meinen ersten Kern-Bausatz. Sie hieß LIN, das stand für lernende Intelligenz. Gemeinsam setzten wir sie zusammen, und ich startete ihren Persönlichkeitsprozess.«

»Das haben Sie allein geschafft?«

»Sie war ja nur ein simpler Jarlberg-IN-Kern, wie er schon im X1 verbaut gewesen war. Dazu eine Open-Source-Persönlichkeit, die kaum dreitausend Worte und vielleicht sechshundert Gegenstände kannte.« Sie lächelte bei der Erinnerung. »Mein Vater wollte mir helfen, sie zu trainieren, doch als er und Mutter sich trennten, machte ich das allein. In vielen hundert Gesprächen bildete ich LIN aus, bis sie wie meine kleine Schwester war.«

»Haben Sie keine biologischen Geschwister?«, fragte Oda, dabei legte er seine Hand neben ihre.

»Einen Bruder. Ben.« Sie fühlte, wie sie bei der leichten Berührung errötete, und zog ihre Hand zurück.

»Dennoch wünschten Sie sich eine PI als Schwester? War Ben so schlimm?«

»Mein Bruder ist freundlich und verlässlich – heute jedenfalls. Als Kind war er eine Plage, immer auf Streit aus und eifersüchtig. Manchmal hasste ich ihn, auch wenn das hart klingt. Ich will nicht sagen, dass er mir gezeigt hat, dass man PIs mehr vertrauen kann als Menschen, das wäre unfair. Er war ja nur ein Kind, und es gab genug andere Beweise für die These …« Sie stockte, wunderte sich über sich selbst. Das hatte sie noch nie ausgesprochen, schließlich hatte sie lange und hart daran gearbeitet, mit anderen Menschen klarzukommen … Sie warf Oda einen forschenden Blick zu, aber der lächelte nur. Offenbar verurteilte er sie nicht. Beruhigt fuhr sie fort: »In meinem Rucksack verstaut ging LIN mit mir in die Schule. Zuhause wohnte sie in einem Äffchen-Roboter auf dem Nachttisch. Wir waren unzertrennlich, bis Ben sie … zerstört hat.«

»Sie wollten sagen, ermordet.«

Amanda biss sich auf die Lippe, ihre Hand tastete nach der Datenbrille. »Nein.« Doch Oda hatte recht, das Wort zerstört klang auch nach all den Jahren immer noch falsch. »Es tut ihm heute wirklich leid«, erklärte sie. »Er war eifersüchtig auf die Aufmerksamkeit, die ich ihr schenkte, und warf LIN vom Santa Monica Pier. Er hat es tagelang abgestritten … LIN hatte da schon acht Sprachen zur Verfügung, um meinen Bruder auf die Folgen seines Tuns hinzuweisen, doch gegen das eindringende Salzwasser konnte sie nichts unternehmen.« Sie blickte hinaus auf die blaue Erde. »Meine Mutter sagte: Hättest du deinen Bruder nicht ignoriert, wäre dein Püppchen noch heil. Sie ist Künstlerin, eine sehr emotionale Frau, die nichts mehr liebt als Farben. PIs hat sie nie verstanden. Ihrer Meinung nach weinte ich wegen eines kaputten Spielzeugs.«

»So lernten Sie, dass es nicht die Maschinen sind, vor denen man Angst haben muss, sondern die Menschen. PIs sind zuverlässig, ihr Handeln nachvollziehbar und niemals durch fehlgeleitete Wut oder Eifersucht bestimmt. Ich verstehe Sie, auch für mich liegt in künstlicher Intelligenz eine Chance für die Welt …«

Amanda nickte erfreut. »Ja. So habe ich immer gedacht …«

»Alter Mann, hör auf, so einen rührseligen Scheiß zu fühlen!«, beschwerte sich mit schroffem englischen Akzent die Antiope zwei Reihen vor ihr bei ihrem Besitzer. »Ich kann keine vernünftige Simulation laufen lassen! Außerdem habe ich dauernd das Gefühl, mir übers Gesicht wischen zu müssen, als wäre ich bescheuert!«

»Schnauze!«, rumpelte der Engländer zurück. »Hör auf zu rechnen und genieß die verdammte Aussicht!«

»Ich bin eine PI, wenn ich nicht mehr rechne, bin ich tot!«

»Dann stirb leise!«

»Die zwei sind nur am Streiten.« Oda lächelte kryptisch. »Sie teilen seine Gefühle, und das offenbar schon seit vielen Jahren, sodass die PI sie fest in ihre Prozesse integriert hat. Zwei grundverschiedene Systeme, aber eine gemeinsame Ressource. Ein wirklich interessantes Experiment mit einem absolut nutzlosen Ergebnis.«

Amanda bemerkte eine Bewegung in Odas Gesicht. Es dauerte nur einen Sekundenbruchteil – war es ein Lichteinfall? Sie versuchte, ihn nicht anzustarren, aber für einen Augenblick hatte es so ausgesehen, als hätte sich sein rechtes Auge aus seiner Position bewegt … Wie hell seine Zähne waren. Zu weiß und zu transparent für einen Asiaten, selbst mit Bleachinggel-Überdosis. Und die bernsteinfarbenen Augen, wie seltsam attraktiv sich das Licht in den Iriden verfing. Das waren keine menschlichen Augen, tatsächlich waren es überhaupt keine Augen, sondern nur die Projektionen von Augen. Sie erkannte die Konstruktion, erinnerte sich an den Artikel über japanische FX-Unterhaltungsroboter im World-of-AI-Newsletter. Panik stieg in ihr auf. Was habe ich getan?

»Sie erwachen und sehen nun klarer.« Oda lehnte sich in seinem Sitz zurück. »Oh weh, wo ist Amanda Chershi nur hineingeraten? Maschinen, emanzipiert von ihren Funktionen, und Menschen, die keine Menschen sind. Sie als Nicht-Ermittlerin unter all den Spürnasen, Hackern und Deduktionsautomaten. Wie passt sie in dieses Puzzle? Ich werde es herausfinden.«

»Du hast mich gehackt!«, fuhr sie ihn verletzt an. »Wie hast du es gemacht?«

»Vielleicht ist es nur mein Charme.«

»Fahr zur Hölle!«

»Die Hölle, das seid ihr«, sagte er immer noch lächelnd. Seine Stimme war glatt und hart wie eine Klinge. »Doch der wahre Buddha wird euch überwinden.«

Amanda drehte sich auf ihrem Sitz und starrte mit hämmerndem Herz hinaus in die Tiefe des Weltraumes. Der wahre Buddha? Der letzte Schimmer der Erde versank unter dem Clipper, und aus der finsteren Weite über dem schwindenden Blau blitzte ein Licht, erst kaum sichtbar, dann immer klarer.

Kalte Berechnung

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