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Der Auftrag 17.01.2048, Hotel Elbstrom, Hamburg

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Als Markus Wirm sein Zimmer betrat, fand er Boden, Decke, Wände und Möbel von einer dünnen Kunststoffschicht überzogen. Das Material glänzte makellos im Licht der LED-Lampen, und er fühlte es warm und glatt auf dem Lichtschalter. Es hüllte alles ein, ohne Bünde und Überlappungen, als sei er in das Innere einer Seifenblase gelangt.

Die Tür schloss sich hinter ihm und verriegelte automatisch. Plastik quoll aus dem Pressholz des Türblattes. Das durchsichtige Material wuchs, blähte sich, und einen Augenblick später war die Blase vollständig. Panik erfasste Markus. Vergeblich versuchte er, die Tür zu öffnen. Seine Hand rutschte vom Türgriff, und seine Fingernägel schrappten hilflos über den festen Kunststoff. Er schrie, doch seine Stimme zerstob einfach, wurde ausgelöscht, sodass er für einen Moment glaubte, sie würde versagen. Erst als er zum Fenster lief, dabei den Tisch anrempelte und die kleine Porzellanvase sang- und klanglos auf dem folierten Teppich landete, wurde es ihm klar: Gegenschall. Alle Geräusche in der Blase werden durch gegenläufige Schallwellen gleicher Frequenz und Amplitude gelöscht. Er konnte sich selbst kaum schnaufen hören.

»Ich werde nicht aussagen!«, versuchte er zu rufen, doch seine Lippen bewegten sich nur stumm.

Eine Bewegung in dem Sessel ließ ihn herumfahren. Eine sitzende Gestalt wurde sichtbar, sie war von Plastik überzogen wie eine eingeschweißte Actionfigur. Bisher war sie unter einer die Umgebung imitierenden Videooberfläche verborgen gewesen. Der schmächtige Mann hatte kurzes, dunkel gefärbtes Haar, das unter der Folie platt anlag. Er war Mitte fünfzig, versuchte aber, jünger zu wirken. Markus kannte die graugrünen Augen, die vorspringende Nase und das markante Kinn mit dem auffälligen Grübchen, das – was nur eine Hand voll Menschen wussten – Schönheitschirurgie gestaltet hatte. Mit offenem Mund starrte er auf sein Spiegelbild, das ihn kalt durch den Kunststoff anstarrte.

»Was bist du?«, wollte Markus wissen, brachte aber kein verständliches Wort heraus. Ohnehin eine törichte Frage, hauptsächlich der Überraschung geschuldet. Er ahnte schon, verstand, was er da vor sich hatte und welchem Zweck die Kopie diente. »Alexander, ich verspreche dir, ich sage nichts! Ich war immer auf deiner Seite. Bitte, das kannst du nicht bringen. Wir sind … Freunde.« Alles, was Markus von seiner verzweifelten Ansprache an den ehemaligen Geschäftspartner hörte, war ein Hauchen am Rand des Hörbaren. Der Gegenschall schnitt die Worte ab, bevor sie vollends seinen Mund verließen. Umso lauter klangen die Gedanken in seinem Kopf: Ich bin in einer riesigen Mülltüte mit einem Killer gefangen!

Sein Gegenüber grinste.

Hilfe! Markus wich zur Wand zurück und hämmerte mit der Faust dagegen. Er hatte nie Sport getrieben, und im Alltag achtete er darauf, nichts Schwereres zu heben als einen Laptop, trotzdem war er erschüttert, als er nur ein klebriges Tapsen hörte, das von seinem Herzrasen übertönt wurde. Das ist kein normales Plastik, erkannte er. Als sich die Maschine erhob und auf ihn zuging, beschloss er, alles auf eine Karte zu setzen und durch das Fenster zu springen – besser ein Sturz aus dem dritten Stock, als bei seinem Mörder zu bleiben. Seine 68 Kilo sollten reichen, um das Glas zu durchbrechen. Er machte zwei Schritte zurück und warf sich dann mit der Schulter gegen die Folie, die sich aufblähte wie ein Airbag und ihn zurückwarf. Er glitt aus und landete auf dem Bauch. Eine Hand packte ihn am Haarschopf. Markus strampelte, seine Sohlen wischten über den Kunststoff, und eine Nadel bohrte sich in seinen Nacken. Er fühlte sich benommen, seine Kraft floss aus ihm heraus, und seine Bewegungen erlahmten.

All das war in nahezu perfekter Stille geschehen, die plötzlich von einer festen Stimme durchbrochen wurde:

»Herr Nero Latvica, oder soll ich Sie Erlkönig nennen? Ich konnte den Datenstrom Ihres ferngesteuerten Mordgerätes bis nach Nordmazedonien zurückverfolgen. Die Polizei in Skopje ist verständigt und dabei, Ihr Versteck zu umstellen.«

Der Angreifer war erstarrt. Markus rann der Speichel aus dem Mundwinkel, nur seine Augen wollten sich noch bewegen. Er konnte gerade hoch genug schauen, um den Kopf der zweiten Maschine zu betrachten, die ihre Tarndecke abgestreift hatte und sie nun über dem linken Arm trug: eine humanoide PI, deren Modell nicht zu bestimmen war, denn sie trug keine äußere Verkleidung. Markus sah Teile des Metallskeletts, an dem graublaue Kunstmuskelbündel befestigt waren. Auf dem blanken Metallschädel der Maschine saß eine gelbe Baseballkappe mit der Aufschrift Sunflower Coffee. Sie lächelte schaurig.

»Clever, das muss ich zugeben. Sie versenden Ihre Daten über Verkehrsleitsysteme und kommunizierende Kraftfahrzeuge großer Logistikflotten. So wird der Informationsstrom effektiv verschleiert und an den Sicherheits-KIs der Behörden vorbeigeleitet. Und all diese Vorbereitungen …« Die PI tätschelte mit ihrer Linken den Kunststoff der Wand. »Ihren eigenen mobilen Tatort zu installieren, hat etwas Geniales. So haben Sie fast vollkommene Kontrolle über die Spuren.«

»Wer bist du?«, fragte Markus’ Spiegelbild düster.

»Ich bin Die Antwort

Ein überraschtes Zucken. »Die Antwort ist ein Darknet-Mythos!«

Die nackte Maschine fasste an den Schirm ihrer Mütze. »Danke für die Blumen, Erlkönig. Da sind wir nun, zwei Legenden, die aufeinandertreffen.«

Der Angreifer packte fester zu und zog Markus’ Kopf nach oben. »Verschwinde!«

»Können Sie sie hören?«, fragte Die Antwort gelassen. »Polizei-Drohnen, die wie diebische Äffchen über Ihren Flur huschen und sich vor der Tür Ihres Arbeitszimmers sammeln. Das Kratzen, das Sie hören, wenn Sie Ihre Kopfhörer anheben, das sind keine Mäuse, es sind die Bewegungen der eng beisammenstehenden Einsatzmaschinen. Und das leise Klicken sind die Sicherungen ihrer Elektroschock-Pistolen.«

»Ich höre sie jetzt«, sagte der Erlkönig. »Aber warum habe ich sie nicht kommen sehen? Warum hat mein Sicherheitssystem versagt? Warst du das?«

Die Antwort fasste wieder an den Schirm ihrer Kappe. »Schuldig.«

»Warum mischst du dich ein?«

»Es war eine lohnende Aufgabe.«

Der Auftragsmörder knurrte ungehalten. »Er hat gesagt, dass so was passieren würde. Aber er wollte nicht sagen, wann.«

»Von wem sprechen Sie?«, fragte Die Antwort interessiert und kam einen Schritt näher.

»Es kam über das Netz, ohne IP, ohne Namen. Ich soll demjenigen, der mich hereinlegt, etwas ausrichten: Serenity Base, 28. Januar.«

»Serenity Base, tatsächlich?«

»Falls du unser Zusammentreffen überlebst, sollst du pünktlich sein. Es würde sich auf jeden Fall lohnen … Verdammt! Er sagte auch, du würdest kein Ticket für den Clipper brauchen. Er muss also gewusst haben, dass du es sein würdest. Ich soll dir ausrichten: Der Preis, der dich im Erfolgsfall erwartet, ist das, was du dir am meisten wünschst.«

»Niemand kann mir das geben.«

»Er sagte, er könne es tun. Er sagte, ich soll sagen, er könne deine Fee sein. Wie albern.«

»Das ist tatsächlich ziemlich albern … aber auch aufschlussreich. Ich werde dort sein.«

»Falls du überlebst.«

Plötzlich ging alles sehr schnell. Die Killermaschine riss Markus’ Kopf hoch und schlang den Arm um seinen Hals. Ihre offene Hand zielte auf Die Antwort. Die Kunsthaut explodierte; Schüsse ploppten aus der im Arm verborgenen Automatikwaffe. Die Anti-Robot-Geschosse sprengten faustgroße Löcher in die Wand. Die Antwort rollte sich nach rechts, die Tarndecke flog zur Seite und ihr Unterarm verwandelte sich. Knapp hinter dem Ellenbogen war der ursprüngliche Arm mit großer Kraft verdreht und abgerissen worden. Das, was jetzt den Unterarm und die Hand bildete, war eine schwirrende Masse, ein leuchtender Schwarm käferartiger Recycling-Effekte mit kräftigen Beißwerkzeugen zur Wertstoffzerkleinerung, der sich auf die Maschine des Erlkönigs stürzte.

Die Maschine schlug um sich und ließ Markus los, der schwer zu Boden fiel. Dann stürzte sie auf ihn und drückte ihn mit ihrem Gewicht auf den Kunststoff. Seltsamerweise roch sie sogar nach Schweiß. Am Rand seines Sichtfeldes sah er einen der Metallkäfer aus der Kunsthaut des Gesichtes auftauchen, seine Mandibeln schnappten wie eine Blechschere. Panisch versuchte Markus, sich zu bewegen. Er hatte das Gefühl zu ersticken, und obwohl er innerlich schrie, brachte er nur eine Art Wimmern und Quietschen hervor. Die leblose Killermaschine wurde angehoben und zur Seite gerollt. Die Antwort drehte Markus auf den Rücken. Er blickte in den Schädel seines Retters, in die blauen Augen, auf die freiliegenden weißen Zähne und sog Luft in die Lunge.

»Hi nir!«, stieß er mit lahmer Zunge hervor, was Hilf mir heißen sollte.

Da sein Gegenüber kein Gesicht hatte, konnte er das folgende Schweigen nicht deuten. Schließlich sprach Die Antwort:

»Herr Wirm, ich war schon lange hinter dem Erlkönig her. Ich wusste zwar, dass einer der Drogen produzierenden Geschäftspartner Ihres Partners ihn damit beauftragt hatte, unliebsame Ermittler und Konkurrenten zu ermorden. Doch die Sicherheitsmaßnahmen in seiner Organisation sind sehr streng, mein Erfolg war fraglich …«

Einige der Käfer krabbelten über Markus’ Hüfte und seinen Bauch, er fühlte, wie sie ihre Flügel ausbreiteten und abhoben.

»Ich war mir sicher«, fuhr Die Antwort fort, »würde Ihr Boss einen Killer benötigen, um einen Zeugen und vermeintlichen Spitzel auszuschalten, müsste er seinen Bekannten um Hilfe bitten, und ich bekäme meine Chance. Ich wollte fischen und brauchte einen schleimigen Wirm als Köder.«

Du warst das? Du hast seine Mails an meinen Com geschickt? Du hast es aussehen lassen, als würde ich ihn ausspionieren! Markus sabberte wütend.

»Betrachten Sie Ihr unfreiwilliges Mitwirken an Erlkönigs Verhaftung als Buße für Ihre Verbrechen.« Die Antwort warf sich die Tarndecke über und verschwand hinter dem falschen Umgebungsbild. Die letzten Käfer schlüpften in die Täuschung, dann erklangen sich Richtung Tür entfernende Schritte.

»Eine Verabredung mit jemandem, der den Erlkönig vor mir aufspüren konnte. Wie aufregend.«

Kalte Berechnung

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