Читать книгу Kalte Berechnung - Michael Rapp - Страница 8
23.01.2048, Austin, Texas
ОглавлениеAmanda lag in ihrem Krankenhausbett, die Datenbrille auf der Nase, und sah sich wieder und wieder die Aufzeichnungen des Zusammenbruchs an. In der Zeitlupe war deutlich zu erkennen, dass die Lenkwaffen die äußere Glashülle durchschlagen hatten und erst im Gebäudekern explodiert waren. Es regnete Feuer und Trümmer, ein Inferno, hundertfacher Tod. »Wieso?«, murmelte sie. »Wieso habe ich überlebt?«
Sie war zwei Tage nach dem Angriff im East Park Hospital erwacht, als eine von nur drei Überlebenden des Wheel-Anschlags. Die Hälfte der Haut auf ihrem Rücken war verbrannt, Elle und Speiche ihres linken Arms gebrochen. Ebenso beide Beine, mehrere Rippen und ihr Kiefer. Die PIs hatten alles wieder zusammengeklebt. Spezialzellen beschleunigten das Anwachsen der transplantierten Haut, die sich farblich aber noch eine Weile abheben würde. Außerdem juckte es penetrant auf ihrem Rücken. Laut der Ärzte ein gutes Zeichen. Die Brandverletzungen waren beträchtlich gewesen, sodass sich der leitende Chirurg während der Notoperation für eine großflächige Versorgung entschieden hatte. Gut zurecht kam sie mit ihrer neuen Lunge, einem gezüchteten Universaltransplantationsorgan, und der Prothese, die ihr rechtes Auge ersetzte. Das Einzige, was die Ärzte nicht wiederherstellen, ihr nicht zurückgeben konnten, war die Erinnerung daran, wie sie aus dem explodierenden Turm acht Stockwerke tiefer in das Nebengebäude der Unispro-Versicherung gekommen war. Außer ihr hatten nur eine Rezeptionistin und ein Servicetechniker überlebt, deren Fahrstuhlkabine wie durch ein Wunder unter den Trümmern nicht vollständig zerquetscht worden war. Beide lagen noch im künstlichen Koma.
Amanda startete die Wiedergabe des nächsten Videos und verschlang es Bild für Bild. Es gab einhundertneununddreißig öffentlich zugängliche Aufnahmen von Sicherheitskameras, Service-PIs, Fahrzeugen und Touristen. Das Gebäude war zum Zeitpunkt des Angriffs von allen Seiten und sogar aus der Luft von Lieferdrohnen aufgenommen worden. Auf der Suche nach Antworten spielte Amanda täglich jedes einzelne Video ab und dann alles von vorn. Doch keine der Aufzeichnungen gab ihr die gesuchte Antwort; keine zeigte ihrem überreizten Geist einen logischen Weg, der in den Sekunden zwischen dem ersten Einschlag und den folgenden Explosionen vom Fahrstuhl des abkippenden Büroraumes durch das Büro, vorbei an ihren panischen Kollegen, auf den Flur des Nebengebäudes führte, wo man sie gefunden hatte. Stattdessen spielte ihre Synästhesie vollkommen verrückt. Schon immer hatte sie menschliche und tierische Emotionen als Gerüche bestimmter Gegenstände, Pflanzen und Speisen wahrgenommen, doch jetzt hatte sich diese Gabe auch auf Objekte in den Überwachungsvideos ausgeweitet. In diesen Aufzeichnungen schienen auch Dinge Gefühle zu besitzen. Technische Geräte bekamen den scharfen Zitronenduft einer Lüge, ließen die Tulpen von Selbstbewusstsein und Entschlossenheit blühen und kleideten sich in den schwitzigen Kamillenduft der Hilfsbereitschaft, was sie noch weiter verwirrte und ihr das Gefühl gab, wahnsinnig zu werden.
Es war der vierundzwanzigste Januar, ihr sechster Tag im Krankenhaus, der Tag, an dem sie ihre erste Reha-Stunde und eine Sitzung mit der Krankenhaustherapeutin absolviert hatte, als sie mitten in der Nacht von einem Geräusch hochschreckte. Blinzelnd zog sie die in Dauerschleife laufende Brille beiseite und versteckte sie unter dem Kopfkissen. Dabei bemerkte sie einen Schatten neben ihrem Bett und roch Kamillenblüten. Sie dachte an eine der Schwestern, die ab und zu nach dem Rechten sahen und für den menschlichen Kontakt zu den Patienten sorgten – dazu hätte auch die beruhigende Kamille gepasst.
»Entschuldigung, ich habe die Brille vergessen …«, murmelte sie, aber da war niemand. Vor ihr auf der Bettdecke lag eine Speicherkarte. Ein solides USD-Modul, wie es bei Service-PIs als Backup-Speicher und Blackbox eingesetzt wurde. »Licht«, befahl sie, und die LEDs an der Decke fluteten alles mit kalter Helligkeit. Eilig schlug sie die Bettdecke zur Seite, schwang die schmerzenden Beine über die Bettkante und setzte sich steif auf. Erst in diesem Moment dachte sie an die parallele Intelligenz in der Zimmerecke, ein Kuro-Sansei-Pflegeroboter, der vermutlich vor einigen Jahren noch in der Notaufnahme oder einem OP eingesetzt worden war, jetzt, da neue Modelle eingeführt waren, aber nur noch für die Krankenüberwachung in Einzelzimmern taugte.
Sie wandte sich an die PI. Kaum hatte sie den Blick auf sie gerichtet, nahm sie ihre Präsenz auf: Zitronenduft, so intensiv, dass er sie dazu brachte, sich eine Zitrone vorzustellen. Sie zögerte verwirrt. Das war das erste Mal, dass ihre Synästhesie auf eine Maschine reagierte, die mit ihr in einem Raum war. Und überhaupt: Zitronen, das waren Lügen, und PIs logen nicht.
Entwickle ich einen Verfolgungswahn? Sie sah auf den Speicher, und der war eindeutig Realität.
»Wer war bei mir im Zimmer?«
»Ihre Physiotherapeutin Dr. Patell war gestern Abend …«
»Nein, vor zwei Minuten.«
»Niemand.«
»Woher kommt dann dieser Speicher?« Sie hielt das Modul hoch.
»Er lag auf Ihrem Bett«, erwiderte die PI trocken und kam ihr jetzt wirklich vor wie ein abgebrühter Krankenpfleger, der die Wehwehchen seiner Patienten nicht mehr ganz ernst nahm. Das und die Zitrone machten sie wütend.
»Seit wann?«
»Das weiß ich nicht. Spielt das eine Rolle?«
Sie wandte den Blick ab und wischte sich über die Augen, um den Gestank loszuwerden. »Hilf mir, ich will zum Tisch!«
»Sie brauchen Ruhe«, widersprach die Maschine, trat aber näher und stützte Amanda, als sie aufstand und steif zum Tisch ging. Sie hätte losheulen können, so weh tat jeder Schritt.
»Auf den Stuhl!«, befahl sie dem Sansei und klammerte sich an seiner gummibeschichteten Schulter fest, während er den Stuhl in Position zog.
Als sie saß, klappte sie ihre Workstation auf, die ihr Bruder Ben ihr mitgebracht hatte. Nachdem sie das Modul von allen Seiten betrachtet und sich überzeugt hatte, dass es keine Düfte erzeugte, schob sie es in das Lesegerät. Der Speicher enthielt nur eine Datei, die 3D-Videoaufzeichnung einer PI, versehen mit Koordinaten und Zeitstempel, passend zum Terrorangriff.
»Kann ich noch etwas …«, begann der Sansei.
»Verschwinde!«, blaffte Amanda ihn an. Sie verstand selbst nicht, warum sie so wütend auf ihn war. Sie hatte PIs immer gemocht, mehr noch als Menschen. In ihrer Kindheit hatte es Zeiten gegeben, da hatte sie sich gewünscht, selbst eine parallele Intelligenz zu sein und alles nur so zu erleben, wie es war, statt von ihrem Gehirn betrogen zu werden.
Schweigend zog sich die PI in ihre Ecke zurück. Amanda setzte ihre Brille auf, lud die Datei und sah im Startbild … sich selbst. Der Duft feuchten Laubes stieg ihr in die Nase. Ich habe bedauert, dass Julian mich dazu gezwungen hat. Ihr altes Ich sah mit Tränen in den Augen und doch kämpferisch an der aufzeichnenden PI vorbei. Hinter ihr, vier Arbeitsinseln entfernt, stand ihr Boss hinter seinem Schreibtisch und sah seine Assistentin Gina an. Laub und Erde. Er roch ebenso unglücklich wie sie. Ich habe ihn angeschrien. Das Letzte, was ich zu ihm sagte, war eine Drohung.
Amanda schniefte und versuchte, in ihre Tasche zu greifen, um ein Tüchlein hervorzuholen, aber es gab keine Tasche an ihrem Kittel. Und die Desinfektionstücher waren ihr von einer Krankenschwester weggenommen worden. Sie beruhigte sich und startete die Wiedergabe. Links neben der PI gingen zwei identische Modelle (beides Zitronen), die plötzlich beschleunigten und Amanda packten. Sie kämpfte gegen die Gerüche an, wollte alles mit klarem Verstand sehen – eine der PIs lud sie sich auf die Schulter, als sei sie so leicht wie eine Puppe. Mit unerhörtem Tempo rannten die PIs mit ihr an Arbeitsinseln und überrascht aufblickenden Kollegen vorbei auf die Fensterfront zu. Sie strampelte und wand sich im Griff der Parallelen. Eine der PIs hatte einen Feuerlöscher dabei und zerschlug die Scheibe. Geruchswellen voller Seetang schlugen über ihr zusammen, als ein mörderischer Schlag das Gebäude erschütterte. Ihr altes Ich schrie, doch das Krachen und Bersten übertönte fast alles. Warum nur? Eine Sekunde später sprang ihr Träger mit ihr nach draußen, dabei drehte er sich. Der Himmel rauschte durch das Bild, er war voller Scherben und springender PIs. Die obersten achtzehn Stockwerke des Wheel Towers brachen zusammen – das Gebäude war vom ersten Einschlag enthauptet worden. Kreischend stürzte Amanda Richtung Fensterfront der Unispro-Versicherung.
Warum ich? Warum wollen all diese PIs mich retten? Siebenunddreißig Personen waren in diesem Büro, viele verheiratet und mit kleinen Kindern …
Die parallele Intelligenz mit dem Feuerlöscher schleuderte das Gerät durch eine Scheibe des Nebengebäudes. Eine weitere PI bekam den Fensterrahmen zu fassen, hielt sich trotz des auf sie abgehenden Glasgewitters fest und angelte mit der freien Hand nach Amanda. Sie wurde von ihrem Beschützer hochgeworfen wie von einer Sprungfeder abgeschossen.
Amanda stoppte die Wiedergabe und fasste sich an ihren linken Arm, an das schienende Fasergerüst und dann an ihre Seite. Da ist es passiert. Sie startete das Video erneut:
Ihr Beschützer stürzte ab und breitete dabei die Arme aus. Erschrocken blinzelte Amanda. Was ist das für ein Gestank? Tausend Gefühle schienen zugleich um Aufmerksamkeit zu buhlen. Ein weiterer Einschlag, Feuerschein spiegelte sich in den Roboteraugen. Eine andere PI stieß sie weiter nach oben, und der sich am Fenster festklammernde Helfer bekam Amanda zu fassen und schleuderte sie in das Büro der Versicherung. Feuer brandete in die Etage, und zwei Stockwerke tiefer brach die aufzeichnende PI durch die Scheibe. Die Parallele rappelte sich auf und rannte durch das leere Büro in das Treppenhaus und die Treppe hoch. Sie fand Amanda bewusstlos und blutend hinter einem umgestürzten Schreibtisch. Ihr Beschützer nahm sie auf und trug sie aus dem Büro, ringsum krachte und prasselte es, Deckenplatten stürzten auf die unbesetzten Arbeitsplätze. Hinter einer Schutztür legte er sie vorsichtig ab, beugte sich über sie und nahm ihren Kopf zwischen seine Hände. »Das ist mein Geschenk an dich«, sagte er. »Es wird dir helfen, klarer zu sehen.«
Plötzlich stoppte die Aufzeichnung. Wahrheit gegen Wahrheit stand unten am Bildrand in roten Arial-Lettern. Das Bild änderte sich, ein Gebäude war zu sehen, ein weites Betonfeld und ein großes blau-weißes Fluggerät, geformt wie ein schmaler Rochen. Die Sonne schien darauf, und ein neuer Text erschien: Wenn Sie sich Ihre Antworten verdienen wollen, kommen Sie am 28.01. nach Serenity Base. Ihr elektronisches Ticket hat den Code 37AC7O539. Unwillkürlich atmete Amanda die angehaltene Luft aus und riss sich die Brille vom Kopf.
»Wer hat den Speicher gebracht?«, fuhr sie den Sansei an.
»Niemand, er lag auf Ihrem Bett.«
»Lügner!« Sie sprang auf, ihre verletzten Beine drohten wegzuknicken. Mit zusammengebissenen Zähnen stakste sie zum Schrank, riss die weiße Lamellentür auf und begann, in der Tasche zu wühlen, die Ben für sie in ihrer Wohnung gepackt hatte. Schnell fand sie, was sie suchte. Du kennst mich, Bruder. Sie nahm den kleinen Werkzeugbeutel heraus, zog den Reißverschluss zurück und löste die Lux-Werther-Sonde aus ihrer Klammer. Das Gerät sah aus wie ein silberner Stift mit roten, blauen und gelben OLED-Ringen im oberen Teil. Sie drehte den Regler, worauf die Ringe nacheinander aufleuchteten.
»Komm her!«, befahl Amanda dem Kuro, der ihr einen misstrauischen Blick zuwarf, den Befehl aber doch befolgte.
»Was haben Sie vor? Sie sind nicht befugt …«
Die Lichter der Sonde pulsierten in allen Farben des Regenbogens, die Codes darin lösten ein Sicherheitsprogramm aus und trennten den PI-Kern vom Roboter-Körper. Der Körper straffte sich, wurde steif. Die Zugangsklappe am Hinterkopf der Maschine entriegelte.
»Wir zwei gehen diesem Speicher jetzt auf den Grund.«