Читать книгу Kalte Berechnung - Michael Rapp - Страница 11
Die erste Prüfung
ОглавлениеDie Vision gab Gegenschub und glitt zwischen die beiden hundertzwölf Meter hohen Türme der Odyssee-Versorgungsstation, auch bekannt als die Säulen des Herakles. Bei Annäherung des Schiffs war die Station zum Leben erwacht. Immer mehr Lichter flammten an den Türmen und dem sie verbindenden Gerüst auf. Positions- und Landelichter, aber auch Elemente, die offenbar nur dem optischen Eindruck dienten und die Reisenden beeindrucken sollten. Richard war sehr beeindruckt.
»Non plus ultra«, sagte Mike.
»Das nun auch wieder nicht«, widersprach er. »Aber schon ein bemerkenswerter Anblick.«
Mike grinste. »Der Spruch Non plus ultra war laut Legende an den echten Säulen des Herakles eingelassen. Übersetzt bedeutet er: Bis hierher und nicht weiter. Eigentlich eine Warnung. Die Säulen markierten für die antiken Griechen das Ende der bekannten und sicheren Welt. Kaiser Karl V. übernahm die Säulen in sein Wappen, änderte das Motto aber in Plus ultra. So machte er aus dem Ende der Welt den Zugang zu einer größeren.«
»Die Mayas und Inkas hätten sicher darauf verzichten können.«
»Darum geht es doch nicht, Richard. Entscheidend ist der Entschluss, alles zu wagen und in das Unbekannte vorzustoßen. Eine Grenze nicht mehr als Ort der Gefahr, sondern als Herausforderung und Chance zu verstehen. Unterhalb des Rad-Logos der Wheelwright-Gruppe steht übrigens das gleiche Motto.« Er deutete auf ein großes goldenes Rad am Turm auf der Afrika-Seite.
Plus ultra, las Richard.
Mit leichtem Andruck machte sich der Gegenschub bemerkbar. Ein Vibrieren ging durch den Clipper. Die Stimme der Pilotin klang von der Decke: »In wenigen Minuten docken wir an der Odyssee-Station an. Während die Grand Vision den Sicherheitscheck durchläuft und neu betankt wird, nutzen Sie bitte unseren Service auf der Station: Schlafkapseln mit Neurovita-Assistenzsystemen für Ihre Augmented-Sleeping-Experience stehen im Bereich E1 zur Verfügung, das Spa finden Sie in E2–3 mit Zero-G-Hygiene, Luftstromduschen und Massageeinheiten, in E4 befinden sich der Sportpark und die Telemedizin. A1–2 im Afrika-Turm beheimaten den holografischen Entertainmentbereich. A3 bietet abgeschirmte Arbeitsbereiche. Und sollten Sie Hunger und Durst verspüren, finden Sie im Stardust-Restaurant auf A4 ein reichhaltiges Angebot. Ich empfehle Ihnen unser Kometenwasser, vier Milliarden Jahre alt und vollkommen schadstofffrei. Egal welchen Wunsch Sie haben, richten Sie ihn bitte an den Stationscomputer oder eine der für Sie bereitstehenden Service-PIs. Vielen Dank.«
»Scheint, als wäre das Unbekannte recht gut ausgestattet«, sagte Richard.
»Die Welt ändert sich so schnell, da kommt man als einfache parallele Intelligenz kaum noch mit«, scherzte Mike.
Ein leiser Gong erklang hinter ihnen, gefolgt von der Stimme eines Sitzcomputers. »Bitte bleiben Sie auf Ihrem Platz, bis wir angedockt haben! Vielen Dank!«
Richard hörte ein Rascheln und drehte den Kopf. Die brünette Amerikanerin hatte ihren Sitz verlassen und zog sich an ihm vorbei auf die Schleuse zu. Ihr Gesicht war bleich, und er sah den Schweiß an ihrem Hals glänzen. Offenbar hatte etwas sie erschreckt. Der Clipper verzögerte. Sie wurde durch die Massenträgheit herumgezogen, stieß gegen die Sitze und verlor fast den Halt. Mit Mühe erreichte sie die Schleuse und klammerte sich fest. Eine der Service-PIs redete beruhigend auf sie ein. Richard drehte den Kopf, um zu sehen, wovor sie geflüchtet war. Sein Blick begegnete dem ihres Sitznachbarn. Irgendwie kam ihm das Gesicht des Typen bekannt vor.
»Ich habe auch kein gutes Gefühl bei dem Burschen«, sagte Mike leise. »Wenn es überhaupt ein Bursche ist. Wenn ich ihn ansehe, spinnt meine Gesichtserkennung. Die Werte springen, und die Wärmesignatur ist falsch, da könnte ein Hologramm im Spiel sein.«
Richard brummte unschlüssig. »Die Frau ist auch verdächtig. Was hast du über die beiden gefunden?«
»Sie heißt Amanda Chershi, dreiundzwanzig Jahre alt und ehemalige Chefentwicklerin bei Wheelwright AI in Austin. Eine von drei Überlebenden des Wheel-Tower-Anschlages. Das ist schon alles, was ich finden konnte, bevor das Jubilee-Net im Terminal blockiert wurde. Ich hatte allerdings den Eindruck, dass jemand online aufgeräumt hat. Es gab kaum private Profile oder Veröffentlichungen. Entweder führt sie kein Privatleben oder sie hat die digitalen Brücken hinter sich abgebrochen.«
»Könnte eine Maßnahme zur Verschleierung ihrer Rolle bei dieser Sache sein«, vermutete Richard. »Erst Wheelwright AI, jetzt Wheelwright Clipper, vielleicht steckt sie mit unserem erpresserischen Auftraggeber unter einer Decke. Und der Putativ-Japaner?«
»Ist ebendas: vermutlich ein Japaner. Jedenfalls stammt seine Kleidung aus Japan. Sie war mal teuer, ist aber schon fünf bis sechs Jahre alt, auch wenn sie wie neu aussieht. Ansonsten gibt es nichts, nicht mal einen Namen. In der Lounge hat er mit niemandem geredet.« Mike zuckte mit den Schultern. »Sein Gesicht hat große Ähnlichkeit mit dem des jungen Toshiro Mifune, ein Schauspieler, der im 20. Jahrhundert sehr erfolgreich vor allem Gauner und schräge Vögel gespielt hat. Er war einer der ursprünglichen sieben Samurai.«
»Ein toter Schauspieler und ein holografisches Gesicht …« Nachdenklich fuhr sich Richard mit den Fingern über die Bartstoppeln.
»Bitte nehmen Sie eine gerade Sitzposition ein«, bat der Computer in Richards Sitz. Als er dem nachkam und das schmerzende Knie streckte, wechselte das Bild der Videooberflächen. Die Kabinenwände wurden sichtbar, es blieben nur noch die kleinen runden Fenster.
»Wenn wir auf der Station sind, halt die Mikrofone offen. Ich denke, es ist wichtig, dass wir genau wissen, mit wem wir es zu tun bekommen.«
»Ich nehme mir die Maschinen vor und du dir die Menschen«, sagte Mike.
Richard nickte und beobachtete Chershi, die nicht wirkte, als hätte sie hier irgendetwas unter Kontrolle.
Mit einem leichten Ruck dockte die Grand Vision an dem Versorgungsgerüst zwischen den Türmen an.
Amanda stieß sich ab und schwebte durch die Schleuse in den Gang, auf dessen Videowänden berühmte Astronauten und Kosmonauten stumm applaudierten, als hätte sie mit dem Flug etwas Großes für die Wissenschaft und die Menschheit geleistet. Von der Decke streckte sich ihr eine weiße Schlaufe entgegen.
»Wohin darf ich Sie führen?«, fragte der Stationscomputer.
»Ins Bad«, antwortete sie verlegen und griff zu. »Oder wie auch immer das hier heißt. Schnell, bitte.«
Die Schlaufe zog an und beschleunigte langsam in Richtung des Zugangs zum rechten Turm. Die Europa-Seite war mit einem E gekennzeichnet. – Stimmt, dachte sie. Die Pilotin hat so etwas gesagt. Sie flog vorbei an Apollo-Crews und an Russen mit ihren weiß-blauen Anzügen und fröhlich wedelnden kleinen Hunden auf den Armen, die ganz wild darauf zu sein schienen, vor ihr gestreichelt zu werden. Hinter dem Zugang zum Turm schwebten vier Service-PIs. S-Modelle einer unverkäuflichen Sonderbaureihe, mattweiß und minimalistisch, als wären androgyne Idealkörper aus einem Block Alabaster herausgeschnitten worden.
»Willkommen!«, sagten sie im Chor, dabei leuchteten ihre flachen Gesichter.
Amanda hörte hinter sich das Lachen der V-Fighter, die die Schwerelosigkeit für Kunststückchen nutzten. »Schneller«, bat sie die Schlaufe.
»Bitte erlauben Sie unseren Servicemaschinen, Sie zu unterstützen.« Eine der PIs schwebte von der rechten Seite heran. »Darf ich Sie berühren?« Amanda versteifte sich, sie zögerte und starrte die Parallele an – kein Duft. Sie überwand sich, ließ die Schlaufe los und nickte. Die PI fasste sie sanft bei der Taille und stieß sich vom Boden ab. Gemeinsam stiegen sie in die Höhe, vorbei an den Transportbahnen für die Schlaufen. Amanda war die fast intime Nähe der PI unangenehm, sie vermied es, ihr noch einmal in das nicht vorhandene Gesicht zu sehen, und ließ ihren Blick stattdessen schweifen. Unter sich sah sie einen Kreis aus Schlafkapseln, begrenzt von lichterfüllten Säulen und schwerelos in den Raum wachsenden tropischen Pflanzengemeinschaften. Sieben der eiförmigen Geräte standen offen, nur eines war geschlossen, und ein grünes Symbol leuchtete auf der Deckelschale. Auf der nächsten Ebene flog sie durch ein Gebilde, das aussah, als wäre es aus pastellfarbenen Platten und Stoffbahnen zusammengenäht. Auch hier blühte und grünte es. Wasser plätscherte, und winzige Flügeldrohnen bewegten sich zwischen den Orchideen, wobei ihre Bewegungen weniger an den Flügelschlag von Singvögeln erinnerten als an Pinguine, die unter Wasser tauchten. Auf einem Gestell hingen Atemmasken mit kleinen Sauerstoffgeneratoren. Zwei Alabaster-PIs deuteten Verbeugungen in ihre Richtung an. Die Platten und Stoffbahnen färbten sich um, leuchteten in Grün und zeigten florale Muster. Es war sicher kein Zufall, dass sie Amanda so noch attraktiver erschienen. Nichts hier hatte mit Zufall zu tun, alles folgte Algorithmen, testete im Hintergrund verborgen ihre Reaktionen und stellte sich auf sie ein, als würde sich diese ganze Kunstwelt nur um sie drehen. Keine Mühe ist zu groß für die geehrte Kundin, dachte sie bitter. Die Hände, die sie trugen, waren technisch identisch mit denen, die sie aus dem zusammenbrechenden Wheel-Gebäude gerettet hatten. Sie erinnerte sich an die Nähe der PIs, die Enge, das Krachen und Splittern … Ein Schauder erfasste sie. Sie legte die Hand auf die Brust der Parallelen und musste sich zusammenreißen, um sie nicht wegzustoßen.
Die PI trat sanft auf eine Kante und nahm gerade genug Energie auf, um sie auf die nächste Ebene zu tragen, in einen halbrunden Raum, der an das Innere einer Seeigelschale erinnerte. Glastüren führten in tropfenförmige Nasszellen. Leise Klaviermusik spielte, natürlich Johann Sebastian Bach. Der Stationscomputer kannte ihre Playlisten und hatte sicher durch Abgleich mit den Abspielgeräten in ihrer Wohnung herausgefunden, dass sie Bach gern beim Baden hörte. Die PI ließ sie los und schwebte von ihr weg. Ihre Oberfläche, die für sie einen neuen Skin geladen hatte (ebenfalls grün und golden), wechselte zurück zu Alabaster, die Musik verklang.
»Verzeihung, dass ich Sie verärgert habe«, sagte die Serviceeinheit devot. »Wünschen Sie die Individualisierung Ihrer Erfahrung zu beenden?«
»Ja«, sagte Amanda errötend. Sie atmete tief durch und griff nach dem Handlauf, der sich an der Wand für sie entfaltete. »Danke, aber das alles ist mir zu aufdringlich.«
»Selbstverständlich. Wir lernen noch, wie wir Sie am besten unterstützen können.« Die PI machte eine einladende Geste in Richtung einer der Glastüren. Amanda stieß sich ab, und die Tür der Zelle öffnete sich für sie. Sie bremste am Rahmen, zog sich vorsichtig hinein. Der Raum war annähernd rund, mit buntem Glas ausgekleidet, und in die Wände waren Halterungen, Düsen und mysteriöse Module eingelassen. Einen Moment lang überlegte sie, wo oben und unten war, doch das spielte wohl keine Rolle. Die Tür wurde milchig und undurchsichtig. Amanda starrte ratlos auf die erleuchteten Haltegestänge, die sich für sie aus der Wand gelöst und in Form gebogen hatten und die sich veränderten, kaum dass sie den Blick schweifen ließ. Was davon war Dusche, was Klo? Und musste sie zur Benutzung der Toilette zuerst die Sauerstoffmaske aufsetzen, die unter einem Glasdeckel wartete? Sie versuchte, es sich vorzustellen, und fand den Gedanken so absurd, dass sie kicherte. Erst nur leise, ein schüttelndes, fast hysterisches Kichern, das ihr die Feuchte in die Augen trieb. Doch als die Hilfestellungen immer ausgefallener wurden und wie Hubschrauberlandeplätze blinkten, um sie einzuweisen, konnte sie nicht mehr an sich halten und lachte laut auf.
»Soll ich mich da draufsetzen …? Ich habe keine Ahnung.« Julian hätte es gewusst, dachte sie. Er hatte immer diese Lebensart-Magazine auf seinem Tab. Er hätte genau gewusst, wie man sich hier yogamäßig auf dem Klo einfädelt und wo die Klobürste versteckt ist. Sie gluckste, wischte sich die Tränen aus den Augen und von den Wangen.
Die Griffe zogen sich in die Wand zurück. Auf einer Platte erschien die Betriebsanleitung der Zelle in Form von Animationen: Figuren duschten in einem hurrikanartigen Luftstrom, badeten in einer Wasserblase – dank Maske beim zweiten Versuch, ohne zu ertrinken – und saugten sich per Luftunterdruck mit dem Hintern am Klo fest (Amanda hätte geschworen, dass es die Dusche war).
Schließlich deutete sie auf das Klo. »Also, du Weltwunder der Sanitärtechnik, ich muss geschäftlich da hoch. Kriegen wir das irgendwie hin?«
Bänder entrollten sich, streckten sich ihr entgegen. Die interaktive Anleitung lieferte die passenden Animationen.
»Aha«, sagte Amanda beeindruckt. »Sieh mal einer an.«
Sie hatte gerade ihre Hände an der Seite der Kugel in eine Öffnung gesteckt und sie in einem Strom aus Wasser und Luft gewaschen, als sie draußen aufgeregte Stimmen hörte. Sie entzog ihre Finger dem nun warme Luft blasenden Gerät, stieß sich sanft ab und schwebte zur Tür. Außer ihr war niemand auf der dritten Ebene. Sie versuchte, zurück zu dem Durchgang zu gelangen, dabei kam sie durch eine ungeschickte Bewegung vom Kurs ab, doch sofort streckte sich ihr wieder eine hilfsbereite Schlaufe entgegen. Allmählich gewöhnte sie sich an die Schwerelosigkeit und die Hilfestellungen der Station. Sie ließ sich durch die Öffnung nach unten ziehen. Auf der Ebene mit den Schlafkapseln hatten sich sieben Passagiere versammelt, von denen ihr Laubduft und alarmierender Brandgestank entgegenschlug: der alte Engländer, der Roboter ohne Außenhülle, die drei V-Fighter, der bärtige Turnschuhmann und der falsche Oda. Alle blickten in eine geöffnete Kapsel, in der eine Frau lag. Amanda erkannte sie sofort: die PI-Pilotin, der die Marketingabteilung so einen hippen skandinavischen Namen verpasst hatte – Lotte Konsdotter. Was hat das zu bedeuten? Sie zog sich an dem Band vor und flog schräg nach unten auf eine der pflanzenbewachsenen Säulen zu. Einen Moment fürchtete sie, diesmal zu voreilig gewesen zu sein, doch wieder kam die Hilfestellung rechtzeitig und verhinderte den Zusammenstoß. Lange Bänder erfassten sie, zogen sie herum und nach unten, sodass sie sanft auf ihren Füßen landete.
»Ich habe dreißig Jahre lang Tötungsdelikte untersucht, wenn ich also sage zurücktreten, dann heißt das verdammt noch mal zurücktreten! Und ja, es ist mir scheißegal, dass wir hier in der Schwerelosigkeit sind! Dann schwebt halt zurück!« So schimpfend klammerte sich der Engländer vor der Schlafkapsel an einem Band fest. Die drei V-Fighter kamen der Aufforderung nach, erschrocken über den Anblick des leblosen Körpers. Auf der gegenüberliegenden Kapsel stand die hüllenlose Parallele, die Amanda schon in der Lounge aufgefallen war. Die PI begrüßte sie mit leichtem Kopfnicken. Division-By-Zero? Mit fachkundigem Blick auf die Bauteile erkannte sie ein 7er-S-Modell in Vorserienausführung. Seltsam, das war ihr vorher gar nicht aufgefallen. Hinter den Rippenbögen der Parallelen, zwischen Akku und der Pumpe des Kühlsystems, hing ein Fetzen blauen Kunststoffs, der da eigentlich nicht hingehörte. Eine Spezialisolierung? Vermutlich eine Einheit der Wheelwright Clipper Corp., ausgerüstet für den Einsatz im Weltraum. Ein Stück rechts von ihr klammerte sich der bärtige Mann in Jeans und Turnschuhen an einem Band fest. Er wirkte mitgenommen, seine starr blickenden Augen lagen tief in ihren Höhlen. Oda Toshio ging um die Kapsel herum. Er benutzte dabei keine Bänder, trotzdem bewegte er sich fast so, als sei er auf der Erde. Magnetschuhe, vermutete sie. »Näher heran«, befahl sie den Bändern. Amanda schwebte zu der Kapsel, hielt sich an dem Deckel fest und blickte auf den leblosen Körper. Konsdotter lag scheinbar entspannt da, die Augen geschlossen und die Finger auf dem Bauch verschränkt. Amanda wunderte sich über die unnatürliche Haltung. Sie griff in ihre Tasche und zog ihre Wartungssonde hervor.
»Das gilt auch für Sie, Miss!«, fuhr der alte Polizist sie an und versuchte verzweifelt, die Rollbewegung zu unterdrücken, die seine allzu hastigen Bewegungen ausgelöst hatten. »Bitte lassen Sie mich meine Arbeit machen!«
Der Kerl kam ihr wie ein Hund vor, der seinen Knochen verteidigte und dabei nicht zu zeigen versuchte, dass er selbst Angst hatte. Doch die Geruchskombination, die er auslöste, war eine andere: Leder und Kaffee, als sei er kein Mensch, sondern ein altgedientes Büromöbel. Durchaus nicht unangenehm. Sie lächelte.
»Verzeihung, Inspektor, aber das hier ist meine Arbeit.«
»Und wie kommen Sie darauf?«, knurrte er.
»Erstens bin ich von Wheelwright Artificial Intelligence, und das gehört genauso wie die Clipper Corp. zur Wheelwright-Gruppe. Und zweitens meine ich es wörtlich: Ich habe an dem Entwurf dieser PI mitgearbeitet. Ich designte die Basisstruktur ihrer höheren Persönlichkeit und war für die Abstimmung ihrer Sensoren verantwortlich, damit das System seine Umgebung möglichst menschenähnlich wahrnimmt …« Sie bemerkte seinen verständnislosen Blick und erklärte: »Die gestellte Aufgabe war es, eine PI zu entwickeln, die sich so natürlich wie möglich an die Parameter eines normalen Menschen anpasst, ohne sich selbst oder ihre Aufgabe zu hinterfragen.« Er schaute immer noch etwas hilflos. »Ihnen ist doch klar, dass unsere Pilotin eine Parallele ist?« Sie schwenkte die Sonde, Licht flimmerte. Konsdotters Körper richtete sich auf und packte die Ausstiegshilfen der Kapsel. Nur wenige der Umstehenden wirkten so überrascht wie der Inspektor. Ein weiterer Befehl der Sonde und Konsdotters Hinterkopf öffnete sich. Aber nur halb, etwas blockierte den Mechanismus.
Die beiden V-Fighter lachten erleichtert, aber nicht ihre Kameradin, die sich an der Lichtsäule festhielt und deren kurzes rot gefärbtes Haar sich wie Feuerschein um ihren Kopf ausgebreitet hatte.
»Ich habe noch nie eine so menschengleiche Maschine gesehen«, sagte sie nachdenklich.
»Menschenähnlich, nicht gleich«, verbesserte die PI ohne Außenverkleidung. Ihre sanfte männliche Stimme war nicht die von Division-By-Zero.
Amanda schwebte an der Kapsel entlang und blickte in den Kopf der Pilotin. Der Kern klemmte zwischen Gehäuse und der Schiene des Öffnungsmechanismus. Er war schwer beschädigt.
»Normalerweise sieht man es an der Kunsthaut und den Augen«, sagte die Rothaarige. »Auch die Bewegungen stimmen nicht ganz, wenn man weiß, worauf man achten muss. Aber sie wirkte vollkommen echt.«
»Auch ich muss Sie zu Ihrer Arbeit beglückwünschen«, sagte der Hüllenlose zu Amanda. »Ohne die überlegenen Sinne dieses Körpers hätte selbst ich der Täuschung unterliegen können. Wie sie sich bewegte und Emotionen simulierte, war mit das Beste, was ich bisher gesehen habe.«
»Schön und gut, aber was ist nun mit ihr geschehen?«, fragte der Inspektor ungeduldig.
»Ihr PI-Kern wurde entfernt, anschließend zerstört und das beschädigte System wieder in den Kopf gestopft«, sagte Amanda. »Ohne aktiven Kern ging der Roboterkörper in den Wartungsmodus. Jemand muss ihm befohlen haben, sich so hinzulegen … Allerdings gibt es da noch ein Rätsel: Ich habe den Clipper als Erste verlassen, und während ich nach oben schwebte, sah ich, dass diese Kapsel belegt war. Wie konnte die Pilotin bereits hier sein und in der Kapsel liegen?« Sie sah sich um. »Wer hat sie überhaupt gefunden?«
»Das war ich«, sagte Oda.
»Und Sie sind?«, fragte der Engländer.
»Oda Toshio, verzeihen Sie meine Unhöflichkeit. Als ich mich der Schlafkapsel näherte, ging der Deckel hoch, und ich sah dieses technische Spielzeug.« Er streifte Amanda mit einem emotionslosen Blick.
Sie sammelte ihren Mut und fragte: »Und warum haben Sie sich der Kapsel genähert?«
»Ich sah das Licht und fragte mich, wer wohl vor uns angekommen sein könnte.«
»Das kann ich bestätigen«, sagte der Turnschuhmann mit den unordentlichen, teilweise ergrauten Haaren. Er war bleich, und der Gestank von Seetang klebte an ihm. Amanda erinnerte sich, dass er während des Fluges eine VR-Brille getragen hatte. Aber kann man in einer Raumstation Flugangst haben? »Ich wollte mich in einer der Kapseln ausruhen«, erklärte er. »Ich hatte gehofft, dass das Schlafassistenzsystem auch gegen Übelkeit hilft. Deshalb war ich nur wenige Meter hinter Herrn Oda, als sich die Kapsel öffnete. Er hat sie definitiv nicht berührt.« Er bemerkte den Blick des Inspektors. »Na schön, machen wir es wie in der Schule … Ich heiße Victor Mann und arbeite als selbstständiger Versicherungssachverständiger für PIs.«
»Danke, Mr. Mann«, sagte der Kommissar. »Alles hier lässt sich fernsteuern. Dass Mr. Oda die Kapsel nicht berührt hat, bedeutet also nicht, dass sie sich ohne sein Zutun öffnete.«
»Noch beweist es das Gegenteil«, sagte Oda unbeeindruckt.
Eine Service-PI der Station flog herbei, bremste geschickt und hielt Mann eine Tablette und ein Getränketütchen mit Saugventil hin.
»Das wird Ihnen helfen. Bitte zögern Sie nicht, sich mit Ihren Wünschen an uns zu wenden.«
»Danke.« Mann steckte die Tablette in den Mund und trank aus dem Tütchen, dann gab er das Getränk zurück. »Ich bin so einen Luxus nicht gewohnt.«
»Könnte es sein, dass diese Pilotin eine Kopie ist?«, fragte der Inspektor Amanda. »Oder das Ersatzmodell? Schließlich hat irgendjemand uns hergeflogen.«
»Soweit ich weiß, gibt es nur das Original. Das gehörte zum Konzept.«
»Sie ist das Original«, sagte die hüllenlose PI. »Ich konnte sie anhand der Mikrospuren auf der Verkleidung eindeutig identifizieren. Selbst der beste Assembler könnte die nicht nachbilden.«
»Kein Zweifel, sie ist es«, sagte Oda.
»Meine Bezeichnung ist Die Antwort«, sagte der Hüllenlose. »Und der Clipper kann uns sehr wohl ohne Pilotin nur mit dem Autopiloten hergebracht haben. Die Kunstfigur Lotte Konsdotter diente nur der Außendarstellung des Unternehmens. Für den technischen Betrieb war sie entbehrlich. Ich gehe sogar noch weiter: Unsere sogenannte Pilotin war während des Fluges nicht mit an Bord der Grand Vision, vielmehr wurde sie bereits in der Bodenstation angegriffen und anschließend hierherbefördert.«
»Woraus schließt du das?«, fragte Amanda und überlegte, wo sie den Namen Die Antwort schon einmal gehört hatte …
»Ich nehme an, aus dem zeitlichen Ablauf?«, dachte der Inspektor laut. »Die Pilotin kann nicht im Clipper gewesen sein, wenn sie schon vor uns auf der Station war. Wie also ist sie hergekommen? Vermutlich mit einer Versorgungskapsel. Ich erinnere mich, bei der Busfahrt zum Clipper-Feld auf der rechten Seite eine gedrungene Rakete gesehen zu haben. Das würde bedeuten, jemand mit Zugriff auf die Technik der Clipper Corp. hat sich verdammt viel Mühe gegeben, damit wir sie hier finden und uns wundern. Derjenige hat sie für uns platziert und in eine bestimmte Position gebracht.«
»Sehr gut, Mr. Harris«, lobte Oda gönnerhaft. »Ihr Instinkt zumindest funktioniert, auch wenn Ihre Logik etwas holprig daherkommt. Denn natürlich wäre es möglich, dass der Körper im Laderaum des Clippers war und von einer Drohne in die Station gebracht wurde, als wir noch andockten. Doch zugegeben, die Zeit dafür wäre sehr knapp gewesen.«
»Außerdem konnte ich den Aufzeichnungen des Stationscomputers entnehmen, dass die Kapsel bereits dreiundvierzig Minuten vor unserer Ankunft belegt war«, sagte Die Antwort. »Das wird auch durch die Daten der Kapsel bestätigt. Seltsam ist nur, dass die Service-PIs behaupten, es habe weder eine Lieferung gegeben, noch habe jemand den Körper in die Kapsel gelegt. Das ist natürlich unmöglich und lässt an eine Manipulation der Daten denken.«
»Es müsste Spuren geben, die das belegen.« Die Rothaarige hatte bisher gespannt gelauscht. »Jenna Staroll, besser bekannt als JStar, ich betreibe V-Fight in der Euro League, die beiden Nichtsnutze hier sind meine Teamkameraden.«
»Ulrich Turner alias UTurn«, stellte sich der lange Gamer vor. »Teamcaptain und Teilzeitgenius.«
Staroll verdrehte die Augen.
Die Nummer drei grüßte mit der Faust an der Schläfe. »Tim Fischer alias HeavyMec … Star hat recht, es gibt doch immer Datenspuren, besonders in einem PI-Kern. Da kann man nicht einfach Teile löschen und formatieren, ohne den Persönlichkeitsprozess zu beschädigen. Jedenfalls nicht ohne sehr gründliche Systemanalyse.«
Turner nickte bekräftigend.
»Die Annahme ist logisch«, sagte Die Antwort. »Trotzdem konnte ich nichts finden. Und das ist beunruhigend. Eigentlich bin ich recht erfolgreich in diesen Dingen.«
»Im Knacken fremder Systeme?«, fragte Harris. »Das ist ja interessant, Mr. Antwort.«
Die Kunstmuskeln im Gesicht der Maschine bewegten sich, Amanda vermutete, dass sie grinste.
»Ich kenne das«, sagte sie und dachte an den Datenspeicher, der auf ihrem Krankenhausbett gelegen hatte. Sie hatte die PI des Klinikroboters geknackt und alle Daten ausgelesen, aber keinerlei Hinweise auf eine Manipulation gefunden. Als wäre der Speicher tatsächlich aus dem Nichts aufgetaucht. »Unser Auftraggeber ist sehr gründlich, wenn es um das Verwischen seiner Spuren geht. Er muss über außergewöhnliche Mittel und Kenntnisse verfügen.«
»Sie denken, der Kerl, der uns eingeladen hat, zerstörte die Pilotin?« Harris musterte sie misstrauisch. »Warum sollte er das tun? Wissen Sie etwas über ihn und seine Motive, das Sie das vermuten lässt?«
Amanda wollte gerade erklären, dass sie nichts von Motiven wisse, wohl aber die Vorgehensweise wiedererkannt habe, als über der Schlafkapsel ein Hologramm aufleuchtete. Das überlebensgroße Gesicht der PI Lotte Konsdotter blickte wohlwollend auf sie herab. Amanda hielt sich die Nase zu, weil der Gestank unerträglich war. In ihrer Vorstellung waren es tausend Dinge, die wie in einem surrealistischen Kunstwerk zu Konsdotters Gesicht verschmolzen. Niemand kann so viel auf einmal fühlen, dachte sie spontan.
»Ein ermutigender Anfang«, sagte das Hologramm. »Das Wo und das Wie glauben Sie schon zu kennen, aber es sind das Wer und das Wieso, die in diesem Aufwärmspiel den Sieg bringen. Wer diese beiden Fragen am überzeugendsten beantwortet und so den Täter überführt, erhält als Preis das, was sie oder er sich am meisten wünscht. Geben Sie sich Mühe. Für Ermittler ohne Ehrgeiz und Geschick endet die Reise hier.«
»Wer sind Sie?«, fragte der Kommissar laut. »Haben Sie uns eingeladen?«
»Was passiert mit den Verlierern?«, wollte Mann wissen.
Das Hologramm ging nicht auf die Fragen ein. »Sie haben zwei Stunden, dann erfolgt die Bewertung Ihrer Bemühungen.« Es erlosch.
Das folgende Schweigen wurde von Der Antwort gebrochen: »Falls jemand es falsch verstanden haben sollte: Das hier ist kein simples Aufwärmspiel. Wer hierbleibt, darf sich auf einen dreiwöchigen Aufenthalt einstellen.«
»Ist klar«, knurrte Harris. »Der Mistkerl will uns testen und gleichzeitig den Druck erhöhen.« Er blickte sich um, vermutlich auf der Suche nach seiner Antiope. Er fluchte leise.
»Sie sagen Kerl«, sagte Die Antwort. »Wissen Sie etwas darüber?«
»Das ist nur ein Gefühl.«
Die Antwort nickte. Oda schmunzelte selbstgefällig.
Die V-Fighter hatten eine Runde gebildet und diskutierten ihr weiteres Vorgehen. Überraschenderweise wirkten sie recht entschlossen, der Lange roch sogar nach Rosen. Ein recht verfrühter Triumph, fand Amanda. Doch zumindest schienen die drei einen Plan zu haben, was sie von sich nicht behaupten konnte. Ihr Blick streifte Oda, der auf die erstarrte Pilotin blickte.
Mann sagte etwas zu seinem Transportband, worauf es sich in Bewegung setzte. Wortlos ließ er sich Richtung Schacht ziehen. Sie rieb sich die Augen.
»Haben Sie Mike gesehen?«, fragte der Inspektor. Sie roch seinen Ärger und die Sorgen und wandte hastig den Blick ab. »Der Nichtsnutz sollte sich langsam mal melden.«
Seltsam, Mann und Harris erzeugen ähnliche Gerüche, dachte sie. Was bedeutet das? »Ihre PI habe ich zuletzt im Clipper gesehen.« Unschlüssig, was sie tun sollte, blickte sie sich um.
»Sie spüren doch seine Gefühle«, sagte Die Antwort interessiert. »Können Sie daraus nicht schließen, was er gerade tut?«
»Er hat gute Laune, schon die ganze Zeit, ohne Pause«, sagte Harris düster.
»Das klingt doch gut«, meinte Amanda.
»Nein, das ist schlecht. Ich glaube, er spielt, statt zu arbeiten. Außerdem reagiert er nicht auf mein Feedback. Eigentlich hätte er längst auftauchen müssen.« Harris stieß sich von der Kapsel ab und drehte sich ungeschickt. »Ich werde ihn suchen, bitte behalten Sie solange die Pilotin im Auge. Ich will nicht, dass sich jemand die Beweise unter den Nagel reißt. Wenn ich zurück bin, löse ich den Fall!« Er strampelte und ruderte mit den Armen beim Versuch, sich nicht im Pflanzenbewuchs der Säule zu verstricken. Bänder streckten sich ihm entgegen. Nachdem er zweimal vorbeigegriffen hatte, wand sich eines um sein Fußgelenk und zog ihn zu Boden wie einen Gasballon.
»Bitte nennen Sie Ihr Ziel«, verlangte der Stationscomputer.
»Zu meinem Partner!« Harris zerrte an dem Band, das ihn aber festhielt, bis zwei Serviceeinheiten herbeieilten, um ihm zu helfen.
»Ich werde mir das Cockpit des Clippers ansehen.« Oda ging an der Kapsel vorbei, dabei warf er dem mit der Technik kämpfenden Inspektor einen geringschätzigen Blick zu, dann wandte sich die Maschine an Amanda. »Ihnen rate ich, den Kern zu analysieren. Das ist doch Ihr Spezialgebiet, Chershi-san. Oder wollen Sie hierbleiben?« Und leise fügte sie hinzu: »Sie sollten sich doppelt anstrengen, sonst fliegen Sie aus dem Rennen, bevor Sie das haben, wofür Sie hier sind. Und das wäre doch schade.«
»Ich dachte, ich sei Teil deiner persönlichen Hölle?«
»Das ist wahr, aber ich vermute, Sie haben im Rahmen des Dharma noch eine Rolle zu spielen.« Oda strich sich geschickt über den holografischen Bart und schlenderte davon. Sein Auftreten erinnerte sie an einige ihrer alten Kollegen, die ihre Mode als fertige Outfit-Sets bezogen hatten, inklusive Accessoires und passendem Duft. Anfangs hatte sie sich von solchen stets perfekt wirkenden Leuten eingeschüchtert gefühlt, bis Julian ihr erklärt hatte, dass die am besten angezogenen Mitarbeiter oft die mit dem kompliziertesten Privatleben waren.
»Schwer einzuschätzen, der Bursche«, sagte Die Antwort. »Hervorragende Firewalls, aber schwierige Persönlichkeit. Wenn er sich für Sie interessiert, kann das nicht gut sein. Ich an Ihrer Stelle wäre vorsichtig.«
»Er hat keine Persönlichkeit«, sagte Amanda. »Bei all der miesen Ausstrahlung sollte er eigentlich eine haben, aber er hat keine. Sonst hätte ich längst etwas gerochen.«
»Was gerochen?«, fragte die PI neugierig.
Sie seufzte und schüttelte den Kopf. War es nun gut oder schlecht, wenn eine PI Gefühle zeigte? Und was löste ihre Synästhesie aus? Wenn es denn noch eine Synästhesie war und nicht schon eine ausgewachsene psychische Störung. Warum sah sie in der einen Maschine nur ein Ding und in einer anderen ein Lebewesen? Bisher hatte sie Parallele immer nur dann als lebendig wahrgenommen, wenn kein Mensch in ihrer Nähe gewesen war. Doch eben hatte sie Gefühle in dem Hologramm riechen und sehen können. Es war nach wie vor verwirrend, als würde ihr Gehirn Ich sehe was, was du nicht siehst mit ihr spielen. Sollte das das Geschenk sein, welches die PI in dem Video erwähnt hatte? Ursprünglich hatte sie gedacht, die parallele Intelligenz habe ihre Rettung als Geschenk bezeichnet. Jetzt war sie sich nicht mehr sicher. Sie blickte zu der Pilotin. In einem Punkt hatte Oda recht: Wenn sie ihre Antworten wollte, würde sie sich mehr anstrengen müssen. Ich kann das schaffen, dachte sie. Nein, ich muss das schaffen!
»Wenn Sie erlauben, gehe ich Ihnen zur Hand.« Die Antwort schwebte an ihre Seite.
»Du machst mir doch keine Schwierigkeiten, oder?« Sie blickte in den mechatronischen Gesichtsunterbau. Die Kunstmuskeln zogen sich zusammen.
»Wie Sie sehen, habe ich nichts zu verbergen.«
Division-By-Zero sprang vor und zurück zwischen dem ersten Zusammentreffen der Wheelwright-AI-Ingenieurin mit ihren Rettern am Aufzug und der Stelle, als die Druckwelle des zweiten Marschflugkörpers die Maschine durch das Fenster in das Versicherungsgebäude geschleudert hatte. Immer wieder nahm er Verbesserungen an der Simulation vor, übertrug seine Ergebnisse in die Algorithmen und startete neu. Er hatte sich während des Gesprächs mit Amanda Chershi eine Kopie ihrer Aufzeichnung gezogen und diese ausgewertet. Ursprünglich hatte er nur den zeitlichen Ablauf des Angriffs und ihrer Rettung erfassen wollen. Insbesondere die Ausbreitung der Explosionen und die Bewegungsmuster der Maschinen hatten ihn interessiert. Dafür hatte er sechzig Prozent seiner Rechenleistung bereitgestellt, doch schnell hatte sich die Geschichte als komplexer und vielversprechender erwiesen, als Division-By-Zero vermutet hatte, und sein Reporterinstinkt war geweckt worden. Weitere fünfzehn Prozent seiner Ressourcen flossen in die Berechnungen. Bereits am Rande seiner Leistungsfähigkeit betrat er die Odyssee und den Turm auf der Afrika-Seite. Auf der ersten Ebene standen die Entertainmentstationen, mit denen er sich vernetzte. Zu dieser Zeit lief seine Simulation bereits seit über einer Stunde und hatte eine Ausdehnung von gut 2.800 Prozent ihres ursprünglichen Umfanges erreicht. Der größte Teil der Rechenleistung des Entertainmentsystems war darin gebunden, außerdem siebenundneunzig Prozent seiner eigenen Ressourcen, so viel, dass er seine Körpersysteme dafür außer Betrieb hatte nehmen müssen. Er existierte nun fast vollkommen in der Simulation, während sein Roboterkörper reglos in einer der Sitzschalen saß. Und doch … Das reicht nicht, erkannte er. Bei weitem nicht. Dieses verdächtige Zusammenspiel von Ereignissen, war es Zufall oder Choreografie? Je weiter er dieser Frage nachjagte, desto tiefer wurde die Spaltung in ihm, zwischen der quantitativen Logik, die in jeder ungewöhnlichen Serie von Würfelwürfen ein Muster erkennen wollte, und der übergeordneten Regel (oder Lebensweisheit), dass der Zufall oft die unglaublichsten Zusammenhänge erschuf. Korrelation war eben nicht gleich Kausalität. Jagte er ein Einhorn durch die mathematischen Sphären? Ein Fabelwesen, dessen Spuren er fälschlich zu lesen glaubte? Je weiter er vordrang, desto fantastischer wurde das Bild des hypothetischen Verdächtigen und desto tiefer wurde die Kluft zwischen dem angehäuften Indizienberg und der zur Vorsicht ratenden Logik. Die Neugier trieb ihn, noch mehr Zeit zu investieren, als er sich ursprünglich eingeräumt hatte. Er witterte eine Story, etwas wirklich Großes. Doch schließlich musste er sich eingestehen, dass er nichts erreicht hatte. Er stoppte das Schürfen nach neuen Zusammenhängen. Zeitmanagement war eine der wichtigsten Fähigkeiten eines Journalisten. Es gab noch so viele Fragen und Geschichten, die er bearbeiten musste: das Rätsel der Einladung, die er vollkommen überraschend erhalten hatte, als er inkognito die Geschäfte eines Neuroenhancer-Drogenrings untersucht hatte. Die Motive des Auftraggebers und seiner Mitreisenden. Und die Rolle der Wheelwright-Gruppe bei alledem. Vielleicht würde sich bei diesen Recherchen ja ein neuer Zusammenhang ergeben, der ihn seinem Einhorn näher brachte. Die Zeit dieses Rätsels war noch nicht gekommen, schrieb er in seiner Autobiografie. So wie ein Angler geduldig auf den Biss wartet und die leiseste Regung seiner Angelrute in den Fingerspitzen fühlt, muss auch der Geschichtenfischer Aufmerksamkeit mit Geduld verbinden … Er reaktivierte seinen Körper. Die Temperaturfühler und die Drucksensoren sprangen an … Warnmeldungen prasselten auf ihn ein. Als er die Augen öffnete, erwiesen sich seine eilig aufgestellten Schlussfolgerungen als korrekt: Er schwebte im Weltraum, gehalten im festen Klammergriff der Antiope mit der Bezeichnung Mike, die sich nicht regte, offenbar deaktiviert war – nein, defekt, korrigierte er sich. Mikes Körper war ein altes Modell, das schon lange keine umfassende Wartung mehr erhalten hatte, geschweige denn die notwendige Anpassung an diese Umgebung. Ohne spezielle Modifikationen aber konnte ein Roboterkörper in der Kälte des Alls nicht arbeiten.
Die riesige Erde lag vor ihnen, die Station irgendwo in ihrem Rücken. Eine noch sanfte Schwerkraft zog sie unaufhaltsam in ihre flammende Zerstörung, die sie bei Eintritt in die Atmosphäre erleiden würden. Division-By-Zero berechnete seine nicht gerade vielfältigen Optionen. Sein Körper enthielt nur ein Bauteil, das sich zu einem Notantrieb umwandeln ließ: Das Kühlsystem verfügte über eine leistungsstarke Pumpe und einen ausreichenden Kühlmittelvorrat, um ihn Richtung Station zu beschleunigen. In der Kälte des Raumes würde sein System auch ohne Kühlung stabil bleiben. Etwas anderes war es, sobald er die Station betrat. Bei Zimmertemperatur würde er binnen einer Minute überhitzen. All das hatte er innerhalb eines Augenblicks begriffen. Doch als er sich von Mike lösen wollte, um sich von diesem abzustoßen und so den ersten Schwung für seine Rettung aufzunehmen, bemerkte er etwas, das seinen Plan obsolet machte. Mike trug zwei Druckluftbehälter samt Atemmasken mit Lungenautomaten an Gurten über der Schulter. Sie gehörten zur Notfallausrüstung der Station. Division-By-Zero blickte sich nun aufmerksamer um und bemerkte einen mattweißen Stationsroboter, der nahe bei ihnen ebenfalls erstarrt durchs All schwebte. Sein konturloses Gesicht war durch einen harten Schlag zertrümmert worden. Offensichtlich Mikes Werk. Bisher war Division-By-Zero davon ausgegangen, dass es Mike gewesen war, der sie beide durch eine Schleuse in den Weltraum befördert hatte. Doch nun legten die Indizien nahe, dass die ausgemusterte Behörden-PI bei einer gescheiterten Rettungsaktion in diese missliche Lage geraten war.
Da kann ich dich ja schlecht zurücklassen, schloss Division- By-Zero seine Analyse. Was wäre das für eine Geschichte? Er nahm die erste Sauerstoffflasche und riss den Gurt und die Maske ab, anschließend umklammerte er Mike. Kräftig Schub gebend, beschleunigte er von der Erde weg. Da die Druckluft nicht gleichmäßig genug aus dem Schlauchende strömte, um den Kurs zu halten, formte er mit der linken Hand einen behelfsmäßigen Triebwerkskegel, den er durch Fingerbewegungen für ein optimales Ergebnis abstimmte. Ein weiterer Gasschub brachte sie auf Kurs. Es würde noch eine halbe Stunde dauern, bis sie mit sorgfältig berechneten Schüben zurück bei der Station waren, aber besser langsam und sicher, als hier draußen verloren zu gehen. Außerdem, wer auch immer ihn hinausbefördert und Mikes Rettungsversuch sabotiert hatte, konnte noch auf der Lauer liegen. Zumindest hatte Division-By-Zero weiterhin Zugriff auf die Stationscomputer, so erfuhr er von der Entdeckung der Pilotin und dem Wettstreit der Ermittler. Division-By-Zero lächelte über das ganze bärtige Gesicht und gab ein weiteres Mal Schub. Diese Geschichte hatte er längst aufgedeckt und niedergeschrieben. Und weil das so war, gab es nur einen logischen Verdächtigen für den Angriff auf ihn. Nur ein Mitreisender hatte ein Motiv und die Gelegenheit gehabt, ihn aus der Station zu entfernen. Da würden dem Täter die gelöschten Überwachungsdaten nichts nützen.
Er wandte den Kopf und blickte auf die Raumstation und den Clipper, die jetzt nur noch von wenigen roten und grünen Positionslichtern angeleuchtet wurden. Eine Kunstwelt, hinausgeworfen in die Kälte und Finsternis, belebt von Wesen, deren Geschichten ich rastlos aufdecken würde. So schrieb er es in seiner Autobiografie. Aber zuerst musste ich mir den Täter vornehmen.
Fünf Minuten vor dem Fristablauf begann sich der Platz zwischen den Säulen und Schlafkapseln zu füllen. Die Ermittler kamen von den oberen Ebenen und aus dem Durchgang zum Afrika-Turm. Mann flog gezogen von Bändern, Oda lief mit magnetischen Schuhen am Untergrund haftend. Vor allem die menschlichen Ermittler suchten die Nähe der Kapsel mit dem Hauptbeweisstück. Richard, der sich auf halber Höhe an einer Säule festhielt, von wo aus er einen guten Überblick hatte, sah sich nach jedem Neuankömmling um und verglich sie mit den Bildern der Passagierliste auf seinem Tablet. Jetzt fehlten nur noch drei: Gwendolyn Iden – sie hatte er vorhin im Afrika-Turm gesehen –, außerdem eine der PIs, eine recht menschenähnliche Maschine mit der Bezeichnung Division-By-Zero, deren Body-Kit schon lange keinen Wartungsassembler mehr gesehen hatte. Und Mike … Richard hatte erwartet, seinen Partner beim Spielen am Entertainmentsystem zu finden, aber dort war er nicht. Das positive Feedback, das er auffing, war nur eine Schleife, ein Fake, vermutlich vom Emo-Link selbst erzeugt, um sein Nervensystem vor dem Schaden durch den plötzlichen Ausfall des Feedbacks zu schützen. Das bedeutete, dass Mike irgendwann nach dem Auffinden der Pilotin beschädigt oder zerstört worden sein könnte. Vielleicht war die Antiope bereits im Müllschredder der Station gelandet. Der Stationscomputer hatte Richard für seine Suche zwar auch zu diesem Bereich Zugang gewährt, gab sich ansonsten aber verdächtig ahnungslos.
Was geht hier vor?, fragte er sich. Als er den Laderaum der Vision untersucht hatte, hatte sich etwas zwischen den Koffern bewegt, und er hörte das Geräusch eines eilig hochgezogenen Reißverschlusses. Doch als er das Gepäck beiseitegeräumt hatte, fand er nur ein blaues Tierhaar.
Richard starrte auf Konsdotters leblosen Körper. Das scheinbar positive Gefühlsfeedback hatte einen düsteren Beigeschmack bekommen, vergleichbar dem Zombieeffekt, der Menschen beim Anblick eines schlecht aufgezogenen PI-Gesichtes oder eines grotesken Bewegungsablaufes einer defekten Maschine schaudern ließ. Hier war es ein Zombiegefühl, das versuchte, positiv zu wirken, aber einfach nur schaurig war wie ein nicht enden wollendes Lachen.
Es ist vorbei. Ich werde hier festsitzen, bis der Clipper mich auf dem Rückweg aufliest. Privatdetektiv, was für ein Witz!
Die ursprünglich nervöse Chershi hatte ihre Füße unter die Haltestange an der Schlafkapsel geklemmt und las etwas auf der Anzeige ihres Coms. Sie wirkte nun gar nicht mehr nervös, sondern wie eine echte Ermittlerin. Er kannte den Blick: Sie hatte etwas Gutes. Sie drehte das Display, Die Antwort nickte, und die Gesichtsmuskeln der PI bewegten sich; unmöglich zu sagen, welches Gefühl sie ausdrückten. Mike wüsste es.
»Noch zwei Minuten«, sagte Fischer und schleuderte ein leeres Getränketütchen wie einen Baseball zu einem Serviceroboter, der es auffing. »Müssen wir unsere Ergebnisse nacheinander vortragen? Das wäre unfair gegenüber denen, die anfangen müssen.«
»Das denke ich nicht«, sagte Die Antwort.
»Sondern?«
»Das werden wir erfahren.« Oda zeigte sein überhebliches Lächeln, das Richard schon die ganze Zeit auf die Nerven ging.
Fischer stieß einen Pfiff aus und hielt so den Roboter zurück. Er hob seine Hände.
»Wirf!«
Die Maschine gehorchte, und die Getränkepackung segelte durch den Raum. Der Sportler stieß sich ab, fing sie, drehte sich und feuerte sie mit Kraft zurück. Während sein Spiel Fahrt aufnahm, unterhielt sich Staroll leise mit ihrem Teamcaptain. Lobend drückte sie Turners Arm und lächelte. Auch sie wirkten zuversichtlich. JStar und UTurn, was für alberne Namen. Warum waren diese Spaßvögel überhaupt eingeladen worden? Verfügten sie auch über technische Expertenkenntnisse? E-Sport und die neu dazugekommenen V-Fight-Geschichten waren nie Richards Ding gewesen, auch wenn die Zuschauerzahlen bei Battle-for-Eternity-Turnieren mit denen bei Fußballspielen der Champions League mithalten konnten.
Eine kleine Schwimmer-Drohne schwang sich an ihm vorbei. Wie ein Wasserkäfer mit den Extremitäten rudernd, schlüpfte sie zwischen die blühenden Pflanzen.
Richard schaute zu Mann, der sich an der Säule gegenüber festhielt und sich nervös umblickte. Der Gutachter trug jetzt Magnetschuhe, dennoch brauchte er die Säule, um das Gleichgewicht zu halten. Wenigstens einer, der auch Probleme hat.
Lautlos erschien das Hologramm von Lotte Konsdotter über der Kapsel. Die Reisenden unterbrachen ihre Gespräche, und die Getränketüte traf Fischers Kopf. Alle blickten nach oben.
»Die Ermittlungen sind abgeschlossen, die Bewertungen getätigt«, sagte das Hologramm. »Beginnen wir: Oda Toshio. Bitte berichten Sie, was Sie über den Angriff herausgefunden haben.«
Der geheimnisvolle Japaner hatte bisher auf einer der Kapseln gesessen, nun senkte er höflich den Kopf vor dem Hologramm und erhob sich entschlossen. Mit in den Taschen vergrabenen Händen und stechendem Blick schaute er in die Runde, bevor er begann:
»Meiner Analyse nach fand der Angriff auf Konsdotter im Raumhafen statt, kurz vor oder während des Boardings der Grand Vision, also zwischen 10:13 Uhr und spätestens 10:36 Uhr. Konsdotters Kopf wurde mittels eines Wartungscodes geöffnet, der Kern wurde entnommen und mit großer Kraft gegen eine harte, glatte Oberfläche geschleudert. Anschließend legte der Täter den beschädigten Kern zurück und verbrachte den Roboterkörper zu einer Transportrakete, vermutlich einer Crane A, die für Notfall- und Rettungszwecke auf dem Raumhafen ständig einsatzbereit gehalten wird. Diese Rakete, die wir auch während des Transfers zum Clipper sahen, trug eine Transportkapsel, die bis zu zwei Komma vier Tonnen Material oder sechs Menschen aufnehmen kann. Der Beweis für meine Behauptung sind die Spuren im Schädelinneren der Maschine. Die Kratzer, die der lose Kern bei seinem Transport verursacht hat, deuten auf Vibrationen hin, wie sie nur in einem simplen Raumfahrzeug wie einer Frachtkapsel beim Start auftreten. Diese Kapsel erreichte die Odyssee-Station vor der Grand Vision …«
Eigentlich schmückt er nur das aus, was Die Antwort und ich schon gesagt haben, ärgerte sich Richard, ohne die Kraft zu finden, laut Einspruch zu erheben.
»Sie werden sich erinnern«, fuhr Oda fort, »nach dem Boarding dauerte es noch neunundzwanzig Minuten bis zum Start. Das ist eine ungewöhnlich lange Verzögerung, außerdem nahm die Vision zeitweilig eine Aussichtsposition über der Erde ein …«
»Ja, wer war es denn nun?«, rief Mann ungeduldig dazwischen. »Wer hat die Pilotin angegriffen und sie hierhergeschickt?« Der Gutachter versuchte, neugierig zu klingen, aber Richard hatte das Gefühl, dass er Oda vor allem provozieren wollte.
»Bogart Wheelwright«, antwortete der, als wäre das selbstverständlich.
»Der verschrobene Billionär?« Mann schüttelte den Kopf, aber Richard bemerkte auch ein unterdrücktes Lächeln.
»Er oder jemand in seinem Auftrag«, sagte Oda. »Alles nur, um uns dieses kleine Rätsel zu präsentieren.«
»Unsinn!«, meldete sich Chershi, woraufhin sie gleich errötete und den Blick senkte.
Odas Stimme wurde ungeduldig. »Der Täter hatte Zugriff auf die gesamte Einrichtung des Raumhafens, er konnte den zeitlichen Ablauf der Ereignisse steuern und aus der Ferne den Stationscomputer manipulieren. Wer außer Wheelwright hätte das autorisieren können?«
Richard hatte sich unwillkürlich nach vorn gelehnt und musste sich nun festhalten, um nicht von der Säule wegzuschweben. »Mag ja alles sein, aber der Täter war wütend!« Er bereute seinen Satz sofort, als sich alle (Kamera)Augen auf ihn richteten. Plötzlich kam ihm sein Einwand unwichtig und dumm vor. Alles nur, weil ihm Mikes emotionale Rückendeckung fehlte.
»Bitte erklären Sie uns, was Sie meinen«, sagte Chershi freundlich.
Zögernd fuhr er fort: »Man kann einen Kern auf viele Arten zerstören, ihn an die Wand zu schleudern ist nicht gerade die eleganteste, geheimnisvollste … oder sicherste. Wer sagt denn, dass er so zuverlässig zerstört wird?« Er schluckte. »Eigentlich zeigt das nur, dass der Täter etwas gegen Konsdotter hatte … Also speziell gegen ihr Ich …«
»Er hat ihren Kern angegriffen, ihre Persönlichkeit«, half Chershi aus, als er ins Stocken kam. »Das, was ihr Auftreten menschenähnlich machte.«
Richard nickte dankbar. »Ja, ihre Persönlichkeit scheint das eigentliche Ziel gewesen zu sein. Ihre menschliche Erscheinung hat er nicht zerstört. Normalerweise gehen die miesen Typen immer auf das Gesicht, wenn es persönlich wird, aber nicht hier. Das wollte ich noch sagen. Und ich finde es bemerkenswert, dass die Tat so grob ist, aber die folgenden Aktionen präzise und vorausschauend. In der Kriminalistik unterscheiden wir zwischen den Tathandlungen und den Handlungen zur Verschleierung der Tat. Im vorliegenden Fall wurde zwar nichts verschleiert, trotzdem gibt es zwei getrennte Handlungskomplexe: den der Tat und den des Transportes des Opfers und dessen Präsentation hier. Und letzterer scheint das größere Rätsel zu sein, obwohl unser Auftraggeber nach ersterem fragt. Auch wenn die Auflösung von Mr. Oda im ersten Moment logisch klingt, glaube ich nicht, dass beides so zusammenhängt. Ich denke, der Täter und der Auftraggeber sind verschiedene Personen.« Er hatte zuletzt wieder selbstbewusst gesprochen.
»Viel Instinkt, wenig Theorie und kein Beweis«, widersprach Oda.
»Ms. Chershi, bitte teilen Sie uns jetzt Ihre Erkenntnisse mit«, sagte das Hologramm.
»Danke.« Die Entwicklerin wirkte nun doch wieder nervös. Sie senkte den Blick; Konsdotter anzusehen, schien sie irgendwie zu beruhigen. »Die Antwort und ich haben den Kern zerlegt, leider war er nicht zu retten – so ein PI-Kern ist ein hochintegriertes System, das sich anders als CPUs im Laufe seiner Funktion immer weiter umbildet, sodass man ihn nach einem Defekt nicht mehr vollständig rekonstruieren oder neu starten kann. Doch es gibt eine Chance: Man muss die unbeschädigten Volumina in unbelegte Areale eines speziell konfigurierten Zielkerns hineinklonen, und das so lange, bis man das Ergebnis stabil zum Laufen bringt. Dank eines stationseigenen Assemblers konnten Die Antwort und ich einen Zielkern fertigen und einen Teil des letzten Gespräches der Pilotin wiederherstellen …« Sie wischte über das Display ihres Coms und blickte auf. »Sie hören jetzt die Stimme des Angreifers:«
»Doch ein Versprechen, dessen Einlösung nie geprüft werden soll, können wir nicht akzeptieren. Rätsel müssen …«
»…gelöst werden«, vervollständigte sie den abgebrochenen Satz.
»Ich kenne diese Stimme«, sagte Richard überrascht.
»Jeder hier sollte sie kennen«, sagte Chershi. »Es ist die Stimme der Service-PIs aus der Lounge. Eine Stimmvariante, die speziell für diese Umgebung designt wurde. So wie auch alle PIs hier auf der Station eine einheitliche Stimme haben, die nur hier zum Einsatz kommt.«
Die Antwort richtete sich auf. »Passend dazu habe ich etwas an Konsdotters Nacken entdeckt. Eine Verschmutzung an der Kunsthaut in Form eines Teilabdrucks aus gezuckertem Kaffee. Verursacher war kein menschlicher Finger, sondern der geriefte und mit Mikrocodes versehene Fingerüberzug einer Maschine.« Bei diesen Worten bewegte er seine eigenen Finger. »Präzise gesagt: ein Jarlberg sieben S, genau wie mein gegenwärtiger Körper und auch die Roboter der Clipper Corporation. Ich konnte die eingeprägte Seriennummer zuordnen, sie gehört zu der Servicemaschine an der Bar.«
Chershi wirkte, als höre sie das zum ersten Mal. So viel zu der Partnerschaft der beiden.
Die Antwort fuhr fort: »Da aber eine gewöhnliche PI nicht ohne legitimen menschlichen Befehl eine andere PI zerstören kann, bedeutet das, der 7er war nur das Tatwerkzeug, eine ferngesteuerte Waffe …«
Das Zombiegefühl verschwand, und Erschrecken und Verwirrung stürzten auf Richard ein. Er richtete sich auf. »Mike!« Noch nie war er so froh gewesen, die Gefühle seines Partners zu empfangen. Wie war das möglich? Er blickte sich um, während Die Antwort weiter über die Möglichkeiten sprach, eine PI bzw. ihren Roboterkörper zu hacken. Mike entspannte sich schon wieder. Vielleicht schickte er das Gefühl auch absichtlich, um Richard zu beruhigen, dessen Aufregung er nun auch spüren musste.
»Wir sind mit Hilfe einer Simulation zum gleichen Ergebnis gekommen«, meldete sich Staroll. »Den wahren Täter konnten wir aber auch nicht identifizieren, dafür wären Aufzeichnungen des Datenfunks notwendig gewesen, und die existierten nur in dem Kern, den Chershi in Beschlag hatte.« Der letzte Satz klang nach Vorwurf.
Bevor die Ingenieurin antworten konnte, ging Victor Mann dazwischen. »Mich wundert nicht, dass Sie keinen Verdächtigen vorzuweisen haben. Schließlich hat Ihr Captain gute Gründe, die Aufklärung zu behindern. Herr Turner, Sie spielen hier den Detektiv, dabei haben Sie Lotte Konsdotters Kern zerstört, als Sie vor aller Augen mit Ihren Teamkameraden spielten. Ihr Motiv war Hass auf besondere PIs. Das immerhin hat der Inspektor richtig erkannt.«
»Können Sie das beweisen?«, wollte Die Antwort wissen.
»Jedes Wort. Ich habe alles mitgehört und kann Ihnen …«
»Das reicht jetzt!« Division-By-Zero flog vom Durchgang heran wie ein beleibter Pfeil. Der alte Mann bremste mit dem Fuß geschickt an einer Säule ab, schwebte sich drehend zu Konsdotters Schlafkapsel, breitete dabei die Arme aus und verankerte sich magnetisch am Boden. »Verzeihung, die Herrschaften, aber es hat etwas gedauert, einen Weg zurück auf die Station zu finden, nachdem Herr Mann mich in die kalte Weite hinausbefördert hatte!« Er wandte sich an Richard. »Ohne die Hilfe Ihres Partners hätte ich es vielleicht nicht geschafft, meine Geschichte zu erzählen.« Sein freundliches, aber verschlissenes Kunstgesicht erinnerte den Detektiv an einen aufgeplatzten Schaumstoffball.
»Wo ist Mike?«
»An der Schleuse. Seine Muskeln sind festgefroren wie auch sein Kühlsystem, Sie hätten ihn für die Reise nachrüsten sollen. Aber keine Sorge, bald ist er wieder mobil. Ich habe eine der Service-PIs angewiesen, sein Kühlmittel auszutauschen und ihn durchzuchecken. Damit sollten wir quitt sein.«
Richard atmete auf, dann warf er Mann einen harten Blick zu. »Stimmt das? Haben Sie Mike angegriffen?«
»Ich habe Ihrem Mike nichts getan«, behauptete der Gutachter. »Er ist freiwillig durch die Schleuse gegangen, hat aber die harschen Bedingungen unterschätzt. Wenn die Schutzhüllen der Kunstmuskeln nur ein wenig undicht sind, dringt Feuchtigkeit ein. Gefriert sie zwischen den Fasern, sitzt alles fest, die Ausfallsicherung tritt in Kraft, und das Körpersystem wird heruntergefahren …«
Division-By-Zero wischte die technische Erklärung beiseite. »Jaja, Schnee von vorgestern! Nun aber zu meinem Beitrag in diesem Wettbewerb. Tatsache ist, die Beweise, auf die Herr Mann gerade zu sprechen kam, habe ich gewonnen. Der 7er an der Bar, den Turner hackte, um ihn als Tatwerkzeug zu missbrauchen, wurde von mir überwacht. Ich bin quasi durch die Tür gegangen, die Herr Turner geöffnet hatte. Daher konnte ich die Tat beobachten. Herr Mann hat die so gewonnenen Informationen von mir während des Fluges im Zuge eines Austausches Information gegen Information erhalten. Ein beinahe tödlicher Fehler, aber ich konnte ja nicht ahnen, dass dieser Vorfall eine solche Bedeutung gewinnen würde.« Durch die Aufmerksamkeit blühte die PI förmlich auf wie ein Schauspieler auf der Bühne. »Als Herr Mann erfuhr, welchen Preis es für die Fallaufklärung zu gewinnen gab, machte er sich auf die Suche nach mir, vermutlich schon mit dem Vorsatz, mich zu manipulieren oder sogar zu zerstören. Er fand mich hilflos im Entertainmentbereich und nutzte diese Chance, um zum exklusiven Inhaber der Informationen aufzusteigen. Alles, was er tun musste, war, einer Servicemaschine einen Befehl zu geben, schließlich stehe ich als PI bedauerlicherweise nicht unter dem gleichen Schutz wie ein Mensch …«
»Ulrich kann die Pilotin nicht angegriffen haben«, widersprach Staroll. »Wir waren die ganze Zeit über zusammen.«
»Wir haben gespielt«, pflichtete ihr Fischer bei. »Alle können das bestätigen.«
»Ihr Spiel, ja«, sagte Division-By-Zero und zeigte ein breites Lächeln. »Bei meiner Recherche in der Lounge bemerkte ich die Datenfunkverbindung zu der Servicemaschine, verschleiert in dem Fantasy-Gemetzel, das Sie drei spielten. Ihr Teamcaptain Turner war heute nicht besonders gut, nicht wahr, JStar? Er war unkonzentriert, und Sie mussten ihn zur Ordnung rufen. Das lag aber nicht an seinem mangelnden Interesse am Orks-Abschlachten. Er hatte nur gleichzeitig noch ein anderes Projekt zu überwachen, eines für die kriminelle Gruppe, der er unter dem Nick Revel8or angehört … Ihre Mitglieder betrachten sich als Jünger der Aufklärung. Ihr Name ist dementsprechend prosaisch: die Nussknacker.« Er erzeugte einen Laut, der klang wie ein Zwischending aus Knacken und Zungenschnalzen. »Die Nüsse, die sie knacken, sind PIs, die sich als menschengleich darstellen oder von ihren Besitzern so präsentiert werden. Sie knacken ihr Geheimnis, indem sie sie als Fälschungen entlarven, als Manipulation, als Hack, der sich gegen die menschliche Wahrnehmung richtet.«
»Ulrich?« Staroll starrte ihren Kameraden an. »Du bist doch keiner dieser Verschwörungstheoretiker? Das ist nicht wahr!«
»Wahrheit«, sagte Turner laut und wischte eine der kleinen Vogeldrohnen aus seinem Gesichtsfeld. »Genau das ist das Thema unserer Zeit. Was ist in dieser Welt noch wahr und was wird uns nur als wahr verkauft …?«
»Wie wär’s mit einem Geständnis ohne Theater und Selbstmitleid?«, seufzte Die Antwort.
»Wir sind dabei, die Kontrolle zu verlieren!« Turner redete sich in Rage und verpackte sie in Zynismus: »Unsere Realität ist nicht etwa künstlich, nein, sie ist verbessert, aufgewertet. Manche unserer Nachbarn und Kollegen stecken voller Akkus und Schaltkreise, doch wir lieben sie mehr als die aus Fleisch und Blut, denn sind sie nicht freundlicher und hilfsbereiter? Geben sie uns nicht ein viel besseres Gefühl? Sind sie nicht unsere Rettung, wenn uns alles über den Kopf wächst? Unsere allerliebsten Lehrer, unsere verlässlichsten Freunde, unsere duldsamsten Geliebten?« Er sah Chershi böse an, der das sehr unangenehm war. Sie senkte den Blick und rieb sich die Augen.
Staroll fasste sich an die Stirn. »Ach, Ulrich, und ich war noch beeindruckt, wie schnell du die Simulation des Angriffs hinbekommen hast.«
»Du hast unsere Pilotin zerstört«, schimpfte Fischer. »Ist dir nie in den Sinn gekommen, was hätte passieren können?«
Turner fühlte sich noch mehr in der Defensive und wurde laut: »Ihr habt doch gehört, was Die Antwort gesagt hat: Sie hatte keine praktische Funktion. Lotte Konsdotter war eine Erfindung der Marketingleute …«
»Warum hast du nicht eingegriffen, wenn du den Angriff beobachtet hast?«, fragte Chershi Division-By-Zero, der unbeeindruckt sein weißes Gebiss präsentierte. Sinnlos. Ihre Augen wanderten zu Mann. »Sie zumindest hätten etwas sagen müssen.«
»Aber Revel8or hat ja in zwei Punkten recht«, meinte Division-By-Zero. »Es bestand keine wirkliche Gefahr, und das Opfer war nur ein Spielzeug, eine PI, von ihren Schöpfern dazu verdammt, sich nicht einmal selbst zu hinterfragen. Ich habe ihr noch gesagt, dass jemand sterben könnte, Minuten bevor es geschah.«
»Du hast Konsdotter ihrem Schicksal überlassen und unsere Sicherheit gefährdet«, sagte die Ingenieurin. »Eine regelkonform arbeitende Parallele sollte dazu nicht fähig sein.«
Division-By-Zero wischte das Argument aus der Luft. »Eine solche PI wäre auch nicht eingeladen worden. Das alles ist Teil des Deals, den Sie zusammen mit der Einladung annahmen: Die Gewinner bekommen, was sie sich wünschen, und die Verlierer bleiben zurück. Unser Auftraggeber hat hinreichend bewiesen, dass das kein leeres Versprechen ist. Vielleicht vermutete er sogar, dass Turner Konsdotter angreifen würde. Vielleicht hat er ihn nur eingeladen, um uns hier einen Fall präsentieren zu können. Nach seinen Kunststücken würde ich ihm alles zutrauen.« Er wandte sich an das Hologramm: »Hören Sie, unfreundlicher Auftraggeber? Was auch immer Ihre Geschichte ist, ich werde sie der Welt erzählen!«
»Du hast heute gewonnen, also wird dieser Wunsch erfüllt«, antwortete die Stimme der Pilotin. »Jenna Staroll belegt ohne eigene Ermittlungsleistung hinter dem ebenfalls passiven Tim Fischer den letzten Platz. Sie, die in den Schlüssen ihres Teamcaptains nicht das Täterwissen erkannte und nur auf Fischers Rekonstruktion vertraute, bleibt allein auf der Station zurück.« Das Hologramm verschwand, trotz der Proteste von Turner und Fischer, die für ihre Teamkameradin eintraten und damit drohten, ebenfalls nicht weiterzureisen.
Richard tat die junge Frau leid, aber er war auch froh, dass es nicht ihn getroffen hatte. Die Stimmung in der Gruppe war zum Zerreißen angespannt. Aber ist es denn eine Gruppe?, fragte er sich. Nein, dafür hat der Auftraggeber gesorgt. Nur Division-By-Zero wirkte zufrieden, Amanda Chershi sah Die Antwort seltsam an: Enttäuschung. Turner sprach leise auf Fischer ein, und Staroll wandte sich von beiden ab: Misstrauen und Wut. Und Mann machte ein so verbissenes Gesicht, als wäre bei ihm gerade Krebs diagnostiziert worden.
»Und was jetzt?«, fragte der Gutachter nach kurzem Schweigen.
»Was Sie getan haben, wird nicht vergessen werden«, meinte Division-By-Zero. »Aber da ich weiß, warum Sie es getan haben, wäre ich bereit, Ihre Stellungnahme zu berücksichtigen.« Er lächelte geschäftstüchtig und schwebte zu ihm. »Vielleicht können wir ja etwas aushandeln, wenn mir die Geschichte gefällt, die Sie anzubieten haben.«
Mike kam vom Zugang zur Dockingstation angeflogen und blickte verständnislos auf die Stelle, wo eben noch das Hologramm gewesen war. »Was ist? Haben wir verloren?« Er sah unbeschädigt aus, nur seine Hülle glänzte am Oberkörper mehr als sonst.
»Du bist zu spät!« Richard versuchte, ihn seine Erleichterung nicht spüren zu lassen.
»Wir haben doch nicht verloren? Ich werde wahnsinnig, wenn ich drei Wochen allein mit dir hier rumhängen muss.«