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Die Entscheidung

Lange hatte Max nicht mehr an seine Mutter gedacht. Während er regungslos auf der Couch lag und darauf wartete, dass sein Kater sich verzog, stiegen immer mehr Bilder aus der Vergangenheit aus den Tiefen seines Unterbewusstseins an die Oberfläche. Längst vergessene Situationen spulten sich wie ein alter Stummfilm vor seinem geistigen Auge ab. Er sah Nikolas und sich an einem warmen sommerlichen Sonntag in der Zinkbadewanne im Garten der Großeltern fröhlich herumplantschen. Sie aßen Zuckerwatte und Aal auf der Pflaumenkirmes und lernten vom Großvater Tibor, wie man Orangen schält. Sie kuschelten mit Anna, fühlten sich geborgen, kratzten die Schüssel mit den Teigresten aus, wenn Helene einen Kuchen backte.

Jeder liebte die blonden Engelszwillinge. Egal wo sie erschienen, schien sich die Welt nur um die beiden zu drehen. Die Erinnerung an diese Bilder brannte plötzlich in seinem durchlöcherten Gehirn und Max konnte den aufsteigenden Schmerz beim Gedanken an diese verlorene Zeit kaum unterdrücken. Er spürte die tiefe Liebe zu seinem Bruder und bekam keine Luft mehr.

Trotz der Exzesse der vergangenen 36 Stunden griff er zum Telefon, um den Schneemann anzurufen. Keine Antwort.

Seine Augen brannten, während er wartete, und ihm wurde bewusst, dass er das weiße Pulver brauchte, um nicht vollends von der Vergangenheit eingeholt zu werden.

Erneut wählte er die Nummer, die sich in den letzten Jahren in seinen Kopf eingebrannt hatte, setzte sich ungeduldig und schwitzend auf das Sofa. Immer wieder lief er zum Fenster und sah hinunter auf die Straße, in der Hoffnung, den weißen Porsche heranfahren zu sehen, doch nichts passierte.

Nach weiteren 15 Minuten wurde Max wütend. Warum rief dieser Scheißdealer nicht an und ließ ihn hier in der Hölle der Erinnerung schmoren? Die Minuten zogen sich wie Kaugummi, nichts konnte seine Gedanken vom Telefon und dem erlösenden Anruf trennen.

Dann, nach einer Ewigkeit, wie es schien, rief der Schneemann zurück, um zu sagen, dass er in einer halben Stunde kommen würde.

Max’ Magen verkrampfte sich mehr und mehr, er rauchte eine Zigarette nach der anderen, lief wie ein Tiger im Käfig von Wand zu Wand. Die Sonne verschwand hinter dem gegenüberliegenden Haus.

Plötzlich und unvorbereitet sah er seine eigene Reflektion im Fenster. Es war wie ein Peitschenhieb quer durch sein Gesicht. Einen Moment lang war er so geschockt, als hätte er ein Gespenst gesehen. Die Haare standen wild ab, er trug die gleichen Klamotten wie am Freitag und hatte eine Klammer auf der Stirn, die sein Gehirn davon abhielt zu platzen.

Doch das war es nicht, was ihn erschreckte, er hatte sich oft so gesehen, darüber gelacht und sich innerhalb kurzer Zeit restauriert. Ein Stehaufmännchen, das andere perfekt blendete.

Heute war es anders. Durch das zweiminütige Telefonat mit Marie hatte ihn die Vergangenheit eingeholt.

In diesem Moment klingelte es und der Doormann kündigte den Dealer an. Augenblicklich wurde Max ruhig und fokussierte seine gehetzte Seele einzig auf die Erlösung, die zu ihm kommen sollte.

Der Schneemann kam, scherzte und ging, dann war Max wieder allein. Er saß vor dem Tisch, auf dem das weiße Pulver lag und ihm wurde klar, dass, wenn er jetzt anfangen würde, es kein Ende geben konnte. Der Suchtdruck war plötzlich weg. Er stand auf, ging ins Bad und ohne noch einmal darüber nachzudenken, spülte er die Drogen ins Klo, duschte und buchte den nächsten Flug nach Düsseldorf. Vier Stunden bis zum Abflug, der Koffer war schnell gepackt. Ein Gefühl von Freiheit durchströmte ihn zum ersten Mal seit Jahren.

Er schickte Carole eine Mail, dass sie alle Jobs in den nächsten sieben Tagen absagen sollte, wohlwissend, damit eine mittelschwere Katastrophe für sie und einen Tsunami für sich auszulösen. Es war ihm egal.

Er handelte klar und ruhig, das Einzige, woran er dachte, war Nikolas. Die geklammerte Narbe auf der Stirn schmerzte plötzlich.

Katharsis. Drama einer Familie

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