Читать книгу Katharsis. Drama einer Familie - Michael Reh - Страница 14

Оглавление

7

Doppeltes Glück

Die Bekanntgabe der Verlobung von Herrmann und Anna im Kirchenblatt der Gemeinde stieß nicht auf jedermanns Begeisterung.

Sie stammten aus unterschiedlichen Universen. Die Wildes, ein konservativer Clan mit einem Diktator als Familienoberhaupt und dem Wohnsitz an der Hauptstraße des Dorfes, standen in völligem Kontrast zu den Remarks, die liberal und völlig gegen das Naziregime im Haus am volkseigenen Park logierten.

Die Wildes hatten sich im Laufe der Jahre gut gestreut. Während der Clanvorstand Paul mit seiner Gattin Magdalena, der enterbten, pommerischen Landadeligen, mitten im Dorf in der Hauptstraße lebte, hatten sich die älteste Tochter Ilse und ihr lustiger Friseurgatte Heinrich Janos mit ihren drei Kindern auf dem Hügel am Ende des Dorfes zwischen Fußballplatz und Friedhof niedergelassen. Das alte Haus beherbergte nicht nur den Salon und die Wohnung, sondern auch deren Besitzer: einen zuckerkranken Asthmatiker und seine Gattin, die neben einer blondierten Turmfrisur auch die Nase aus nicht vorhandenen Gründen zu hoch trug.

Der älteste Sohn Paul junior war zu Magdalenas Trauer und zum Stolz des Familienoberhaupts gefallen, als er das untergehende Deutschland retten wollte. Sein Heldentod fand allerdings nicht auf dem Schlachtfeld statt, wie später gerne beim Sonntagnachmittagskaffee bis zum Erbrechen von Paul wiederholt, sondern aufgrund einer verschleppten Syphilis, die sich Paul junior bei einer Berliner Hure geholt hatte.

Der zweite Sohn Erich heiratete nach dem Krieg die Tochter des ehemaligen Fleischers des Dorfes: Magda. Ihre Mutter war in einer der letzten Nächte des Krieges durch einen Bombenangriff zu Tode gekommen, der Stiefvater schon Jahre vorher verstorben und die knapp zwanzigjährige Magda war plötzlich die gut situierte Erbin eines kleinen Vermögens geworden. Sie war nun die Besitzerin eines der größeren Häuser des Dorfes, das nicht durch den Krieg beschädigt worden war, vermietete die Fleischerei im Erdgeschoß und die Wohnung im Hinterhaus. Nie eine schöne Frau gewesen, spannte sie das Netz der Intrigen um die Verwandtschaft. Geld hatte sie genug.

Auch Annas Geschwister heirateten. Knut gewann die stille Greta und blieb im Dorf. Marianne heiratete einen Berliner Apotheker namens Theo und zog mit ihm in die einstige Hauptstadt des zerstörten deutschen Reiches.

Eines hatten Anna und Herrmann trotz ihrer unterschiedlichen Elternhäuser gemeinsam: Sie wollten beide raus aus einer Umgebung, die ihnen wenig Platz zum Atmen ließ.

Während sich der zwei Zentner schwere Herrmann im Alter von zwanzig Jahren noch Ohrfeigen von seinem Vater einfing, kontrollierte auch Helene später gerne die Wohnungseinrichtung ihrer Tochter, nachdem diese schon drei Jahre verheiratet war.

Die Liebe der beiden basierte auf der Regel: Raus aus der Enge der Elternhäuser und hinein ins eheliche Vergnügen, ohne vorher einen Kurs in Beziehungen abgeschlossen zu haben. Die siebziger Jahre waren noch Lichtjahre entfernt, als beide jungfräulich und blauäugig vor den Standesbeamten traten, um danach mit wehenden Fahnen in die eigene Wohnung in den Nachbarort zu ziehen.

Knappe vier Kilometer trennten die beiden Dörfer. Vier Kilometer Entfernung bedeutete, dass man die Familie nur am Wochenende sah. Ein Telefon hatten sie nicht und Errungenschaften wie Handys oder Computer gab es nur in Jules Vernes’ Romanen.

Die beiden lebten 13 Monate keusch miteinander, denn sie waren noch nicht kirchlich getraut worden, und das Damoklesschwert der Sünde schwebte über ihren standesamtlich getrauten und moralgetränkten Häuptern. Erst nach der kirchlichen Trauung schritten sie zur Tat und Marie wurde neun Monate später geboren.

Herrmann hatte einen Posten als Bürokaufmann bei der Ruhrkohle AG in Duisburg angenommen, Anna war an den Herd gebunden und nahm für eine Weile ihr Los als Hausfrau auf sich. Sie fütterte Marie, die regelmäßig alles wieder auskotzte. Statt in der Villa Hügel den Chefs Kaffee zu servieren und zum Diktat gerufen zu werden, musste sie Windeln waschen, einkaufen und den Kinderwagen durch ein ausgetauschtes dörfliches Universum schieben.

Zwei Jahre nach Maries Geburt hatte der monatliche Ehevollzug im Bett der jungen Wildes erneut Spuren hinterlassen. Diesmal gab es doppelten Grund zu Annas geteilter Freude, sie erwartete Zwillinge.

Nikolas und Max waren auf dem Weg und sollten ebenso wie ihr Vater am heißesten Tag des Jahres zur Welt kommen. Sonnenkinder, voller Glut. Nachdem bei Anna nach neuneinhalb Monaten endlich die Wehen einsetzten, riet ihr der Oberarzt noch vor der Niederkunft, die Treppe zu putzen, um den Geburtsvorgang schneller in Gang zu bringen. Die Krankenhaustreppe war somit auch spiegelblank, als die Zwillinge am 30. Juli zur Welt kamen.

Katharsis. Drama einer Familie

Подняться наверх