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Deutscher Boden

Der Alkohol hatte seine Wirkung nicht verfehlt.

Max hatte um 5 Uhr morgens europäischer Zeit trotz besseren Wissens einen doppelten Whisky zu sich genommen. Eigentlich rührte er das Zeug nicht mehr an, seit er nach einer Schlittenfahrt mit dem Schneemann und JM eine halbe Flasche Scotch gesoffen hatte, um der aufsteigenden Koksparanoia zu entfliehen. Danach hatte er sich die Seele aus dem Leib gekotzt. An diesem Morgen auf dem Düsseldorfer Flughafen, der ihm äußerst provinziell erschien, war der Hangover nur halb so schlimm.

Misstrauisch schaute ihn ein deutsches Paar Augen an, das zu einem misstrauischen deutschen Grenzbeamten, der seinen Pass kontrollierte, gehörte.

Vor einigen Jahren hatte Max die amerikanische Staatsbürgerschaft beantragt, mit der festen Absicht, nie wieder deutschen Boden betreten zu wollen. Jetzt hatte er dem deutschen Grenzbeamten mit einem akzentfreien »Guten Morgen« seinen amerikanischen Pass hingelegt. Dieser hatte zwar sämtlicher Herren Länder Stempel, aber nicht den der Bundesrepublik Deutschland.

Eine grantige Stimme fragte, wie lange Max auf deutschem Boden weilen wolle und was er hier zu suchen hätte. Trotz eines aufkommenden Übelkeitsgefühls erwiderte er etwas von familiären Gründen und bekam unter herrischem Blick seinen Stempel. Max zog von dannen, nicht, ohne dem Beamten ein freundliches »Asshole« zugeworfen zu haben. Aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse verstand dieser offenbar ein »Ach so«.

Er wartete auf sein Gepäck und ging dann sofort in das Flughafenhotel, um zu schlafen.

Nach drei Stunden wurde er wieder wach, zog den Vorhang von den dreifach verglasten Scheiben zurück und starrte auf einen trostlos betonierten Innenhof, über dem ein bleierner Junihimmel hing. Er konnte die Flugzeuge, die abhoben und ankamen, zwar sehen, aber nicht hören. Vollkommene Schallisolierung. Sein Vater hatte auch jeden Abend alle Jalousien in der Wohnung heruntergelassen, die Züge auf den Gleisen vor dem Haus hatte er trotzdem gehört.

Wo sollte er anfangen?

Nachdem er ein paar Minuten auf die gegenüberliegende Betonwand gestarrt hatte, bestellte er einen doppelten Espresso und etwas zu essen beim Zimmerservice. Nach einer halben Stunde schob ein schlechtgelaunter Kellner das Frühstück mit einem geknurrten »Guten Tag« in das Zimmer. »Servicewüste Deutschland«, dachte Max, würgte das Essen herunter und spülte den dünnen Espresso hinterher. Er duschte, zog sich an und verließ das Hotel.

Er nahm den Aufzug in die untere Etage, ging zur nächsten Autovermietung, nahm nach einigen Minuten den Schlüssel für den Mietwagen in Empfang und machte sich auf den Weg.

Die Luft war schwül und schien kaum Sauerstoff zu beinhalten, man hätte sie mit einem Messer schneiden können.

Er fuhr über die B1 in seine alte Heimat und brauchte knapp eine Stunde, um die Ausfahrt zu erreichen, die ihn in das Dorf bringen sollte, das er seit über zwei Jahrzehnten nicht mehr betreten hatte. Wie klein die Welt doch geworden war, früher war die kurze Fahrt in die nächste Stadt schon eine Art Himmelfahrt gewesen.

Sein Magen grummelte pausenlos vor sich hin. Er zündete sich eine Zigarette an, hatte feuchte Hände und der Himmel schien noch ein wenig weiter auf das heiße Wagendach und Max’ trübe Stimmung zu sinken. Eine Welle der Hilflosigkeit schlug über ihm zusammen. Er fühlte sich plötzlich so hilflos wie damals.

Das Märchen der Schneekönigin, seiner alten Freundin, fiel ihm wieder ein. Er durfte das alles nicht so an sich ranlassen. »Mach bloß kein Drama aus der Sache! Reiß dich mal zusammen!« Tausend Gedanken schossen durch seinen Kopf. Wie würde er auf die Familie reagieren und wie diese auf ihn? Was würde sein Vater sagen, würden sie sich überhaupt etwas zu sagen haben?

Nach Annas Tod hatte Herrmann kurze Zeit später wieder geheiratet. Die neue Frau an seiner Seite kannte Max nur flüchtig. Sie war eine geschiedene Lehrerin aus dem Norden und hatte Max’ Eltern auf einer Studienreise in Rom kennengelernt.

Er erinnerte sich dunkel an eine lebenslustige Mittvierzigerin, die, wie so viele aus der Generation seiner Eltern, Dinge lieber verdrängte, als sie wahrzunehmen. Unsympathisch war sie ihm nie gewesen. Auch dann nicht, als sie seinem sich nach katholischen Grundsätzen noch in der Trauerzeit befindlichen Vater das Jawort auf einem unpersönlichen Standesamt gab.

Außer Marie war keiner aus der Familie anwesend, denn Helene, immer noch Matriarchin des Remark-Clans, billigte die neue Verbindung nicht.

In der Nacht nach Annas Beerdigung hatte Herrmann Max in volltrunkenem Zustand erklärt, dass er eine neue Ehe als einzigen Weg sehen würde, um nicht als Priester, Alkoholiker oder Selbstmörder zu enden. Wenn das die Alternativen zur Ehe für ihn sein sollten, war er doch besser bei der lebenslustigen, geschiedenen Norddeutschen aufgehoben.

Herrmann, der seinen Kummer erst lieber im Alkohol ertränkte und dann in einer neuen Ehe Vergessen suchte, saß in dieser Nacht wie ein Haufen Unglück auf der durchgesessenen Eckbank in der Küche.

Max wohnte damals schon lange nicht mehr zu Hause und kam zu Annas Beerdigung für einige Tage aus Paris, wo er damals studierte. Rätselhafte Umstände hatten zum Tod seiner Mutter geführt. Schweigen umhüllte die Wahrheit. Das Motto der Familie Wie es hier drinnen aussieht, geht niemanden etwas an hatte sich über Jahrzehnte bewährt und galt. Konventionen und Regeln waren die Grundpfeiler in Herrmann Wildes Leben, welches nicht durch die seltsamen Umstände des Todes seiner Frau und das Leben seiner missratenen Söhne gestört werden sollte.

Die Gefühle für seinen Vater, die er jahrelang in die unterste Schublade seines Bewusstseins verstaut hatte, kamen mit einer Gewalt zurück, die er nicht erwartet hatte. Max lenkte den Wagen noch rechtzeitig auf den Standstreifen, öffnete die Tür und erbrach sich.

Es war unvermeidlich, dass er sich wohl oder übel mit der gesamten fauligen Brühe der Lügen auseinandersetzten musste.

Nach ein paar Minuten hatte er die Hauptstraße des Dorfes erreicht und fuhr an schmucklosen Häusern vorbei, deren Tristesse durch die Farblosigkeit des Himmels noch unterstützt wurde.

Geändert hatte sich nicht viel. Man hatte den alten Wasserturm gegenüber dem Sportplatz abgerissen. Jetzt standen dort langweilige Doppelhaushälften und ein großes Mietshaus. Hinter allen Fenstern sah er Gardinen, die jeden Blick nach innen verwehrten.

Hundert Meter weiter parkte Max das Auto am ehemaligen Wohnort der Familie Janos.

Das Haus war geschrumpft, so schien es ihm, stand aber immer noch auf der höchsten Stelle des Dorfes. Von hier aus hatte man einen Blick auf die Hauptstraße. Der Friseurladen war längst verschwunden. Jetzt befand sich ein Restaurant mit Gartenterrasse in den ehemaligen Räumen des Salons. Die Rollläden waren heruntergelassen, Ruhetag. Die Wohnungen im Hause waren unbewohnt. Keine Gardinen, keine Namensschilder.

Max beschloss, einen Rundgang durchs Dorf zu machen. Er ging die Hauptstraße herunter, es waren nicht viele Menschen unterwegs. Er sah ein paar ältere Leute, die er nicht kannte, zum Friedhof eilen, junge Mütter mit Kopftüchern und plärrenden Kindern an der Bushaltestelle stehen und Hausfrauen mit Einkaufswägelchen auf den Supermarkt neben der Kirche zustreben.

Die Kirche stand immer noch mitten im Dorf und der Anblick des Hauses seiner Tante Magda, das genau gegenüberlag, versetzte ihm ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend.

Es war das trostloseste Haus, das er je gesehen hatte. Ein graues, zweistöckiges Gebäude mit einem betonierten Innenhof, umrahmt von Garagen und Mauern. Um in den Garten zu kommen, musste man durch die Garage gehen, die Magda und Erich gehörte. Die Vorhänge waren zugezogen und die Gardinen an den Seitenfenstern waren blickdicht. Die Wohnungen im hinteren Bereich des Hauses schienen schon lange nicht mehr bewohnt zu sein, die Wurstküche der Fleischerei im Erdgeschoss noch in Betrieb. Die Rolläden waren heruntergelassen.

Max ging links am Haus vorbei auf den alten Schulhof der ehemaligen Sonderschule. Eine Mauer trennte diesen vom Garten.

Oft hatten sich Onkel und Tante über den Lärm der Kinder auf dem Schulhof beschwert und schimpfend auf der Gartenseite gestanden und ihnen gedroht.

Obwohl Max und Nikolas manchmal in den Garten der Tante durften, hatten sie doch nie Freude daran, denn spielen war untersagt. Es war nur gestattet, auf einem Stuhl auf der betonierten Veranda zu sitzen und ein Buch zu lesen oder sich tödlichst zu langweilen. Max schaute über die Mauer in den trostlosen Garten, in dem schon lange nichts mehr gemacht worden war. Ein paar lieblos gepflanzte Blumen verwelkten unter dem bleiernen Himmel, die Gartenwege waren wie der Hof asphaltiert. Ein paar alte Apfelbäume trugen in diesem Sommer noch keine Früchte. Die Rollläden im ersten Stock des Hinterhauses waren heruntergelassen, eine Seite hing schief, das ganze wirkte wie ein Geisterhaus. Befremdet starrte Max auf die Fenster und seine Kehle schnürte sich zusammen. Hastig drehte er sich um, ging zurück zur Straße und befand sich vor der Fleischerei.

Eine junge Verkäuferin mit schlecht gefärbten Haaren und blauem Lidschatten bediente eine ältere Dame. In diesem Moment kam aus dem hinteren Bereich, in dem schon früher die Familie des Fleischers gewohnt hatte, eine Frau in den Laden. Sie war Ende sechzig, die Dauerwelle durch viel Haarspray gefestigt und sie trug einen weißen Kittel. Sie lächelte der Kundin zu und stellte das Tablett mit der frischen Blutwurst auf den Verkaufstresen.

In diesem Moment erblickte sie Max, wurde grau im Gesicht und versuchte, sich mit den Händen auf dem Blutwursttablett abzustützen. Da es aber nur halb auf der Anrichte stand, fiel es mit lautem Getöse auf den gekachelten Boden und die Blutwürste rollten durch das Geschäft.

Max wurde übel vom Anblick des toten Fleisches. Die Frau hinter der Fleischtheke bewegte sich nicht, sondern stand mit unbeweglichem Gesicht an die Ladentheke gelehnt, umgeben von Gehacktem, Blutwurst, Rindersteaks und Aufschnitt.

Emsig versuchte die junge Verkäuferin, die heruntergefallenen Blutwürste einzusammeln, und fragte die Fleischerin, was los sei. Diese sagte nichts, sondern starrte Max stumm an. Dann rollte ihr eine dicke Träne aus dem rechten Auge und tropfte auf die Blutwurst. Ein kleines Lächeln umspielte den verknitterten Mund und sie hob die Hand, winkte. Max hob die Hand und winkte zurück, ging die vier Stufen zur Eingangstür herauf und betrat die Fleischerei.

Katharsis. Drama einer Familie

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